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1 Einleitung
Große Städte, wie z. B. auch München, haben mit regelmäßigen Staus und einer hohen Luftverschmutzung zu kämpfen. Darüber hinaus treten besonders für Fußgänger und Radfahrer häufig Unfälle und gefährliche Situationen auf [1]. Neue Technologien können zur Bewältigung dieser Herausforderungen beitragen. Automatisierte und vernetzte Fahrzeuge (AVF) sind in der Lage, ihre Umgebung mit Sensoren zu erfassen, autonom zu navigieren, Trajektorien zu planen und mit anderen Fahrzeugen sowie der Infrastruktur direkt zu kommunizieren. Dies ermöglicht in Zukunft eine effizientere Koordinierung von Fahrzeugbewegungen mit großem Potential zur Reduktion des Kraftstoff- bzw. Energieverbrauchs, bei gleichzeitiger Verbesserung des Verkehrsflusses und Erhöhung der Verkehrssicherheit.
Besonders in Kreuzungsbereichen besteht ein hohes Potential, die Koordination der Fahrzeugbewegungen zur Verbesserung sowohl der Sicherheit als auch der Effizienz zu nutzen. Während die Verkehrssteuerung an großen oder stark frequentierten städtischen Knotenpunkten derzeit durch den Einsatz von Lichtsignalanlagen erfolgt, könnte die Installation physischer LSA obsolet werden, wenn alle Fahrzeuge vernetzt und automatisiert sind. In den vergangenen Jahren wurden in der wissenschaftlichen Literatur bereits verschiedene Konzepte für eine signalfreie „autonome“ Knotenpunktsteuerung (autonomous intersection management - AIM) vorgestellt. Dabei kommunizieren die Fahrzeuge untereinander oder mit der im Kreuzungsbereich installierten Infrastruktur und reservieren ein bestimmtes Zeitfenster oder eine bestimmte Trajektorie für das sichere Queren des Kreuzungsbereichs. Aufgrund der hohen Flexibilität und der strikten zeitlichen Trennung von sich kreuzenden Fahrzeugbewegungen verspricht das Konzept sowohl Sicherheits- als auch Effizienzvorteile, die über die herkömmliche Optimierung der LSA-Steuerung hinausgehen [2]. Dies gilt jedoch im Allgemeinen nur, wenn geeignete Optimierungsverfahren zur Planung der individuellen Zeitfenster angewendet werden. Einfache regelbasierte Ansätze verringern aber die Kapazität des Knotenpunkts [3, 4].
Obwohl Multimodalität im urbanen Verkehr eine zentrale Rolle spielt, wurden Fußgänger, Radfahrer und Fahrzeuge des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) bisher nur selten in AIM integriert. Die Autoren dieses Beitrags haben in [5] Strategien zur Integration von Radfahrern in ein regelbasiertes AIM-Verfahren vorgestellt und in [6] ein optimierungsbasiertes Verfahren für AIM an einem Knotenpunkt mit Fußgängern präsentiert. Die vorliegende Arbeit erweitert die bereits bestehenden Studien, indem das in [6] entwickelte Verfahren erstmals für den realistischen multimodalen und heterogenen Verkehr mit Personenkraftwagen (Pkw), Lastkraftwagen (Lkw), Bussen, Fußgängern und Radfahrern erweitert und simulativ an einem realen Knotenpunkt getestet wird.
Tabelle 1: Übersicht über Studien zur signalfreien „autonomen“ Knotenpunktsteuerung einschl. Radfahrer oder Fußgänger.
2 Stand der Wissenschaft und Technik
Während die bisher in der Literatur vorgestellten AIM-Steuerungsansätze in Zukunft zu einer effizienteren Nutzung des Kreuzungsraums führen könnten, beeinträchtigen die kontinuierlichen Fahrzeugbewegungen die Möglichkeiten von Fußgängern und Radfahrern, den Knotenpunkt zu überqueren. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur konventionellen LSA-Steuerung, welche die Vorfahrt/Querung in abwechselnder Weise gewährt. Auch wenn der Schwerpunkt bei der Entwicklung von Steuerungsalgorithmen für LSA häufig auf dem Fahrzeugverkehr liegt, erlaubt das phasenbasierte Prinzip der LSA den Fußgängern und Radfahrern, den Knotenpunkt gleichzeitig mit bedingt verträglichen Fahrzeugströmen zu queren. Im Gegensatz dazu sind AIM-Konzepte fahrzeugbezogen, das heißt jedes Fahrzeug erhält auf Anfrage einen Zeitpunkt zum Queren des Knotenpunkts. Genauso müssen also auch Fußgänger und Radfahrer bei der Reservierung ausdrücklich berücksichtigt werden. Im Prinzip können Signalphasen in die Knotenpunktsteuerung in festen Zyklen integriert werden, wie von Dresner und Stone [7] vorgestellt. Werden geeignete Sensoren installiert, können Fußgänger und Radfahrer bedarfsgerecht in die Kreuzungssteuerung integriert werden. Ein Überblick über einige AIM-Studien mit Berücksichtigung von Fußgängern und Radfahrern ist in Tabelle 1 dargestellt. Den Autoren ist neben dem oben beschriebenen festzeitgesteuerten Ansatz keine Arbeit bekannt, die sowohl Fußgänger als auch Radfahrer in die AIM-Steuerung integriert.
Darüber hinaus betrachten die Simulationen in [7] und [5] einen isolierten Knotenpunkt mit Poisson-verteilten Ankunftszeiten von Radfahrern. Im vorliegenden Beitrag werden für Radfahrer auch umliegende Knotenpunkte berücksichtigt. Diese Berücksichtigung führt erstens zu realistischeren, gepulkten Ankunftsmustern von Radfahrern am betrachteten Knotenpunkt und bietet zweitens die Möglichkeit, eine grüne Welle für Radfahrer einzurichten, die mehrere aufeinanderfolgende Kreuzungen queren und mit einer ähnlichen Geschwindigkeit fahren.
Bild 1: Architektur der Knotenpunktsteuerung.
3 Optimierungsbasiertes Steuerungsverfahren für automatisierte und vernetzte Fahrzeuge, Fußgänger und Radfahrer
In diesem Kapitel wird ein neuartiges optimierungsbasiertes Steuerungsverfahren für multimodale Knotenpunkte mit automatisierten und vernetzten Fahrzeugen vorgestellt, welches im Folgenden mit dem Akronym OptIIC (optimization-based integrated intersection control) bezeichnet wird. Wie in Abbildung 1 dargestellt, besteht das vorgestellte Verfahren aus einer zentralen Steuerungseinheit, die alle Verkehrsteilnehmer am Knotenpunkt berücksichtigt, während die Trajektorien der Fahrzeuge dezentral geplant werden und Fußgänger und Radfahrer auf die entsprechenden Signalgeber reagieren.
Wie in signalfreien Steuerungsansätzen üblich, kommunizieren Fahrzeuge direkt mit der Knotenpunktsteuerung. Die Knotenpunktsteuerung liefert den Fahrzeugen zunächst die statischen Informationen, die sie für die Planung ihrer Trajektorie benötigen, wie z. B. die genaue geografische Position der Einfahrt in den Knotenpunktbereich, für das geplante Abbiegemanöver zugelassene Fahrstreifen und die entsprechenden Geschwindigkeitsbegrenzungen. Mit diesen Informationen können die Fahrzeuge ihre frühestmögliche Ankunftszeit an der Knotenpunkteinfahrt in Abhängigkeit der aktuellen Position und Geschwindigkeit ableiten. Diese Informationen werden benötigt, um dem Fahrzeug ein geeignetes Zeitfenster zuzuweisen und die energieoptimale Trajektorie zu berechnen.
Neben den Fahrzeugbewegungen werden von der zentralen Steuerungseinheit Grünphasen für Fußgänger und Radfahrer geplant. Dies ermöglicht eine Integration von Fußgängern und Radfahrern, ohne dass diese sich mit der Infrastruktur vernetzen müssen. Um dennoch eine bedarfsgerechte Steuerung für Fußgänger und Radfahrer zu ermöglichen, müssen sie über geeignete Sensoren am Knotenpunkt detektiert werden. Um darüber hinaus eine dynamische grüne Welle für Radfahrer zu implementieren, sendet die Steuerungseinheit am benachbarten Knotenpunkt beim Start der dortigen Grünphase eine Benachrichtigung. Die Information schließt auch die Anzahl der Radfahrer mit ein, die das Signal während der Grünphase überqueren und nun auf dem Weg zum betrachteten Knotenpunkt sind.
Das Herzstück der Knotenpunktsteuerung ist das im Folgenden beschriebene Schedulingverfahren. Es kombiniert alle von den Fahrzeugen bzw. der Sensorik erhaltenen Informationen und wendet Optimierungsverfahren an, um einen für alle Verkehrsteilnehmer sicheren und effizienten Zeitplan für das Queren des Knotenpunkts zu erstellen.
3.1 Multimodales Optimierungsproblem
Das Gesamtziel der multimodalen Steuerung besteht darin, die Gesamtverzögerung am Knotenpunkt zu minimieren und gleichzeitig zu gewährleisten, dass alle Verkehrsteilnehmer sicher queren können. Im vorgestellten Ansatz können die Verspätungen der Verkehrsteilnehmer gewichtet werden, um bestimmten Verkehrsträgern oder Verkehrsströmen im Knotenpunkt Vorrang zu geben. Nach dem Ansatz des rollierenden Zeithorizonts wird das Problem in festen Zeitintervallen ϕ aufgestellt und gelöst. Zum Zeitpunkt t k = ϕ · k berücksichtigt die Steuerung alle Fahrzeuge auf der Zufahrt zum Knotenpunkt, die bereits in Kommunikationsreichweite mit der Knotenpunktsteuerung sind (bezeichnet mit V k). Fahrzeuge, die bereits nah am Knotenpunkt sind (näher als eine festgelegte Zuweisungsdistanz) bzw. den Knotenpunkt aktuell queren (??) haben bereits einen fest zugewiesenen Zeitslot und werden lediglich in den Nebenbedingungen, nicht aber in der Zielfunktion berücksichtigt. Genauso verhält es sich mit allen aktuell angeforderten und bereits fest eingeplanten Signalphasen für Fußgänger und Radfahrer (Pk, bzw. ??).
?? korrekte Darstellung und Formel in der PDF
3.1.1 Zielfunktion
Die Zielfunktion zielt darauf ab, die Ankunftszeiten der Fahrzeuge (ti) und die Startzeiten der Grünphasen (tp) so zuzuordnen, dass die Gesamtverzögerung an der Kreuzung minimiert wird:
Dabei sind ?? und ?? die jeweils frühestmögliche Freigabezeit für Fahrzeug i und Signalphase p, die zur Berechnung der Verzögerung verwendet werden. Die Gewichtungsfaktoren γi und γp können zur Priorisierung von Fahrzeugen bzw. Signalphasen genutzt werden. Sie können dabei individuell definiert und in verschiedenen Nachfragesituation verändert werden. Alle Gewichtungsfaktoren sollten größer oder gleich Null sein, da sonst eine größere Verspätung eines bestimmten Verkehrsteilnehmers „belohnt“ wird und das Problem möglicherweise unbeschränkt und damit unlösbar werden kann.
?? Korrekte Darstellung und Formel in der PDF
3.1.2 Randbedingungen
Wenn das Optimierungsproblem zum Zeitpunkt tk aufgestellt wird, müssen zum einen physikalische Grenzen berücksichtigt und zum anderen Konflikte mit bereits geplanten und angeforderten Fahrzeugankunftszeiten und Signalphasen aufgelöst werden. Darüber hinaus können die Wartezeiten der verschiedenen Verkehrsteilnehmer begrenzt werden, um eine ausgewogene Bedienqualität zu erreichen.
Zunächst kann ein Fahrzeug i nicht früher als zu seiner frühestmöglichen Ankunftszeit (bezeichnet als FORMEL IN PDF) eingeplant werden, wenn man seine aktuelle Entfernung und Geschwindigkeit, seine kinematischen Beschränkungen und die zulässige Höchstgeschwindigkeit bei der Annäherung an die Kreuzungszone berücksichtigt. Ebenso sollte der Beginn einer Signalphase nicht vor der erwarteten Ankunft der ihr zugewiesenen Fußgänger und Radfahrer geplant werden (bezeichnet mit FORMEL IN PDF ). Dies ist insbesondere für die Planung von Grünphasen für Radfahrer wichtig, da sie bereits vor Ankunft am Knotenpunkt detektiert werden. Aus diesen Übrelegungen ergibt sich der erste Satz linearer Nebenbedingungen:
Formel in der PDF
Formel in der PDF
Um unnötige Fahrstreifenwechsel zu vermeiden, sollten Fahrzeuge auf dem Weg zum Knotenpunkt nicht überholen. Wenn sich also zwei Fahrzeuge i und j dem Knotenpunkt auf dem gleichen Fahrstreifen nähern, muss das Fahrzeug, das sich bereits näher am Knotenpunkt befindet, einen früheren Zeitpunkt zum Queren erhalten. Außerdem muss zwischen zwei aufeinander folgenden Fahrzeugen i und j ein minimaler zeitlicher Abstand ∆min eingehalten werden. Aus diesen Annahmen ergibt sich der erste Satz linearer Nebenbedingungen:
Formeln in der PDF
wobei oi und oj die Einfahrspuren bezeichnen und disti(tk) und distj(tk) die Abstände der Fahrzeuge i und j zum Knotenpunkt zum Zeitpunkt tk. Der Mindestabstand FORMEL IN PDF beinhaltet die Zeit, die das vordere Fahrzeug i benötigt, um die Haltelinie zu überqueren, sowie eine Mindestzeitspanne δmin,follow für ein sicheres Folgemanöver.
Um Konflikte innerhalb des Knotenpunkts zu lösen, darf sich jeweils nur ein Fahrzeug oder eine Gruppe von Fußgängern oder Radfahrern in einer Konfliktregion (gegeben durch die sich überschneidenden Pfade der Verkehrsteilnehmer) befinden. Dazu werden die Ankunftszeiten ti der Fahrzeuge und die Startzeiten der Grünphasen tp so festgelegt, dass der zweite Verkehrsteilnehmer die Konfliktregion erst erreicht, nachdem der erste Verkehrsteilnehmer die Konfliktregion verlassen hat und ein ausreichender Zeitabstand ?? vergangen ist. Die Ausdehnungen der zweidimensionalen Konfliktregionen werden mit größeren Zeitabständen ?? berücksichtigt, die die innerhalb der Konfliktregion verbrachte Zeit einschließen. Seien oi und oj die Punkte, an denen die Fahrzeuge i und j in die Kreuzung einfahren, und sei cij ihr gemeinsamer Konfliktpunkt. Ferner seien ti und tj die Zeiten, zu denen sie in den Kreuzungsbereich einfahren, und vi und vj ihre innerhalb des Knotenpunkts konstant gehaltenen Geschwindigkeiten. Dann erreicht Fahrzeug i den Konfliktpunkt zum Zeitpunkt ti die zurückzulegende Distanz zwischen oi und cij bezeichnet. Die Zeit, zu der Fahrzeug j am Konfliktpunkt ankommt, kann analog berechnet werden. Es muss nun sichergestellt werden, dass für alle Fahrzeuge i und j in ??, je nachdem, welches Fahrzeug den Konfliktpunkt zuerst passiert. Dasselbe gilt für Konflikte mit Fahrzeugen und Fußgängern oder Radfahrern, d. h. für Fahrzeug i in ?? und Signalphase j in ??.
In diesem Fall wird davon ausgegangen, dass mehrere Fußgänger oder Radfahrer, die der gleichen Signalphase zugeordnet sind, die Kreuzung gemeinsam überqueren. Da ihre Geschwindigkeit nicht genau vorhersehbar ist, werden in ?? die Dauer der Grünphase und die erforderlichen Räumzeiten berücksichtigt.
Die logischen Bedingungen in (4) können nicht direkt in das Optimierungsproblem einbezogen werden. Daher werden binäre Variablen Iij {0, 1} eingeführt, die angeben, ob Verkehrsteilnehmer i den Konfliktpunkt cij vor Verkehrsteilnehmer j erreichen soll. Zusätzlich macht die Multiplikation mit einem großen Skalar M irrelevante Nebenbedingungen überflüssig. Eine detaillierte Beschreibung der sogenannten Big-M -Methode findet sich in [13].
Schließlich können die Verspätungen der einzelnen Verkehrsteilnehmer durch geeignete obere Schranken Θ begrenzt werden:
?? Korrekte Darstellung und Formel in der PDF
Für die optimierungsbasierte Knotenpunktsteuerung nur mit Fahrzeugen zeigen Levin et al. [14], dass das Problem lösbar ist, wenn die Wartezeiten beliebig lang werden dürfen, d.h. ohne Berücksichtigung der Nebenbedingungen (5). Ihr Beweis kann leicht auf das multimodale Szenario erweitert werden. Es ist jedoch nicht möglich zu garantieren, dass eine zulässige Lösung mit restriktiven Obergrenzen für Wartezeiten gefunden wird. Wenn also bereits eingeplante Konfliktbewegungen die Aktivierung einer bestimmten Signalphase p oder die Freigabe eines bestimmten Fahrzeugs i innerhalb der nächsten Θ Sekunden nicht zulassen, wird im Optimierungsverfahren eine zulässige Lösung unter Missachtung der nicht sicherheitsrelevanten Nebenbedingungen (5) zurückgegeben. In der im vorliegenden Beitrag durchgeführten Simulationsstudie war dies nicht der Fall.
4 Simulationsstudie
Das vorgestellte Steuerungsverfahren OptIIC wird mit Hilfe einer Mikrosimulation getestet: der multimodale Knotenpunkt wird mit Aimsun Next simuliert, das über die integrierte Programmierschnittstelle mit Python verbunden ist. Das Python-Programm enthält die Regeln für die Steuerung des Knotenpunkts und die Anpassung der Fahrzeugtrajektorien. Die Optimierungssoftware Gurobi wird verwendet, um das Optimierungsproblem aufzustellen und zu lösen. Alle Simulationen laufen 60 Minuten einschließlich einer Startzeit von 10 Minuten, die nicht in der Auswertung berücksichtigt werden. Je Szenario werden fünf zufällige Simulationen gerechnet. Alle Parameter, die im Folgenden beschrieben werden, sind in Tabelle 2 aufgeführt.
4.1 Modellierung des Fahrzeugverhaltens
Die minimalen Zeitabstände werden auf der Grundlage von Literaturannahmen für das sichere Fahrzeugfolgeverhalten von AVF gewählt [15] und alle Fahrzeugparameter sind mit früheren Studien vergleichbar [6, 8, 9].
4.2 Modellierung des Radfahrerverhaltens
Jeder Radfahrer hat eine individuelle mittlere gewünschte Reisegeschwindigkeit. In Anlehnung an die Analysen von Twaddle und Grigoropoulos [16] wird die Reisegeschwindigkeit zufällig einer Normalverteilung mit einem Mittelwert von 5,23 m/sec und einer Standardabweichung von 1,25 m/sec entnommen. Die Werte werden nach unten durch 2,7 m/sec begrenzt und nach oben durch 8,3 m/sec, was der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in den betrachteten Szenarien entspricht. Außerdem schwankt ihre Geschwindigkeit um ihre Wohlfühlgeschwindigkeit mit Beschleunigungen im Bereich von ±0,2 m/sec2. Falls erforderlich, wird dieser Beschleunigungswert angepasst, um sicherzustellen, dass die Radfahrer den Bereich der akzeptablen Geschwindigkeiten nicht verlassen.
4.3 Modellierung des Fußgängerverhaltens
Für die Berechnung der Räumzeiten wird die Räumgeschwindigkeit der Fußgänger mit 0,8 m/sec angenommen, was knapp unter dem 10. Perzentil der Gehgeschwindigkeit bei geringer Dichte liegt, wie sie von Hoogendoorn und Daamen [17] gemessen wurde. Dies ist relativ langsam im Vergleich zu der Annahme von 1,2 m/sec in den Richtlinien für Lichtsignalanlagen (RiLSA) [18].
Tabelle 2: Übersicht über die verwendeten Parameterwerte
Es ist jedoch zu beachten, dass die Fahrzeuge im OptIIC-Szenario mit höherer Geschwindigkeit ankommen. Daher müssen Fußgängerüberwege mit Sensoren überwacht werden. Wenn Fußgänger während einer Rotphase auf der Straße erkannt werden, müssen herannahende Fahrzeuge verzögern und ein neues Zeitfenster für das Queren des Knotenpunkts anfragen.
4.4 Betrachteter Knotenpunkt
Der in dieser Arbeit simulierte und in Abbildung 2 dargestellte Knotenpunkt an der Theresien- und Arcisstraße in München befindet sich neben dem Hauptgebäude der Technischen Universität München (TUM). Das durchschnittliche tägliche Verkehrsaufkommen auf der zweistreifigen Einbahnstraße Theresienstraße beträgt etwa 11.500 Fahrzeuge mit einem Schwerverkehrsanteil von etwa 3%. Für die hier präsentierten Auswertungen werden die Spitzenstunden (zwischen 8:30 und 9:30 Uhr, bzw. zwischen 17:30 und 18:30 Uhr) simuliert, in denen bis zu 1.700 Fahrzeuge pro Stunde den Knotenpunkt queren. Da die Umgebung des Knotenpunkts durch Universitäten, Museen und Restaurants geprägt ist, wird die Gegend auch von Fußgängern und Radfahrern stark frequentiert.
Bild 2: Luftbildaufnahme des Knotenpunkts am Hauptgebäude der Technischen Universität München und Momentaufnahme aus der zugehörigen Verkehrssimulation.
Bild 3: Verkehrsaufkommen am betrachteten Knotenpunkt.
Das auf Basis von Zählungen simulierte Verkehrsaufkommen ist in Abbildung 3 aufgeführt. Zusätzlich zu den Personenkraftwagen und Lastkraftwagen verkehrt ein Linienbus alle 5 Minuten auf der Theresienstraße in Richtung Westen. Da keine genauen Zahlen über das Fußgänger- und Radfahreraufkommen vorlagen, wurde die Nachfrage auf der Grundlage von Messungen an einem benachbarten Knotenpunkt und eigenen manuellen Zählungen festgelegt.
4.5 Referenzsteuerung
Die multimodale OptIIC-Steuerung wird mit einer möglichst realitätsnahen Nachbildung der tatsächlich implementierten LSA-Steuerung mit ÖPNV-Priorisierung verglichen. Dabei wurde die LSA-Steuerung in Aimsun Next modelliert, welche sich für verkehrsabhängige Steuerungsverfahren an den Standards der amerikanischen National Electrical Manufacturers Association (NEMA) orientiert [19]. Die anfängliche Umlaufzeit der LSA-Steuerung beträgt 90 Sekunden, aber die Dauer der Grünphasen und die daraus resultierenden Umlaufzeiten variieren nachfragebedingt. Die Simulationsergebnisse weisen eine durchschnittliche Umlaufzeit von 65 Sekunden bei einer Standardabweichung von 12 Sekunden auf. Diese verkürzten Umlaufzeiten resultieren aus der hohen Sättigungsverkehrsstärke, die durch den geringen Zeitbedarfswert bedingt ist.
Bild 4: Durchschnittliche Verzögerungen und resultierende Qualitätsstufen des Verkehrsablaufs.
Da der Knotenpunkt hier isoliert betrachtet wird, wird die bestehende Koordinierung mit umliegenden Signalen nicht modelliert. Die Grünphasen für Fahrradfahrer an den benachbarten Knotenpunkten werden in festen Zyklen aktiviert, um mit den AIM-Szenarien übereinzustimmen, und der Versatz wird so gewählt, dass zunächst eine grüne Welle für Radfahrer vorgesehen ist. In der betrachteten LSA-Steuerung werden wie in Deutschland üblich keine exklusiven Fußgänger- und Fahrradgrünphasen freigegeben.
4.6 Ergebnisse
In Abbildung 4 werden die simulierten Ergebnisse für die Verzögerungen dargestellt. Die Fahrzeugverzögerungen werden in beiden Fällen an den Haltelinien gemessen, was zu einer Unterschätzung der Verspätungen im LSA-Szenario führt, da die Fahrzeuge hier teilweise aufgrund bedingt verträglicher Fahrzeug-, Fußgänger- oder Radfahrerströme im Knotenpunkt erneut halten müssen. Es ist jedoch zu beachten, dass die Interaktion zwischen automatisierten Fahrzeugen und Fußgängern/Radfahrern nicht im Detail modelliert wird.
Neben dem Vergleich der Verzögerungen der Verkehrsteilnehmer wurden auch der Energieverbrauch und die Beschleunigungs- und Abbremswerte der Fahrzeuge verglichen. Dabei wurden die im Rahmen der OptIIC-Steuerung fest eingeplanten Zeitpunkte zum Queren des Knotenpunkts für eine optimierte Trajektorienplanung genutzt. Die Simulationsergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Durch die Anwendung des OptIIC-Systems können die durchschnittlichen Wartezeiten von Fahrzeugen um bis zu 72% und die durchschnittlichen Verzögerungen von Bussen um bis zu 86% reduziert werden, während die Wartezeiten der Fußgänger und Radfahrer in etwa auf dem gleichen Niveau bleiben wie im LSA-Szenario.
- Der Energieverbrauch, der durch die am Knotenpunkt auftretenden Verzögerungen und Beschleunigungen verursacht wird, kann durch die integrierte energieoptimale Trajektorienplanung der Fahrzeuge um bis zu 54% reduziert werden.
- Die maximal angewandten Beschleunigungs- und Verzögerungswerte werden im OptIIc-Szenario deutlich verringert (im Durchschnitt um 47% 66%). Zur weiteren Erhöhung des Fahrkomforts könnte die Zielfunktion des Trajektorienoptimierungsproblems in Zukunft sowohl Beschleunigung als auch Ruck einbeziehen.
5 Zusammenfassung und Ausblick
Im vorliegenden Beitrag wurde das optimierungsbasierte Steuerungsverfahren OptIIC für automatisierte Fahrzeuge, Fußgänger und Radfahrer vorgestellt. Um die zu erwartenden Auswirkungen an einem realen Knotenpunkt zu testen, wurde eine Kreuzung in München in Aimsun Next nachgebildet und eine simulationsbasierte Bewertung durchgeführt. Es wird hierbei von einem Durchdringungsgrad von 100% AVF ausgegangen. Das Verfahren zur signalfreien, autonomen Knotenpunktsteuerung wurde mit einem Standardverfahren zur verkehrsabhängigen Steuerung verglichen. Der vorgestellte Ansatz ist in der Lage, die durchschnittliche Reisezeit von Fahrzeugen und Bussen um bis zu 72% bzw. 86% zu reduzieren, wobei sich die die Wartezeiten für Fußgänger und Radfahrer nicht erhöhen. Die Ergebnisse zeigen somit das enorme Potential zur Reduktion der Wartezeiten der Verkehrsteilnehmer und demonstrieren die effektive Priorisierung von Fahrzeugen des ÖPNV. Diese Kapazitätsreserve erlaubt in Zukunft einen Rückbau der Fahrzeugspuren und einen Umbau des Straßenraums zu Gunsten der nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmer.
Es ist davon auszugehen, dass auch die Wartezeiten von Fußgängern und Radfahrern noch deutlich reduziert werden können, ohne die Wartezeiten der Fahrzeuge im Vergleich zur LSA-Steuerung zu erhöhen. Dies könnte relativ einfach durch eine entsprechende Anpassung der Gewichtungsfaktoren in der Zielfunktion geschehen.
Es ist geplant, das bisher für einen einzelnen Knotenpunkt erprobte Steuerungsverfahren in Zukunft auch auf mehrere Knoten oder sogar in kleinen Netzen anzuwenden.
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