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1 Hintergrund
Deutschland hat sich mit der nationalen Klimaschutzstrategie hohe Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen und des Energieverbrauchs gesetzt. Hierfür muss auch der Verkehrssektor als ein wesentlicher Treibhausgasverursacher und Energienachfrager einen substantiellen Beitrag leisten. Daher gibt es zahlreiche Konzepte und Untersuchungen für eine nachhaltigere Mobilität im Besonderen in urbanen Räumen. Hierzu zählen z.B. CarSharing, Nutzungskonzepte für Elektrofahrzeuge und die Förderung von Intermodalität und des Öffentlichen Personennahverkehrs.
In diesen Entwicklungen wird bisher jedoch dem Personenfernverkehr zu wenig Beachtung geschenkt. Von Bedeutung ist dies vor allem, weil der Fernverkehr (Wege über 100 Kilometer) der Deutschen gegenwärtig einen Anteil von 45 % der Verkehrsleistung im Personenverkehr einnimmt. Im Gegensatz zum seit Jahren nahezu konstant gebliebenen Verkehrsaufkommen im Alltagsverkehr ist im Fernverkehr eine Zunahme des Verkehrs zu beobachten.
In diesem Zusammenhang weist der Schienenverkehr gegenüber konkurrierenden Verkehrsmitteln im Fernverkehr erhebliche Vorteile auf. Im Besonderen sein vergleichsweise geringer spezifischer Energieverbrauch und CO2-Ausstoß pro Personenkilometer ist hier von Bedeutung. Die weitere Verlagerung von Langstreckenverkehren auf die Schiene kann daher einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der gesetzten Klimaschutzziele leisten. In der vom BMVI beauftragten Studie „Verkehrsverlagerungspotenzial auf den Schienenpersonenfernverkehr in Deutschland“ [1] wurden Maßnahmen zur Erschließung vorhandener Verlagerungspotentiale zum Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) untersucht und in Form verschiedener Szenarien miteinander verglichen. Untersucht wurden ausschließlich attraktivitätssteigernde Maßnahmen im SPFV.
Der Fokus des vorliegenden Beitrags liegt auf der Darstellung der Arbeiten zur Ermittlung der verkehrlichen Verlagerungen innerhalb Deutschlands. Für die Abschätzung der Maßnahmenwirkungen waren modellgestützte Berechnungen unerlässlich. Aufgrund des großen Untersuchungsraumes wäre jedoch die Erstellung und Anwendung eines synthetischen Modells mit erheblichem Zeit-, Datenrecherche- und Rechenaufwand verbunden gewesen. Eine Alternative bot die Anwendung eines inkrementellen Verkehrsmodells, mit dem Änderungen in der Verkehrsmittelwahl auf Basis bestehender verkehrsmittelspezifischer Quelle-ZielMatrizen ermittelt werden können.
Aufgrund verschiedener Rahmenbedingungen wurde in der Studie die Anwendung eines inkrementellen Verkehrsmittelwahlmodells bevorzugt. Im nachfolgenden Abschnitt werden einerseits diese Rahmenbedingungen erläutert, andererseits erfolgt eine kurze Darstellung der Annahmen in den verschiedenen Szenarien. In Abschnitt 3 wird das entwickelte Modellkonzept vorgestellt. Die Darstellung der Studienergebnisse erfolgt in Abschnitt 4. Der Beitrag endet mit einem kurzen Fazit.
2 Szenarien und Rahmenbedingungen
Aufbauend auf einer umfangreichen Literaturstudie und eines Fachworkshops wurden im Rahmen der Studie unterschiedliche Maßnahmen zur Attraktivierung des SPFV identifiziert und analysiert, wobei die Reisezeiten und Reisekosten des SPFV als besonders wichtig eingestuft wurden. Aufgrund dessen konzentrieren sich die Maßnahmen in den abgeleiteten Szenarien auf diese beiden wichtigsten Stellgrößen. Der zeitliche Horizont aller Szenarien ist das Jahr 2030 und entspricht damit dem Prognosejahr der Verkehrsprognose des Bundes (VP 2030) [3]. Die Ergebnisse der VP 2030 stellen den Referenzfall dar, dem die Ergebnisse der Szenarien gegenübergestellt werden.
Abgeleitet und analysiert wurden folgende drei Szenarien:
· Geschwindigkeitsszenario,
· Kostenszenario und
· Kombinationsszenario.
Ziel des Geschwindigkeitsszenarios ist, aufzuzeigen in welchem Maße Reduzierungen der Reisezeiten zusätzliche Verkehrsverlagerungen auf den Schienenverkehr bewirken können. Aufbauend auf den Annahmen der VP 2030 zum zukünftigen Angebot des SPFV, wurden weitere Maßnahmen zur Beschleunigung implementiert. Hierzu zählen einerseits infrastrukturelle Maßnahmen zur Erhöhung der Streckengeschwindigkeiten, im Besonderen auf Strecken mit vergleichsweise niedrigen Geschwindigkeiten, anderseits auch die weitere Optimierung betrieblicher Abläufe. Die Informationen wurden in dem vorliegenden Schienennetzmodell der VP 2030 kantenbzw. relationsfein integriert.
Im Kostenszenario wurde die Wirkung von Senkungen der Reisekosten im SPFV untersucht. Da keine detaillierten Informationen zu relationsfeinen Reisekosten vorlagen, wurde ein Ansatz gewählt, der auf einem mittleren Personenkilometerpreis beruht: Dieser basiert auf den jährlichen Unternehmenserlösen und erbrachten Personenkilometern im SPFV. Die damit bestimmten relationsfeinen Preise gingen als Kostenvariablen in das Referenzszenario ein. Im Kostenszenario wurden die Kosten des Referenzszenarios für alle Relationen in Deutschland um ca. 25 % reduziert. Diese Verringerung basiert dabei ausschließlich auf angenommenen regulatorischen Maßnahmen, wie z. B. Steuersenkungen.
Das Kombinationsszenario umfasst die Maßnahmen sowohl des Geschwindigkeitsals auch den Kostenszenarios.
Zur Bestimmung der verkehrlichen Wirkung der Maßnahmen war die Anwendung eines multimodalen Verkehrsmodells erforderlich. Die Zweckmäßigkeit und Auswahl eines geeigneten Verkehrsmodells hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Hierzu zählen zum einen die Fähigkeit des Modells die Wirkungen der zu untersuchenden Maßnahmen abbilden zu können, zum anderen müssen die erforderlichen Daten zur Modellerstellung (z. B. Bevölkerung, Arbeitsplätze etc.) sowie der Modellprognose vorliegen.
Am DLR Institut für Verkehrsforschung wird seit einigen Jahren ein deutschlandweites Verkehrsmodell entwickelt und betrieben (siehe z. B. Mocanu et al. [2]), welches grundsätzlich zur Wirkungsabschätzung der zu untersuchenden Maßnahmen des SPFV hätte Anwendung finden können. Allerdings sollten im Rahmen der Studie die Ergebnisse der VP 2030 die Referenzentwicklung darstellen. Für die Erstellung der VP 2030 wurden zahlreiche deutschlandweite Daten bereitgestellt und in die Prognose implementiert. Hierzu zählen vor allem die zensusangepassten Bevölkerungsdaten. Diese Daten wurden erst zeitlich deutlich nach der VP 2030 zugänglich gemacht und lagen zum Zeitpunkt der hier beschriebenen Studie nicht rechtzeitig vor. Das notwendige Datenupdate und die Neukalibrierung des DLR-Modells an die Ergebnisse der VP 2030, waren zeitlich nicht möglich. Aus diesen Gründen wurde im Rahmen der Studie ein deutschlandweites inkrementelles Verkehrsmittelwahlmodell entwickelt, das auf den berechneten Quelle-Ziel-Matrizen der VP 2030 basiert.
3 Modellkonzept
3.1 Kurzüberblick über synthetische und inkrementelle Modelle
An dieser Stelle soll kurz der grundsätzliche Unterschied zwischen synthetischen und inkrementellen Verkehrsmodellen benannt werden. Synthetische Modelle (auch als Absolutoder Direktmodelle bezeichnet) berechnen die Verkehrsnachfrage sowohl des Istzustandes als auch des Prognosezustandes unmittelbar aus den Strukturdaten (Einwohner, Arbeitsplätze etc.), den Daten des Verkehrsangebotes (z. B. Reisezeiten) und den Verkehrsverhaltensdaten der Personen bzw. Personengruppen (z. B. Mobilitätsraten). Die Berechnung erfolgt i. d. R. unterteilt nach unterschiedlichen Wegezwecken. Die Modelle werden anhand empirischer Vergleichswerte (z. B. Verkehrsstärken) für den Istzustand kalibriert. Dieser Modelltyp ist in Deutschland mit Abstand am bedeutendsten.
Demgegenüber verwenden inkrementelle Modelle eine oder mehrere gegebene beobachtete oder berechnete Nachfragematrizen. Diese Matrizen geben den Ausgangszustand wieder und dienen zusätzlich als Basis der Prognoseberechnungen. Die zukünftige Nachfrage ergibt sich dann aus den gegebenen Matrizen und einer berechneten Nachfrageänderung bzw. eines Nachfragezuwachses (Inkrement). Mit diesem Ansatz wird also eine Aktualisierung gegebener, den Ausgangszustand beschreibender, Nachfragematrizen durchgeführt. Den gegebenen Matrizen kommt dabei eine große Bedeutung zu, da sie einerseits die Nachfrage für den Ausgangszustand, i. d. R. Istzustand, repräsentieren, andererseits unmittelbaren Einfluss auf die Prognoseergebnisse besitzen. Es besteht somit ein hoher Anspruch hinsichtlich der Repräsentativität des tatsächlichen Verkehrsgeschehens, denn nur wenn die gegebenen Matrizen eine höhere Genauigkeit als modellierte Matrizen besitzen, können inkrementelle Modelle einen Mehrwert liefern. Die Nachfrageänderungen werden wiederum mit klassischen Modellansätzen bestimmt.
Die Gruppe inkrementeller Verkehrsmodelle ist in der Literatur nicht eindeutig abgegrenzt und es können unterschiedliche Modelltypen darunter subsumiert werden. Zu unterscheiden ist im Besonderen auf welche Weise die Änderungen der Verkehrsnachfrage bestimmt werden. Die wichtigsten Herangehensweisen sind dabei
1. kombinierte Modelle und
2. Pivot-Point-Modelle.
Die erste Kategorie beschreibt das Vorgehen, bei dem synthetische Modelle sowohl für die Berechnung des Istals auch des Prognosezustandes angewendet werden und aus den Modellergebnissen die Änderungen auf gegebene Nachfragematrizen zugeschlagen werden. Der modellierte Ist-Zustand wird an den gegebenen Nachfragematrizen kalibriert. Der Modellierungsaufwand ist hier also noch höher als bei der Anwendung eines rein synthetischen Modells.
Pivot-Point-Modelle sind in ihrer Anwendung deutlich weniger aufwändig und erfordern keine Erstellung eines synthetischen Modells und dessen Kalibrierung. Vielmehr bleiben die gegebenen Matrizen erhalten und werden auf Basis von bewerteten Aufwandsänderungen mittels eines Wahlmodells, vor allem Logit-Modell, umstrukturiert. Die gegebenen Matrizen fungieren somit als „Drehpunkt“ (Pivot Point). Während synthetische und kombinierte Modelle sowohl bei Aufwandsals auch bei Strukturänderungen anwendbar sind, ist der Einsatzbereich für Pivot-Punkt-Modelle auf Aufwandsänderungen beschränkt, da z. B. keine Matrixfortschreibungen aufgrund struktureller Änderungen möglich sind. Der Vorteil ist jedoch der deutlich geringere Datenbedarf und die einfache und schnelle Anwendbarkeit.
Die Notwendigkeit belastbarer empirisch erhobener Nachfragematrizen ist ein Hemmnis für die Anwendung inkrementeller Modelle. Dies trifft besonders auf den Individualverkehr zu, für den kaum Informationen mit dem notwendigen Detaillierungsgrad vorliegen. Eine bedeutende Ausnahme in Deutschland stellt die Erstellung der VP 2030 dar. Der dafür gewählte Ansatz gehört in die Kategorie der kombinierten Modelle. Eine weite Verbreitung inkrementeller Modelle findet sich im Besonderen in Großbritannien. Dort ist diese Art der Modellierung der Standard und wird seitens des britischen Verkehrsministeriums gefordert [4].
Das im vorliegenden Beitrag entwickelte Modell stellt ein Pivot-Point-Modell dar. Dieser Ansatz ist für die Ermittlung der Verlagerungswirkungen auf den SPFV zweckmäßig, da ausschließlich Aufwandsänderungen des SPFV betrachtet werden. Die erforderlichen Datengrundlagen und die Methodik werden in den nachfolgenden Abschnitten erläutert.
3.2 Datengrundlagen
Die wesentlichen Datengrundlagen stellen die VP 2030 und die Zeitwertstudie dar, die im Rahmen der Erstellung des aktuellen Bundesverkehrswegeplans (BVWP 2030) durchgeführt wurden. Die Nachfragematrizen der VP 2030 bilden die Ausgangsmatrizen und entsprechen hier den Ergebnissen des Referenzszenarios. Die Zeitwertstudie liefert die Grundlage für das Wahlmodell des angewendeten Pivot-Point-Modells. Nachfolgend werden die hier wichtigen Aspekte der Datenquellen kurz vorgestellt.
3.2.1 Verkehrsprognose des Bundes 2030
Die VP 2030 stellt eine langfristige Prognose des Personenund Güterverkehrs dar, welche die Verkehrsströme innerhalb Deutschlands auf Kreisebene sowie die Verkehrsströme der deutschen Kreise mit dem angrenzenden Ausland zum Gegenstand hat. Die räumliche Einteilung innerhalb Deutschlands erfolgte nach den 412 Kreisen (NUTS 3, Stand 31.12.2010). Der Detaillierungsgrad der räumlichen Einteilung außerhalb Deutschlands nimmt mit der Entfernung zu Deutschland ab. Die Herangehensweise und die Ergebnisse der Prognose sind in der zugehörigen Dokumentation [3] detailliert beschrieben.
Die Verkehrsprognose liefert inhaltlich differenzierte Informationen über die Anzahl an Wegen für das Jahr 2030 zwischen den Verkehrszellen sowie verschiedene Verkehrskennzahlen aggregiert für das Territorium Deutschlands. Hierzu zählen zum Beispiel die Wegeaufkommen, Verkehrsleistungen und Modal-Split-Werte. Die Werte sind jeweils differenziert ausgewiesen nach den Wegezwecken und Verkehrsmitteln. Dabei werden folgende Zwecke unterschieden:
· Beruf (Berufspendelverkehr),
· Ausbildung,
· Einkauf/Erledigung,
· Geschäftsund Dienstreiseverkehr,
· Urlaubsverkehr und
· Sonstiger Privatverkehr.
Zudem liegen die Werte differenziert nach den Verkehrsmitteln:
· Motorisierter Individualverkehr (MIV),
· Eisenbahnverkehr,
· Öffentlicher Personenstraßenverkehr (ÖSPV),
· Luftverkehr,
· Fahrradverkehr und
· Fußwegverkehr vor.
3.2.2 Zeitwertstudie
Im Rahmen der Erstellung des BVWP 2030 wurde eine Studie durchgeführt, die zum Ziel hatte Bewertungsansätze zur Monetarisierung von Reisezeiten und Zuverlässigkeit zu ermitteln. Dies erfolgte auf Basis eines Modells für modale Verlagerungen. Die Studie ist im Detail beschrieben in [5].
Die Grundlage für die Ermittlung der Zeitwerte stellt eine Befragung einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe von Deutschland dar. Dabei wurden den Probanden Fragen hinsichtlich ihres Entscheidungsverhaltens bei der Verkehrsmittelund Routenwahl gestellt. Die Antworten wurden mit Hilfe eines ökonometrischen Entscheidungsmodells analysiert, auf dessen Basis die gesuchten Zeitwerte, d.h. die Tauschverhältnisse von Reisezeit bzw. Zuverlässigkeit und Reisekosten, abgeleitet werden konnten. Die Werte dienen der Monetarisierung veränderter Reisezeit und Zuverlässigkeit. Sie sind eine wichtige Größe im Rahmen der Projektbewertungen des BVWP 2030. Grundlage für die Ermittlung der Werte war ein Verkehrsmittelwahlmodell, welches für den Untersuchungsraum Deutschland auf Basis der Befragungsergebnisse geschätzt wurde. Dieses Wahlmodell ist in der vorliegenden Form auch für die Ermittlung von Verkehrsverlagerungen zwischen Verkehrsmitteln anwendbar.
Die Bewertungsansätze und die Nutzenfunktionen des Wahlmodells selbst sind differenziert nach unterschiedlichen Verkehrsmitteln und Wegezwecken. Die betrachteten Verkehrsmittel sind:
· Fuß,
· Fahrrad,
· Öffentlicher Verkehr (ÖV),
· Fernbus,
· Motorisierter Individualverkehr (MIV) und
· Flug.
Die unterschiedenen Wegezwecke lauten:
· Arbeit,
· Ausbildung,
· Einkauf,
· Gewerblich und
· Freizeit.
In der Zeitwertstudie wurden unterschiedliche Modellformen getestet. Die Gutachter präferierten schließlich einen nichtlinearen Modellansatz, der auch in der hier vorgestellten Studie zur Anwendung kam. Prinzipiell wäre es auch möglich gewesen ein neues Modell auf Basis der Befragungsergebnisse zu schätzen. Allerdings lagen die dafür notwendigen Rohdaten zum Zeitpunkt der Studie noch nicht vor.
3.3 Methodik
Zur Ermittlung der Verkehrsverlagerungspotenziale auf den SPFV wird, wie bereits erwähnt, ein Pivot-Point-Modell entwickelt und angewendet. Das grundsätzliche Konzept wird z. B. in [6] vorgestellt. Hier wird der Ansatz verwendet, um auf Basis vorhandener Nachfragematrizen Veränderungen infolge von entscheidungsrelevanten Änderungen der Reisekosten und Reisezeiten im SPFV in Deutschland abzuschätzen. Basis für diesen Ansatz stellen zum einen die in den Szenarien definierten Maßnahmen, zum anderen die oben kurz vorgestellten Datenquellen dar, wobei die Nachfragematrizen der VP 2030 die Ausgangsbasis der Nachfrage bilden und das Verkehrsmittelwahlmodell der Zeitwertstudie dazu dient, die Nachfrageänderungen zu ermitteln.
Da hier ausschließlich der Fernverkehr in Deutschland betrachtet wird, ist es notwendig zunächst die VP-Matrizen entsprechend anzupassen. Hierfür werden einerseits alle Quelle-Ziel-Relationen mit einer Entfernung von unter 100 Kilometern, anderseits Relationen mit Quelle und/oder Ziel im Ausland entfernt. Durch diese Reduzierung verringert sich die Anzahl zu betrachtender Relationen von über 300.000 auf ca. 155.000. Nur auf diesen Relationen werden Verlagerungspotenziale abgeleitet. Aufgrund der hohen Entfernungen werden auf den relevanten Quelle-Ziel-Relationen keine Fuß und Radwege zurückgelegt, weshalb die entsprechenden Verkehrsmittel in der weiteren Analyse vernachlässigt werden können.
Die Nachfragedaten in Form der VP-Matrizen liegen unterteilt nach Wegezwecken und Verkehrsmitteln vor. Auf Basis dieser sachlichen Differenzierung sollen ebenfalls die Nachfrageänderungen ermittelt werden. Die Differenzierung der VP 2030 und der Zeitwertstudie sind zwar sehr ähnlich, jedoch nicht identisch, weshalb eine sachlogische Zuordnung durchgeführt werden muss. Die Zuweisung ist in Tabelle 1 dargestellt. Hierbei wird jedem VPVerkehrsmittel ein entsprechendes Verkehrsmittel aus der Zeitwertstudie zugewiesen. In der Zeitwertstudie wurde der ÖV nicht explizit unterschieden nach Bahn und Bus. Allerdings wurde bei Fragen des Fernverkehrs der Fernbus explizit ausgewiesen und im Modell berücksichtigt.
Tabelle 1: Zuordnung der Verkehrsmittel
Analog zur Zuweisung der Verkehrsmittel erfolgt die Zuordnung der Wegezwecke, die sich in Tabelle 2 findet. Hierbei ist zu beachten, dass in der Zeitwertstudie nur fünf und in der VP 2030 sechs Wegezwecke unterschieden sind. Der Freizeitverkehr der Zeitwertstudie wurde dabei den Wegezwecken Urlaubsverkehr sowie sonstiger Privatverkehr der VP 2030 zugewiesen.
Tabelle 2: Zuordnung der Wegezwecke
Mit diesen Zuordnungen ist es nun möglich die Verlagerungspotenziale der Szenarien auf Basis der VP 2030 und der Zeitwertstudie zu berechnen. Das dafür angewendete PivotPoint-Modell lautet:
Formel (1) siehe PDF.
Berechnet werden für jedes zu untersuchende Szenario die Fahrtenanzahl der Verkehrsmittel k je Quelle-Ziel-Relation i-j. Aus der VP 2030 (Referenzszenario) gegeben sind die Anzahl an Fahrten jeweils für die verschiedenen Verkehrsmittel und deren Summe. Die Fahrten je Verkehrsmittel besitzen hier eine Art Gewichtungsfunktion, während die Gesamtsumme die auf die Verkehrsmittel zu verteilende Gesamtmenge an Fahrten darstellt. Aus der Gleichung wird zudem deutlich, dass sich Nachfrageänderungen ausschließlich auf Basis der Nutzendifferenzen ergeben.
Der Nutzen V wird für jedes Szenario (einschließlich Referenz) auf Basis der entsprechenden Zeiten und Kosten definiert. Dabei ist zu beachten, dass alle Verkehrsmittel außer der Eisenbahn keine Änderung erfahren, da nur Maßnahmen für die Schiene definiert wurden. Damit ist der große Vorteil verbunden, dass für keines dieser Verkehrsmittel Informationen über die Aufwände – weder im Referenzfall noch in den anderen Szenarien – benötigt werden. Somit ist die Nutzendifferenz für MIV, ÖSPV und Luftverkehr stets gleich Null. Die Nutzen der Eisenbahn werden definiert entsprechend des in der Zeitwertstudie präferierten Modells. Der Ansatz lautet unter Beachtung der Reisezeiten und Reisekosten:
Formel (2) siehe PDF.
Die Reisezeiten und Reisekosten ergeben sich aus dem Schienennetzmodell der VP 2030 sowie den in Abschnitt 2 erläuterten szenariospezifischen Anpassungen. Die Parameter in Gleichung (2) zur Bewertung der Reisezeit sind verkehrsmittelspezifisch, während für die Reisekosten nach dem Fahrtzweck unterschieden wird. Die entsprechenden Parametersätze für die Eisenbahn sind angegeben in Tabelle 3. Die Parameter α und β sind stets negativ, wodurch abgebildet wird, dass die Größen einen negativen Nutzen verursachen und im Umkehrschluss die Einsparung einen positiven Nutzen stiftet. Die Parameter γ stellen mathematisch notwendige Faktoren dar, die lediglich der Verschiebung der Funktion dienen. Nicht angegebene Parameter bedeuten, dass diese nicht signifikant sind.
Tabelle 3: Parameter für das Verkehrsmittel Eisenbahn
Mit den gegebenen Parametern und Ausgangsnachfragedaten der VP 2030 sowie den maßnahmenbedingten Änderungen der Reisekosten und Reisezeiten können die Verlagerungspotenziale für jedes Szenario berechnet werden.
Bei der Erstellung eines Pivot-Point-Modells kann keine Kalibrierung des Modells anhand von erhobenen Vergleichswerten (Verkehrsstärken, Reiseweitenverteilungen etc.) erfolgen. Um dennoch die Eignung und Reaktionsfähigkeit des Modellansatzes für die vorliegende Fragestellung zu prüfen, können u. a. Nachfrageelastizitäten herangezogen werden. Elastizitäten sind als Quotient der relativen Änderungen der abhängigen Variable (Nachfragemenge) und der unabhängigen Variable (z. B. Reisekosten) zu verstehen. Sie stellen dimensionslose Größen dar. Aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen der Verkehrsnachfrage und der ebenfalls zahlreichen Einflussgrößen, gibt es eine Vielzahl möglicher Elastizitäten. Im vorliegenden Fall werden als Nachfragegrößen die Anzahl an Wegen und die Verkehrsleistung der Eisenbahn sowie die entsprechenden Reisezeiten und Reisekosten als die Nachfrage beeinflussende Größen betrachtet. Die Elastizität ist formal definiert als:
Formel (3) siehe PDF.
Bezogen auf die konkrete vorliegende Fragestellung lässt sich die Elastizität beispielsweise mit der Anzahl an Wegen mit der Eisenbahn (abhängige Größe) und der Reisekosten (unabhängige Größe) wie folgt ermitteln:
Formel (4) siehe PDF.
In Tabelle 4 sind die berechneten Nachfrageelastizitäten für das angewendete Modell zusammengestellt. Diese sind jeweils berechnet für die Anzahl der Wege und die Verkehrsleistung im SPFV in Abhängigkeit von den Reisezeiten und Reisekosten. Für die Berechnung wurden die Zeiten und Kosten jeweils um 10% reduziert.
Tabelle 4: Übersicht über die ermittelten Nachfrageelastizitäten für die Eisenbahn
Die in der Tabelle aufgelisteten Elastizitäten geben Auskunft darüber wie stark die relative Nachfrageänderung ist, wenn sich die Kosten bzw. Zeiten relativ ändern, hier um 10%. Somit führt beispielsweise eine Reduzierung der Reisekosten um 10% zu einer Zunahme der Anzahl an Wegen im Wegezweck Beruf um 5%. Alle ermittelten Elastizitäten weisen plausible Vorzeichen und Größenordnungen auf, wenngleich die Werte betragsmäßig im unteren Bereich der zu erwartenden Größenordnung für den Fernverkehr sind. Nichtsdestotrotz kann der vorliegende Modellansatz als gut geeignet angesehen werden. Zudem wird damit gewährleistet, dass die damit ermittelten Verlagerungspotenziale als robuste Ergebnisse interpretiert werden können.
Weiterhin ist beim Vergleich der angegebenen Elastizitäten zu beachten, dass deren Größenordnungen von den Parametern des Wahlmodells und den Modal-Split-Anteilen der Eisenbahn an der jeweiligen Gesamtnachfragemenge über alle Verkehrsmittel abhängig sind. So liegen die Anteile des Urlaubsund sonstigen Privatverkehrs in besonders sensitiven Bereichen (relativ geringe Anteile), weshalb die Zeitund Kostenänderungen zu starken Nachfragereaktionen führen.
Für die Ermittlung der verkehrlichen Wirkungen sind neben den Nachfrageänderungen im Besonderen die Veränderungen der Verkehrsleistungen relevant. Die verkehrsmittelspezifischen Verkehrsleistungen ergeben sich jeweils aus der Summe der Fahrtenanzahl je QuelleZiel-Relationen multipliziert mit den entsprechenden Distanzen. Formal lautet die Berechnung:
Formel (5) siehe PDF.
Die Fahrtenanzahl wird nach oben beschriebenem Ansatz ermittelt. Die Distanzen sind aus vorhandenen digitalen Verkehrsnetzen der entsprechenden Verkehrsträger ermittelt.
4 Ergebnisse
Mit dem entwickelten Pivot-Point-Modell erfolgt nun die Ermittlung der modalen Verlagerungspotenziale im Fernverkehr in Deutschland. Die Ergebnisse sind unterteilt nach der Anzahl der verlagerten Wege und den verlagerten Verkehrsleistungen.
4.1 Verlagerte Wege
Zunächst sollen die gesamten Wegeaufkommen der Verkehrsmittel je Szenario betrachtet und verglichen werden. Die Jahreswerte für die drei Szenarien sind in Bild 1 dargestellt. Die jährliche Gesamtanzahl der Wege, also das Wegeaufkommen, beträgt ca. 1,3 Mrd. Bei einer in der VP 2030 prognostizierten Gesamtwegezahl von 102,9 Mrd. entspricht das einem Anteil von etwa 1,3 %. Der Fernverkehr in Deutschland ist folglich ein in seiner Häufigkeit des Auftretens seltenes Ereignis. Allerdings hat er vor allem wegen der hohen Distanzen eine große verkehrliche Wirkung.
Die Anzahl Wege im Fernverkehr sind in allen betrachteten Fällen gleich. Grund hierfür ist, dass Verkehrsverlagerungen zwischen den Verkehrsmitteln im Fokus der Studie standen und nicht mögliche Veränderungen der Aufkommen selbst. Diese sind jedoch verglichen mit Verlagerungswirkungen i. d. R. vernachlässigbar.
Die Ergebnisse zeigen zunächst für die VP 2030 eine große Dominanz des MIV. Dieser ist mit über einer Milliarde Wegen und einem Anteil von 83 % das mit großem Abstand wichtigste Verkehrsmittel im Fernverkehr in Deutschland. Mit der Eisenbahn werden die zweitmeisten Wege zurückgelegt. ÖSPV und Flug weisen jeweils deutlich weniger Wege auf.
Bild 1: Wegeaufkommen im Personenfernverkehr
Die Geschwindigkeitserhöhungen und damit die Reisezeitverkürzungen in Szenario 1 führen zu einer Verschiebung hin zur Eisenbahn. Dabei werden knapp 22 Mio. Wege zur Bahn verlagert, wobei fast 20 Mio. Wege vom MIV stammen. Der Verkehrsmittelanteil der Eisenbahn steigt von 11 auf 13 %.
Ein sehr ähnliches Bild ergibt sich in Szenario 2. Die Kostenänderungen führen nahezu zu den gleichen Effekten. Zwar wirken die prozentualen Änderungen unterschiedlich stark auf die Nachfrage der unterschiedlichen Wegezwecke, wie die Elastizitäten gezeigt haben, allerdings ergeben sich die Kostenänderungen im Szenario 2 so, dass zufälligerweise ein ähnliches Ergebnis wie in Szenario 1 erzielt wird.
Szenario 3 entspricht schließlich dem Kombinationsszenario in dem beide Maßnahmen kombiniert werden. Erwartungsgemäß werden dadurch deutlich höhere Effekte erzielt. So steigen die Wege im Bahnverkehr auf 191 Mio., was einen Zuwachs gegenüber der VP 2030 von fast 45 Mio. Fahrten entspricht. Auch hier kommt der Großteil der Wege vom MIV (über 40 Mio.). Der Verkehrsmittelanteil der Eisenbahn bezogen auf die Anzahl der Wege steigt somit von ca. 11 auf 15 %.
4.2 Verlagerte Verkehrsleistung
Die Gesamtzahl an Fernverkehrswegen in Deutschland weist – wie gezeigt wurde – nur einen sehr geringen Anteil an den Gesamtwegen aus. Durch die hohen Distanzen resultieren jedoch hohe Verkehrsleistungen. Die Verkehrsleistungen im Fernverkehr in Deutschland sind in Bild 2 dargestellt.
Die Gesamtverkehrsleistung im Fernverkehr in der VP 2030 entspricht etwa 307 Mrd. Pkm. Verglichen damit ist die Gesamtverkehrsleistung auf dem Territorium in Deutschland mit ca. 1,3 Bill. Pkm zwar deutlich höher, aber der Anteil des Fernverkehrs daran beträgt ca. 23 %. Somit wird durch gut 1 % der Wege fast ein Viertel der Verkehrsleistung erbracht. Von der Fernverkehrsleistung entfallen in der Referenz 47 Mrd. Pkm bzw. 15 % auf die Schiene. Auch hier besitzt der MIV mit 237 Mrd. Pkm (77 %) eine überragende Bedeutung. Flug und ÖSPV weisen wiederum – verglichen mit MIV und Eisenbahn – eher geringe Werte auf. Beim Flugverkehr ist dabei jedoch zu beachten, dass hier nur innerdeutsche Verkehre über Deutschland betrachtet werden.
Bild 2: Verkehrsleistungen im Personenfernverkehr
Im Szenario 1 ergibt sich durch die Geschwindigkeitserhöhungen bei der Eisenbahn ein Anstieg der Verkehrsleistung um über 7 Mrd. Pkm. Diese Verkehrsleistungen werden im Wesentlichen vom MIV verlagert. Luftverkehr und ÖSPV verlieren absolut nur geringfügig. Die Gesamtverkehrsleistung steigt leicht von 307 auf knapp 308 Mrd. Pkm. Zu begründen ist dies damit, dass die fahrplanbedingten Schienenwege zwischen den Zellen i. d. R. weiter sind als die direkten Straßenverbindungen. Im Szenario 2 ergibt sich – wie bei den Wegeaufkommen – ein sehr ähnliches Bild wie im Szenario 1.
Die maximalen Verlagerungspotenziale werden auch für die Verkehrsleitungen im Szenario 3 erzielt. Die Kombination der Maßnahmen führt dazu, dass die Verkehrsleistung auf der Schiene im Fernverkehr von knapp 47 auf fast 62 Mrd. Pkm ansteigt. Dies ist ein Anstieg des Anteils um fast 5 Prozentpunkte von 15 auf rund 20 %. Verlagert werden die Verkehre wiederum im Wesentlichen vom MIV und zu kleinen Teilen von Luftverkehr und ÖSPV. Die Gesamtverkehrsleitung im Fernverkehr steigt in diesem Szenario von 307 auf knapp 309 Mrd. Pkm.
5 Fazit
In diesem Beitrag wurde ein inkrementelles Modell zur Ermittlung modaler Verkehrsverlagerungen im Fernverkehr in Deutschland vorgestellt. Bei dem verwendeten Modellansatz handelt es sich um ein sogenanntes Pivot-Point-Modell, das sich durch eine einfache und schnelle Berechenbarkeit und einen vergleichsweise geringen Datenbedarf auszeichnet. Benötigt werden lediglich eine oder mehrere Nachfragematrizen, welche die Verkehrsnachfrage des Ausgangszustandes beschreiben und ein diskretes Wahlmodell, zur Bewertung von Aufwandsänderungen. Das hier entwickelte Modell nutzt die zweckund verkehrsmittelspezifischen Nachfragematrizen der Verkehrsprognose des Bundes und das präferierte Wahlmodell zur Ermittlung von Zeitwerten in einer deutschlandweiten Zeitwertstudie.
Den genannten Vorteilen steht der Nachteil von Pivot-Point-Modellen gegenüber, dass sie nur zur Ermittlung von Nachfrageänderungen infolge geänderter Aufwände geeignet sind. Im Rahmen der vorgestellten Studie war dies jedoch gewährleistet. In der Studie wurden drei Szenarien zur Verbesserung des Schienenpersonenfernverkehrs entwickelt und deren verkehrliche Wirkung auf die verkehrsmittelspezifischen Wege abgeschätzt. Das Modell lieferte hierfür plausible Ergebnisse. Zudem wurden auf Basis dieser Berechnungen die entsprechenden Verkehrsleistungen ermittelt.
Es kann daher festgehalten werden, dass unter bestimmten Bedingungen wie z. B. vorhandener plausibler und belastbarer erhobener oder berechneter Nachfragematrizen, ein solcher Modellansatz eine sinnvolle und geeignete Alternative zu synthetischen Modellen darstellt. Sind jedoch strukturelle Änderungen, wie z. B. veränderte Bevölkerungsverteilungen, zu erwarten, so sind synthetische Modelle unverzichtbar.
6 Literatur
[1] NORDENHOLZ, F.; WINKLER, C.; KNÖRR, W. (2016). Verkehrsverlagerungspotenzial auf den Schienenpersonenfernverkehr in Deutschland. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, Berlin.
[2] MOCANU, T.; WINKLER, C.; KUGLER, U. (2017). Ein Ansatz zur Differenzierung nach Fahrzeugtypen in Verkehrsnachfragemodellen. Tagungsband Heureka 2017, Stuttgart.
[3] BMVI (2014). Verkehrsverflechtungsprognose 2030 Los 3: Erstellung der Prognose der deutschlandweiten Verkehrsverflechtungen unter Berücksichtigung des Luftverkehrs. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Berlin.
[4] DFT (2014). Transport Analysis Guidance, Unit 1, Principles of Modelling and Forecasting. Department for Transport, London.
[5] BMVI (2014). Ermittlung von Bewertungsansätzen für Reisezeiten und Zuverlässigkeit auf der Basis eines Modells für modale Verlagerungen im nicht-gewerblichen und gewerblichen Personenverkehr für die Bundesverkehrswegeplanung. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, Berlin
[6] ORTÙZAR, J.; WILLUMSEN, L. (2011). Modelling Transport. 4th Edition, Wiley, Chichester. |