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Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.
1 Einleitung
In Deutschland und weltweit werden große Summen in Verkehrsbeeinflussungsanlagen investiert, die die Routenwahl, Fahrweise, Verkehrsfluss, Abfahrtszeitwahl und Verkehrsmittelwahl so beeinflusst sollen, dass die bestehende Verkehrsinfrastruktur optimal genutzt wird.
So standen allein im Programm zur Verkehrsbeeinflussung auf Bundesautobahnen (2002-2007) ungefähr 200 Millionen Euro zur Verfügung (BMVBS, 2002). Von diesem Geld ist fast die Hälfte für Wechselwegweisungen, auch Netzbeeinflussungsanlagen genannt, vorgesehen, die die Routenwahl beeinflussen sollen. Diese Anlagen sollen den Verkehr so auf Alternativrouten verlagern, dass entweder Staus von vornherein verhindert oder Fahrzeuge um den Stau herumgeführt werden.
Aufgrund dieser hohen Investitionssummen erscheint es offensichtlich, dass ausgereifte Bewertungs- und Optimierungsverfahren
- bei der Investitionsentscheidung,
- beim operativen Betrieb, und
- bei Bewertungen der in Betrieb genommenen Maßnahme
zum Einsatz kommen. Die Realität in Deutschland zeigt aber, dass die Praxis diesem Anspruch nicht immer gerecht wird.
Ein wesentliches Problem sind dabei unzureichende Informationen über die beeinflussbare Durchgangsverkehrsmenge und den Befolgungsgrad der Verkehrsteilnehmer. Diese Kenngrößen lassen sich mit den heutigen stationären Detektoren (z.B. Induktionsschleifen) nur sehr eingeschränkt erfassen, da diese keine Fahrzeugwiedererkennung an verschiedenen Stellen im Verkehrsnetz ermöglichen. Erhebungen zur Wirksamkeit basieren daher bislang auf vereinzelten Kennzeichenerhebungen, Ableitungen des Befolgungsgrades aus lokalen Zählwerten, Befragungen oder Labortests. Aufgrund des hohen Aufwands dieser Erhebungsmethoden erfolgen diese nur selten und nur für ausgewählte Wechselwegweisungsanlagen.
Mobile, im Verkehr mitfließende Detektoren können diese Lücke in der Verkehrsdatenerfassung schließen. In diesem Gebiet sind Floating Car Daten (FCD), die vor allem zur Verkehrslageerfassung eingesetzt werden, bereits erprobt. Für eine kontinuierliche und flächendeckende Beobachtung des Routenwahlverhaltens sind FCD dagegen häufig nicht geeignet. Dies liegt an zu geringen Ausstattungsgraden, Verzerrungen der Stichprobe durch FCD in Sonderfahrzeugen (z.B. Taxi, Straßenmeisterei) sowie daran, dass u.a. aus Datenschutzgründen häufig nur Informationen über Routenabschnitte und damit keine vollständigen Routen ausgewertet werden können.
Eine neue Datenquelle sind Mobilfunkdaten (Floating Phone Daten, FPD). Die Nutzung dieser Daten ist ohne straßen- oder fahrzeugseitigen Ausstattungen möglich. Alle Mobilfunkgeräte des jeweiligen Mobilfunkinfrastrukturbetreibers dienen dabei als mobile Detektoren, deren Daten über entsprechende Schnittstellen im Mobilfunknetz erfasst werden können. Damit können mit FPD die Ortsveränderungen einer sehr großen Anzahl von Verkehrsteilnehmern kontinuierlich erfasst werden.
Kapitel 2 dieser Veröffentlichung beschreibt eine Methodik, mit der aus Mobilfunkdaten Trajektorien von Verkehrsteilnehmern generiert werden können. Im anschließenden Hauptteil wird zunächst mit Hilfe dieser Trajektorien das Entscheidungsverhalten im Bereich der Routenwahl analysiert (Kapitel 3) und abschließend in Kapitel 4 gezeigt, wie die Ergebnisse die Bewertung und den Betrieb von routenwahlbeeinflussenden Anlagen verbessern können.
Für eine vollständige Beschreibung der Trajektoriengenerierung sowie über die hier beschriebenen Routenwahlanalysen hinausgehende Analysen wird auf die dieser Veröffentlichung zugrunde liegende Dissertation (Schlaich et al., 2010) verwiesen. Dort sind auch umfangreiche Literaturanalysen zu diesen Themen und weiteren Anwendungen von Mobilfunkdaten im Verkehrswesen zu finden.
2 Generierung von Trajektorien aus Mobilfunkdaten
2.1 Datenquelle Mobilfunkdaten
Weltweit werden ca. 80 % des Mobilfunkverkehrs über GSM-Netze abgewickelt (GSMWorld, 2009). GSM steht dabei für Global System for Mobile Communications (früher: Groupe Spécial Mobile) und ist eine detailliert spezifizierte Technologie (Mouly und Pautet, 1992).
In GSM-Netzen ist der Aufenthaltsort eines eingeschalteten Mobilfunkgerätes ohne aktive Verbindung netzseitig nur auf der Ebene von Location Areas bekannt (vgl. Abbildung 1). Erst bei einem Verbindungsaufbau wird die aktive Funkzelle (Serving Cell) ermittelt, über die dann die weitere Kommunikation läuft. Dieses zweistufige Vorgehen minimiert den Aufwand an Protokolldaten im Netz sowie den Energieverbrauch im Endgerät.
Bild 1: Location Areas und Verkehrsnetz im Untersuchungsgebiet
Die Protokolldaten im Mobilfunknetz können mit sogenannten Network Probes erfasst werden. Dabei handelt es sich um spezielle Computer, die den Datenverkehr zwischen BTS und BSC (Abis-Interface) oder BSC und MSC (A-Interface) protokollieren.
- Am A-Interface werden im Standby-Mode Wechsel zwischen zwei Location Areas erfasst (Location Area Update). Darüber hinaus gibt es regelmäßige Updates im Abstand von mehreren Stunden (Periodic Location Update). Bei beiden Arten von Updates wird die aktuelle Funkzelle aufgezeichnet. Darüber hinaus werden am A-Interface während eines Telefonates Wechsel zwischen Funkzellen (Handover) aufgezeichnet. Tabelle 1 zeigt den Umfang der A-Daten.
- Am Abis-Interface sind deutlich mehr Daten verfügbar. Dazu gehört u.a. der TA-Wert (Timing Advance), der eine Abschätzung der Entfernung zum Funkmast erlaubt. Darüber hinaus gibt es umfangreiche Network Measurement Reports, die alle 480ms Signalstärken zur aktuell verwendeten und bis zu sechs benachbarten Funkzellen enthalten. Weitere, je nach Mobilfunkinfrastruktur auswertbare Informationen (z.B. AOA; Angle of Arrival) sind in Sayed et al. (2005) beschrieben.
Tabelle 1: Vollständige Beschreibung der A-Daten (Quelle: T-Mobile Deutschland)
2.2 Definition von LAC-Folgen
Eine LAC-Folge wird als eine Aneinanderreihung von Location Area Codes, die von einem Mobilfunkgerät während einer Ortsveränderung verwendet werden, definiert. Es werden dabei zwei Arten von LAC-Folgen unterschieden:
- A-Daten-LAC-Folgen sind in den A-Daten aufgezeichnete LAC-Folgen der Mobilfunkteilnehmer.
- Netz-LAC-Folgen werden aus Routen im Straßen- und Schienenverkehrsnetz erzeugt.
Die wesentliche Idee hinter dem im Folgenden vorgestellten Verfahren zur Generierung von Trajektorien ist es, die beobachteten A-Daten-LAC-Folgen mit den Netz-LAC-Folgen zu vergleichen.
2.3 Generierung von LAC-Folgen
2.3.1 A-Daten-LAC-Folgen
Basis für die Generierung der A-Daten-LAC-Folgen sind die Location Area Updates, so dass alle weiteren Einträge in den A-Daten, die durch Telefonate, Datenverbindungen und SMS entstehen, gelöscht werden können. Zudem können alle Mobilfunkteilnehmer mit weniger als drei unterschiedlichen Location Areas gelöscht werden, da für diese keine Trajektorien generiert werden können. Dadurch können von den 40 Millionen Datensätzen, die an einem durchschnittlichen Werktag im Untersuchungsgebiet anfallen, fast 35 Millionen Datensätze gelöscht werden. Die verbleibenden 5 Millionen Datensätze verteilen sich auf ungefähr 700.000 Mobilfunkteilnehmer.
In einem weiteren Schritt werden die Daten eines Mobilfunkteilnehmers dahingehend analysiert, ob keine, eine oder mehrere Fahrten während der Datenaufzeichnung durchgeführt worden sind. So hat ein Mobilfunkteilnehmer, der sehr häufig zwischen drei Location Areas hin und her wechselt, meistens keine Fahrt gemacht, sondern befindet sich im Grenzbereich der Location Areas und wechselt aufgrund von Abschattungen, kleinräumigen Bewegungen und anderen technischen Gründen zwischen diesen hin und her. Dagegen kann bei einem Mobilfunkteilnehmer, der nach regelmäßigen Location Area Updates in nacheinander liegenden Location Areas einen längeren Zeitraum kein Update mehr durchführt, davon ausgegangen werden, dass eine Fahrt beendet worden ist. Abbildung 2 zeigt ein typisches Beispiel eines Mobilfunkteilnehmers, der morgens von Pforzheim nach Karlsruhe und abends dieselbe Strecke zurück fährt. Für dieses Beispiel ergeben sich die zwei A-Daten- LAC-Folgen „30724 – 30726 – 29454 – 29453“ und „29453 – 29454 – 30726 – 30724“.
Bild 2: Aufteilung der UsrID 306394488 aufgrund der 60 min-Regel in den Zeilen 4/5
2.3.2 Netz-LAC-Folgen
Als Referenz für die A-Daten-LAC-Folgen werden Netz-LAC-Folgen aus dem Straßen- und Schienennetz generiert. Dazu werden zuerst mit einem Mehrwegsuch-Verfahren in den beiden Netzen alle sinnvollen Routen zwischen den Knoten des Verkehrsnetzes erzeugt. Diese Routen sind Folgen von Strecken im Verkehrsnetz und müssen anschließend in Netz-LAC-Folgen umgewandelt werden. Dafür werden die Flächen der Location Areas mit dem Verkehrsnetz verschnitten und die auf der Route durchfahrenen Location Areas aneinander gereiht.
2.4 Matching von LAC-Folgen
Nachdem nun sowohl aus den A-Daten als auch aus den Verkehrsnetzen LAC-Folgen generiert worden sind, werden diese miteinander verglichen. Dafür werden in einem ersten Schritt LAC-Folgen mit kompletter Übereinstimmung identifiziert. Dies ist allerdings nicht ausreichend, da zum einen die Berechnungen der räumlichen Ausdehnung der Location Areas nur eine Näherung der Realität darstellen und zum anderen sich ein Mobilfunkgerät aufgrund von Abschattungen etc. nicht immer bei der theoretisch stärksten Funkzelle anmeldet. Daher wird für die A-Daten-LAC-Folgen, die nicht im ersten Schritt identifiziert werden konnten, mit einem modifizierten Needleman-Wunsch-Algorithmus (Needleman & Wunsch, 1970) die ähnlichste Netz-LAC-Folge gesucht und dieser bei ausreichender Ähnlichkeit zugeordnet.
Auf diese Weise können für ca. 80 % der potentiell als Fahrten identifizierten A-Daten-LAC- Folgen zugehörige Netz-LAC-Folgen gefunden werden. Jede Netz-LAC-Folge entspricht einer oder mehreren Routen im Verkehrsnetz. Bei Mehrdeutigkeiten, die vor allem im feinmaschigen untergeordneten Netz stattfinden, werden die Fahrten mit einem C-Logit in Anlehnung an Cascetta (2001) auf die verschiedenen Routen aufgeteilt. Für jeden Knoten einer Route kann abschließend aus den zeitlichen Informationen der A-Daten eine Durchfahrtszeit ermittelt werden.
2.5 Ergebnis der Trajektoriengenerierung
Für das Untersuchungsgebiet können an einem durchschnittlichen Werktag insgesamt 500.000 Fahrten identifiziert werden, von denen 400.000 Fahrten im Straßen- und 100.000 Fahrten im Schienennetz durchgeführt werden. Die Belastungen aus den Trajektorien liegen auf den Autobahnen bei ca. 40-50 % der Werte von lokalen Detektoren. Der Wert liegt deutlich unter 100 %, da nicht in allen Fahrzeugen ein Mobilfunkgerät im T-Mobile-Netz vorhanden ist. Dass die Werte etwas über dem Marktanteil von T-Mobile liegen, lässt sich unter anderem auf die überdurchschnittliche Ausstattung mit T-Mobile-SIM-Karten in Lkw zurückführen, da die On-Board-Units der Mauterfassung eine solche SIM-Karte enthalten.
Die Analysen von Fahrzeiten auf längeren Streckenabschnitten zeigen sehr gute Ergebnisse. Die ermittelten Fahrzeiten sind sehr realistisch und ermöglichen mit Hilfe einfacher Regeln auf Basis der gleitenden Mittels der Reisezeit eine grobe Trennung von Pkw und Lkw. Bei Störungen (in Abbildung 3 gegen 10 Uhr) gleichen sich die Fahrzeiten von Pkw und Lkw an, da die Pkw ihre schnellere Geschwindigkeit im Stau nicht nutzen können. Nachts nimmt die Anzahl der Lkw etwa um die Hälfte ab, während kaum noch Pkw fahren.
Bild 3: Fahrzeiten von Stuttgart über Karsruhe zum Kreuz Walldorf (A8 und A5), ca. 90 km
3 Analyse der Routenwahl
Die Trajektorien aus Mobilfunkdaten ermöglichen es erstmals, das tatsächlich realisierte Routenwahlverhalten einer sehr großen Stichprobe über einen längeren Zeitraum (Juli- September 2010) zu beobachten. Nach einer methodischen Einführung werden die Analysen in den folgenden zwei Untersuchungsgebieten erläutert:
- BAB-Netzmasche (Autobahnen A5/A6/A8/A81; Abbildung 4 links): Zwischen Walldorf und Stuttgart verläuft die Standardroute über Heilbronn (A6/A81). Bei Störungen auf der Standardroute wird die Route über Karlsruhe (A5/A8) auf dynamischen Wegweisern mit integrierten Stauinformationen (dWiSta) empfohlen. Zwischen Karlsruhe und Heilbronn gibt es keine dWiSta-Tafeln, hier zeigen die statischen Schilder die Route über Walldorf an.
- Netzbeeinflussungsanlage Stuttgart (Autobahn A81 und Bundesstraßen B10/27/295; Abbildung 4 rechts):
Die Standardroute verläuft über die B10. Die auf dWiSta-Tafeln empfohlene Ausweichroute ist die B295. Eine weitere Alternative von Stuttgart Richtung Heilbronn bzw. umgekehrt ist die B27, die weder von statischen noch von dynamischen Schildern empfohlen wird.
Bild 4: Oben: Untersuchungsbiete für die Routenwahl/unten: dWiSta.Anzeigen
3.1 Beschreibung der mathematischen Grundlagen
Dieses Kapitel beschreibt Grundlagen für die Analysen der Routenwahl. Diejenigen Leser, die mit den Konzepten der Nutzenfunktion, des Logit-Modells und der Maximum-Likelihood- Schätzung vertraut sind, sollten mit dem Kapitel 3.2 (Seite 11) fortfahren.
Nutzenfunktion Die meisten Routenwahlmodelle basieren auf multi-kriteriellen Entscheidungsmodellen, bei denen verschiedene Einflussfaktoren über eine Funktion zu deterministischen Nutzen zusammengefasst werden. Dieser Nutzen ist bei der Routenwahl häufig negativ und wird daher auch als Widerstand oder generalisierte Kosten bezeichnet. Eine lineare Netzfunktion hat die folgende Formel:
Formel (1) siehe PDF.
Multinominales Logit-Modell Die Werte der Nutzenfunktion bilden den Eingangswert für Entscheidungsmodelle, die Auswahlwahrscheinlichkeiten für die Alternativen j ermitteln. Bei Verkehrsteilnehmern werden unter anderem die Verkehrsziel-, Verkehrsmittel- und Routenwahl mit Entscheidungsmodellen durchgeführt. Ein im Verkehrswesen häufig verwendetes diskretes Entscheidungsmodell ist das Logit-Modell, bei dem die Auswahlwahrscheinlichkeiten nach der folgenden Formel (2) ermittelt werden. Aus dieser ergibt sich, dass für die Aufteilung die Differenz der Nutzen Vj der betrachteten Alternativen maßgebend ist.
Formel (2) siehe PDF.
Für eine ausführliche Diskussion des Logit-Modells sowie eine mathematische Herleitung wird an dieser Stelle auf McFadden (2003) verwiesen.
Maximum-Likelihood-Schätzung Die Schätzung der α- und β-Parameter in der Nutzfunktion Vj wird auf Basis von empirischen Daten mit der Maximum-Likelihood-Schätzung durchgeführt (Cowan, 2003; Louviere et al., 2000). Dafür wird die in (3) beschriebene Log-Likelihood-Funktion L(αj, βn) bei der Schätzung maximiert. Variabel sind dabei die Parameter αj und βn der Nutzenfunktion:
Formel (3) siehe PDF.
Die Güte der Anpassung kann u.a. mit Hilfe der Likelihood-Ratios LR (4) beschrieben werden, die das Ergebnis der Log-Likelihood-Funktion zweier Schätzungen vergleicht:
Formel (4) siehe PDF.
Das LR folgt nach den Angaben in der Literatur in etwa der Chi-Quadrat-Verteilung. Aus Tabellen können mit der Anzahl der Freiheitsgrade (Differenz der Anzahl der Parameter) und dem Signifikanzniveau die Werte der Chi-Quadrat-Verteilung ermittelt und dem berechneten LR gegenübergestellt werden (Backhaus et al., 2006). In dieser Veröffentlichung wird ein Signifi¬kanzniveau von 95 % als signifikant und 99 % als hochsignifikant bewertet.
Die Güte des Gesamtmodells wird häufig mit dem adjusted-ρ² (rho-square) angegeben.
Formel (5) siehe PDF.
Das adjusted-ρ² kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen, wobei die erreichten Werte in der Regel deutlich geringer sind als das Bestimmtheitsmaß R² der linearen Regression. In der Literatur wird für ρ² ein Bereich von 0,2 bis 0,4 angegeben, bei dem man von einer hohen Güte ausgehen kann (vgl. u.a. Backhaus et al., 2006). Dieser Bereich entspricht nach Domencich und McFadden (1975) einem R² der linearen Regression von 0,44 bis 0,72.
Die Signifikanz einzelner Parameter wird in dieser Veröffentlichung mit Hilfe der t-Statistik beschrieben. Die Prüfgröße Ti berechnet sich dabei für einen Parameter i aus dem Verhältnis zwischen dem bei der Schätzung ermittelten Parameterwert βi und seinem Standardfehler sb,i. Wenn die Prüfgröße Ti größer als 1,96 ist, ist ein Signifikanzniveau von 95 % (signifikant) erreicht. Bei Ti größer als 2,58 ist die Schätzung hochsignifikant (99 %).
Ausführlich beschrieben ist die Maximum-Likelihood-Schätzung bei Ben-Akiva und Lerman (1985). Die in dieser Veröffentlichung vorgestellten Maximum-Likelihood-Schätzungen wurden mit der Freeware biogeme 1.8 (Bierlaire, 2003; 2009) durchgeführt.
3.2 Untersuchungen des Autobahnvierecks Baden-Württemberg
Stichprobenbeschreibung
Die folgende Tabelle 2 zeigt den Stichprobenumfang für die Routenwahlschätzungen in der BAB-Netzmasche mit insgesamt über 1 Million Mobilfunk-Trajektorien von 80 Tagen. Für die Diagonale Stuttgart ↔ Walldorf ergibt sich in beiden Richtungen eine Aufteilung von ca. 70 zu 30 % zugunsten der Route über Karlsruhe. Die entspricht in etwa den Werten von Messungen mit Kennzeichenerfassungsgeräten (vgl. Schlaich & Friedrich, 2008). In der anderen Diagonale Karlsruhe ↔ Heilbronn dominiert die Route über Walldorf mit einem Anteil von über 95 %. Der mit ungefähr 50 % sehr hohe Lkw-Anteil an Werktagen resultiert vor allem aus den mit einer SIM-Karte ausgestatteten On-Board-Units und dem längeren Fahrtweiten von Lkw (vgl. Wermuth, 2007). An Wochenenden erfolgt aufgrund der Sonntags- und Ferienfahrverbotes an Samstagen keine Unterscheidung.
Tabelle 2: Übersicht über den Durchgangsverkehr von Mobilfunkgeräten (S = Stuttgart, KA = Karlsruhe, HN = Heilbronn, W = Walldorf)
Abbildung 5 zeigt für die Diagonale Stuttgart-Walldorf, dass die Anteile der verschiedenen Routen während der 80 Untersuchungstage teilweise erheblich schwanken. Die Routenwahlschätzungen werden zeigen, ob und wie sich die Schwankungen der Anteile auf zwei alternativen Routen mit Verkehrsmeldungen etc. erklären lassen.
Bild 5: Routenwahl zwischen Stuttgart (S) und Walldorf (W)
Schätzung eines Basismodells
Beim Basismodell werden in der Nutzenfunktion die folgenden Bestandteile berücksichtigt:
- αj Konstante, die jeweils für N-1 Alternativen jeder Routenwahlentscheidung vergeben werden
- βWWW · WWWaktiv Term zur Berücksichtigung, ob eine Wechselwegweisung (WWW) aktiv ist
- βl_Stau · lStau Term für die Länge des gemeldeten Staus [km] sowie der zugehörige Parameter
- βl_Stockend · lStockend Term für die Länge des gemeldeten stockenden Verkehrs [km] sowie der zugehörige Parameter
Das Modell wird für die beiden Diagonalen in der BAB-Netzmasche gemeinsam geschätzt, die Konstanten αj werden dabei für die jeweils stärker genutzte Alternative vergeben. Die Nutzenfunktionen (6) bis (9) des Basismodells lauten daher wie folgt:
Formel (6) und (7) siehe PDF.
Diagonale Karlsruhe ↔ Heilbronn:
Formel (8) und (9) siehe PDF. Tabelle 3 zeigt die Ergebnisse für das Basismodell für die FPD-Trajektorien. Bei den Konstanten ergeben sich für beide Richtungen einer Diagonalen ähnliche Werte, die absoluten Werte sind bei der Diagonalen Karlsruhe ↔ Heilbronn um den Faktor drei höher, da dort die Route über Walldorf sehr stark dominiert.
Die β-Parameter haben die erwarteten Vorzeichen: Verkehrsmeldungen gehen negativ in die Nutzenfunktion ein, wobei die Meldung „Stau“ etwa um 20 % höher als die Meldung „stockend“ bewertet wird. Eine Empfehlung der Route über Karlsruhe wirkt sich positiv auf die Nutzenfunktion dieser Route aus. Mathematisch ausgedrückt ergibt eine Umrechnung der β-Parameter, dass die Wirkung einer aktiven Wechselwegweisung der Wirkung einer Staumeldung von ca. sieben km entspricht.
Tabelle 3: Ergebnis der Schätzung des Basismodells in der BAB-Netzmasche
Die Schätzergebnisse können grafisch so aufbereitet werden, dass das zu erwartende Routenwahlverhalten einfach abgelesen werden. So kann aus Abbildung 6 zum Beispiel abgelesen werden, dass bei 5 km mehr gemeldetem Stau über Heilbronn als über Karlsruhe bei inaktiver Wechselwegweisung (WWW) ca. 78 % des Durchgangsverkehrs die Route über Karlsruhe wählen. Eine aktive Wechselwegweisung bewirkt einen zusätzlichen Anteil von 6 %, was einem Befolgungsgrad von ca. 29 % entspricht.
Bild 6: Grafische Darstellung der Routenwahl für die Richtung Stuttgart → Walldorf
Detaillierte Analyse der Verkehrsmeldungen
Im Basismodell werden die gemeldeten Längen der Verkehrsmeldungen unabhängig von ihrem Ort aufsummiert und in der Nutzenfunktion berücksichtigt. Da die untersuchten Routen eine Länge von ca. 100 km und damit Fahrzeiten von ca. einer Stunde aufweisen, ist es denkbar, dass der Verkehrsteilnehmer unterscheidet, ob eine Verkehrsmeldung direkt zu Beginn oder am Ende der Route liegt.
Die Tabelle 4 auf der folgenden Seite zeigt die Ergebnisse einer Schätzung, bei der die Verkehrsmeldungen in zwei Abschnitte unterteilt und je Abschnitt mit β-Parametern versehen werden. Dabei erfolgt die Unterteilung jeweils ungefähr nach der Hälfte der Route an den Ecken der BAB-Netzmasche.
Der absolute Betrag der β-Parameter für die Verkehrsmeldungen auf dem ersten Abschnitt ist sowohl bei der Meldung „Stau“ als auch bei der Meldung „Stockend“ deutlich höher als der des zweiten Abschnittes. Das bedeutet, dass Verkehrsteilnehmer im Durchschnitt die näherliegenden ca. zweimal höher als die weiter entfernten Verkehrsmeldungen bewerten.
Eine weitergehende Aufteilung der Verkehrsmeldungen sowie eine Untersuchung der Reaktion der Verkehrsteilnehmer auf Warnhinweise (z.B. „verlorene Ladung“) führt zu nicht verwertbaren Ergebnissen. Auch die Meldung „Vollsperrung“ kann nicht detailliert ausgewertet werden, da diese zu selten auftritt.
Tabelle 4: Ergebnis der Schätzung des Basismodells unter Berücksichtigung des Ortes der Verkehrsmeldung
Weitere Schätzungen
Die sehr große Stichprobe ermöglicht weitere, sehr detaillierte Schätzungen. Einige Ergebnisse sind im Folgenden kurz beschrieben:
- Pkw und Lkw haben ein sehr ähnliches Routenwahlverhalten. Lkw zeigen dabei eine leichte Tendenz zur kürzeren Route, während Pkw etwas mehr auf Verkehrsmeldungen reagieren. Insgesamt wird durch diese Differenzierung die Güte der Modells (adjusted-ρ²) gegenüber dem Basismodell nur sehr leicht verbessert.
- Ein Ersetzen der Konstanten durch das Attribut „Uhrzeit- und Verkehrstag-typische Fahrzeit“ aus Langzeitbeobachtungen führt zu einer Verschlechterung der Modellgüte. Das zeigt, dass die Verkehrsteilnehmer auch andere Gründe als die typische Fahrzeit haben, wenn sie sich für eine Route entscheiden. Der Vollständigkeit halber sei der Parameter für die typische Fahrzeit in Minuten mit -0,22 genannt.
- Auch die Nutzung der typischen Fahrzeit zusätzlich zu den Konstanten für zu keiner wesentlichen Verbesserung der Modellgüte. Daraus kann geschlossen werden, dass Verkehrsteilnehmer zwar den grundsätzlichen Fahrzeitvorteil einer Route, aber nicht die tageszeitabhängigen Schwankungen dieses Fahrzeitvorteils kennen.
- Verkehrsteilnehmer reagieren nicht differenziert auf die Informationen, die auf den dynamischen Schildern zusätzlich zur Routenempfehlung angezeigt werden (Länge und der Ort eines Staus). Das widerspricht allerdings nicht aktuellen Erkenntnissen (z.B. Trapp & Feldges, 2009), dass diese zusätzlichen Anzeigen die Akzeptanz einer Anlage steigern. Dies konnte nicht ermittelt werden, da die untersuchte Anlage immer die zusätzlichen Informationen angezeigt hat.
3.3 Untersuchungen der Netzbeeinflussungsanlage Stuttgart
Stichprobenbeschreibung
Durch eine lokale Verfeinerung des in Kapitel 2 beschriebenen Verfahrens zur Generierung von Trajektorien es möglich, auch für die Netzbeeinflussungsanlage (NBA) Stuttgart Routenwahlanalysen durchzuführen (vgl. Abbildung 4 rechts auf S. 8).
Eine automatische Unterscheidung der Fahrzeuge in Pkw und Lkw ist hier anhand der Fahrzeiten nicht möglich. Dies liegt vor allem daran, dass auf vielen Strecken im Untersuchungsgebiet die zulässige Geschwindigkeit 80 km/h nicht überschreitet und somit Lkw nicht langsamer als Pkw fahren. Abbildung 7 verdeutlicht, dass eine Trennung aufgrund der Fahrzeiten auch optisch nicht möglich ist.
Bild 7: Fahrzeiten vom Stuttgarter Pragsattel über die B10 Richtung bis Ilsfeld
Die folgende Tabelle 5 zeigt den Stichprobenumfang für die Routenwahlschätzungen in der Netzbeeinflussungsanlage Stuttgart. Es gehen insgesamt knapp 350.000 Mobilfunktrajektorien in die Routenwahlschätzungen ein. In beiden Richtungen dominiert die Hauptroute über die B10 mit deutlich über 90 % des Durchgangsverkehrs. Die Alternativrouten über die B295 bzw. B27 haben Anteile zwischen 2,6 und 4,7 %. Nur an wenigen Tagen haben die Alternativrouten zusammen einen Anteil von mehr als 10 % (vgl. Abbildung 8).
Tabelle 5: Übersicht über den Durchgangsverkehr aus Mobilfunk-Trajektorien
Bild 8: Routenwahl zwischen Stuttgart (S) und Heilbronn (HN)
Schätzung eines Basismodells
Das Basismodell umfasst analog zu den Untersuchungen in der BAB-Netzmasche vier α- Konstanten für die Alternativen B27 und B295 (je Richtung) sowie β-Parameter für die Wechselwegweisung (nur B295) sowie die Staumeldungen auf den Bundesstraßen und Autobahnabschnitten.
Tabelle 6: Ergebnis der Schätzung des Basismodells für die NBA Stuttgart
Die Ergebnisse in der Tabelle 6 zeigen, dass nur für die α-Konstanten signifikante Ergebnisse erreicht werden. Die β-Parameter dagegen haben alle sehr hohe Standardfehler, die teilweise sogar größer als die Werte der Parameter sind.
Darüber hinaus hat der Parameter βl_Stau nicht das erwartete Vorzeichen. Ein positiver Parameter bedeutet hier, dass die Verkehrsteilnehmer eine Staumeldung positiv in der Nutzenfunktion berücksichtigen. Dies lässt sich nicht erklären, insbesondere da die Meldung „stockend“ negativ bewertet wird. Dies bestärkt die Hypothese, dass Verkehrsmeldungen für den Fall der NBA mit vielen regelmäßigen Fahrern keinen Einfluss auf die Routenwahl haben (vgl. Wermuth et al., 2004). Dies kann auch darauf zurückzuführen sein, dass der Verkehrsteilnehmer bei der B295 mit ihrem teilweise innerstädtischen Charakter nicht davon ausgehen kann, dass Verkehrsstörungen auf allen Abschnitten dieser Route in den Verkehrsmeldungen enthalten sind.
Der ebenfalls nicht signifikante Parameter βNBA,B295 für die Netzbeeinflussungsanlage ist positiv, was bei Anwendung der Nutzenfunktion bedeutet, dass die Verkehrsteilnehmer den Empfehlungen folgen.
Abbildung 9 zeigt das Routenwahlverhalten in Abhängigkeit der Schaltzustände der NBA Stuttgart:
- In Stadteinwärtsrichtung erhöht die Routenempfehlung der NBA den Anteil der Route über die B295. Auf den Anteil der B27 hat die Routenempfehlung erwartungsgemäß keine Auswirkung, da die Abzweigung zur B27 vor den dynamischen Anzeigen ist.
- In Stadtauswärtsrichtung wirkt eine Empfehlung der NBA in kleinerem Umfang auf beide Alternativrouten B27 und B295. Hier haben die Verkehrsteilnehmer beim Vorbeifahren an den dynamischen Anzeigen noch alle Alternativen zur Auswahl.
Bild 9: Routenwahlverhalten im Bereich der NBA Stuttgart
Die Gründe für die im Gegensatz zu den bisherigen Schätzungen des Basismodells nicht signifikanten β-Parameter lassen sich auf die folgenden drei Erkenntnisse, die sich aus der Erhebungsmethode ergeben, zurückführen:
- Die Netzbeeinflussungsanlage ist nur selten aktiv. Insbesondere in Stadteinwärtsrichtung ist sie an den für die Routenwahlanalysen verwendeten Tagen insgesamt nur ca. sechs Stunden aktiv. Dies liegt zum einen daran, dass die Netzbeeinflussungsanlage zwischen Mitte Februar und Ende August defekt war und zum anderen daran, dass es für den 30.09.2008 mit fünf Stunden aktiver Routenempfehlung keine Versorgung mit Rohdaten aus dem Mobilfunknetz gab.
- Ein Großteil des Durchgangsverkehrs fährt zu Zeiten ohne Verkehrsmeldung im Untersuchungsbereich und beeinflusst damit nur den Wert der Konstanten.
- Die Alternativen B10 und B27 überlappen sich zwischen Pragsattel und Zuffenhausen und die Alternativen B10 und B295 zwischen Zuffenhausen und Ludwigsburg. Diese Überlappungen der drei Routen bewirken, dass einige Staumeldungen auf verschiedene Routen wirken, so dass sich die drei Alternativen im Untersuchungsgebiet geringer als drei komplett getrennte Alternativen voneinander unterscheiden.
Hier zeigt sich eine Schwäche von Daten aus tatsächlich beobachteten Routenwahlentscheidungen (revealed preference, RP) gegenüber Daten aus stated-preference- Befragungen. SP-Befragungen ermöglichen es, beliebige Situationen vorzugeben und somit abgesehen von der tatsächlichen Entscheidung des Probanden die Eingangsgrößen für die Schätzungen bereits durch das Erhebungsdesign vorzugeben.
4 Auswirkung auf Entscheidungs- und Optimierungsverfahren
4.1 Operativer Betrieb von Anlagen
Die Schaltung von Wechselwegweisungen soll den Verkehrsfluss optimieren. Dies ist nur möglich, wenn die Betreiber der Anlagen Kenntnis über den Befolgungsgrad haben. Grafische Aufbereitungen von Schätzergebnissen wie in Abbildung 5 bieten dem Betreiber eine optimale Grundlage für die Abschätzung der Wirkung einer Steuerungsmaßnahme.
Allerdings ist es nicht ausreichend, die Wirksamkeit einer Anlage nur mit dem Befolgungsgrad zu beschreiben, da dieser nur eine von drei wesentlichen Größen ist. Die anderen beiden sind:
- Anteil Durchgangsverkehr am Gesamtverkehr (AnteilDurchgangsverkehr): Von dem Verkehr, der eine Wechselwegweisung passiert, ist häufig nur ein geringer Teil Durchgangsverkehr durch die untersuchte Netzmasche. Die anderen Fahrzeuge haben andere Ziele und sind daher nicht durch die Wechselwegweisung beeinflussbar. Diese beträgt nach Schlaich & Friedrich (2008) ca. 12 % für die Diagonale Stuttgart-Walldorf.
- Anteil der Hauptroute am Durchgangsverkehr bei deaktivierter Wechselwegweisung (AnteilHauptroute): Durchgangsverkehr kann nur dann durch eine Empfehlung der Wechselwegweisung auf eine Alternativroute umgeleitet werden, wenn er im Fall einer inaktiven Wechselwegweisung die Hauptroute der Wechselwegweisung befährt.
Für die Wechselwegweisung in der BAB-Netzmasche ergibt sich ein Anteil umgelenkter Fahrzeuge bezogen auf den zufließenden Verkehr (Anteilumgelenkt,Zufluss) von ca. 1,1 %:
Formel (10) siehe PDF.
Dies bedeutet, dass z.B. bei 6.000 Fahrzeugen, die in Stuttgart in das BAB-Viereck nur ca. 60 Fahrzeuge tatsächlich umgeleitet werden. Dieser Wert stellt sogar nur eine Obergrenze dar, da er für den Fall ohne Staumeldungsdifferenz gilt. Je mehr Staumeldungen es über Heilbronn gibt, desto geringer wird der Anteil des Durchgangsverkehrs auf der Hauptroute (AnteilHauptroute) und damit auch der Wert von Anteilumgelenkt,Zufluss (s.a. Abbildung 6).
Ein höheres Potential in Bezug auf umgelenkte Fahrzeuge ergäbe sich, wenn die statische Beschilderung die ohnehin im Regelfall schnellere Route über Karlsruhe und die Wechselwegweisung als die Alternativroute über Heilbronn empfehlen würde. In diesem Fall ist zu erwarten, dass sich der Anteil der über Karlsruhe fahrenden Fahrzeuge weiter erhöhen würde, so dass der Wert AnteilHauptroute von 30 % im jetzigen Zustand auf über 70 % steigen würde. Entsprechend würden sich unter der Annahme eines identischen Befolgungsgrades die Anzahl umgelenkter Fahrzeuge mehr als verdoppeln. Entsprechende Neubeschilderungen sind als Folge der Ergebnisse des dieser Veröffentlichung zugrunde liegenden Projektes nach dem Ausbau der A8 zwischen Leonberg und Karlsruhe geplant (vgl. Do-iT, 2009).
Eine andere Möglichkeit, das Potential der Wechselwegweisung zu erhöhen, ist im Falle von freiem Verkehrsfluss auf der Hauptroute bzw. gestörtem Verkehr auf der Alternativroute dies anzuzeigen, um den Anteil der Fahrzeuge auf der Hauptroute zu erhöhen.
In der anderen Diagonale, die momentan nicht mit einer Wechselweisung ausgestattet ist, ist das Potential unter der Annahme eines identischen Befolgungsgrades ähnlich hoch. Hier wird der höhere Anteil auf der Hauptroute (ca. 95 %) durch einen geringeren Durchgangsverkehrsanteil (ca. 4 %) ausgeglichen.
4.2 Investitionsentscheidungen
Dieselben Kenngrößen, die zur Planung und zum Betrieb einer Anlage entscheidend sind, sind auch vor dem Bau für eine Investitionsentscheidung wichtig. Hier bislang können nur die Kenngrößen AnteilDurchgangsverkehr und AnteilHauptroute vorab mit Verkehrsmodellen oder Kennzeichenerfassungssystem (vgl. Friedrich et al., 2009) abgeschätzt bzw. gemessen werden. Diese beiden Kenngrößen können auch mit Mobilfunktrajektorien ermittelt werden.
Der Befolgungsgrad einer noch nicht errichteten Anlage kann offensichtlich nicht gemessen werden. Zur Abschätzung können zwei Methoden angewendet werden:
1. Auswertung von stated-preference-Befragungen
2. Abschätzung aufgrund von Erfahrungswerten andere Anlagen
Letzteres kann in Deutschland auf Basis der Hinweise zur Wirksamkeitsschätzung und Wirksamkeitsberechnung von Verkehrsbeeinflussungsanlagen (FGSV, 2007) erfolgen. Diese geben Erwartungswerte für den Befolgungsgrad in Abhängigkeit des Umwegfaktors, der Maschengröße und der verwendeten Anzeigetechnik (mit/ohne Umleitungsgrund) an. Für Anlagen mit Umleitungsgrund sind die jeweils höheren Werte der Bandbreite in Tabelle 7 zu erwarten.
Tabelle 7: Befolgungsgrad von Wechselwegweisungen (FGSV, 2007, Tabelle 6)
Angaben zu Befolgungsgraden basieren allerdings häufig auf einer dünnen Datenbasis. So werden die Ergebnisse einer Messung in 1993 (Balz, 1995) vermutlich mangels aktuellerer Untersuchungen im Leitfaden Verkehrstelematik des deutschen Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS, 2006) und in den österreichischen Richtlinien (Asfinag, 2005) übernommen. Dort werden Werte von 5 % bis 15 % Befolgungsgrad bei der Meldung Staugefahr und zusätzliche 5 % bei der Nennung eines Umleitungsgrundes genannt. In den o.g. FGSV-Hinweisen wird keine Quelle angegeben.
Deutschlandweite Routenwahlanalysen mit Mobilfunkdaten wie in Kapitel 3 erläutert würden es ermöglichen, durch eine Untersuchung von vielen unterschiedlichen Anlagen eine breite Datenbasis zu schaffen. Für die in dieser Veröffentlichung vorgestellten Untersuchungsfälle ergeben sich die folgenden Werte (bei der NBA Stuttgart sind die Werte nicht signifikant):
- BAB-Netzmasche: ca. 30 % („große Masche, kurzer Umweg“)
- NBA Stuttgart (stadteinwärts): 17,3 % („kleine Masche, großer Umweg“)
- NBA Stuttgart (stadtauswärts): 2,7 % („kleine Masche, großer Umweg“)
Da bei beiden Anlagen Gründe für die Umleitungsempfehlung angegeben sind, sind nach Tabelle 7 Befolgungsgrade von 30 % bzw. 20 % zu erwarten. Bei der BAB-Netzmasche wird dieser Wert erreicht, bei der NBA Stuttgart teilweise deutlich nicht.
4.3 Bewertung der Wirksamkeit von Anlagen im Betrieb
Eine kontinuierliche Beobachtung der Wirksamkeit von Wechselwegweisungen mit Mobilfunktrajektorien ermöglicht es zum einen, die vor der Investitionsentscheidung getroffenen Annahmen über das Entscheidungsverhalten der Verkehrsteilnehmer zu überprüfen und, wenn es Abweichungen gibt, die Annahmen für zukünftige Investitionen anzupassen. Zum anderen können auch die für den operativen Betrieb benötigten Daten laufend angepasst werden, wenn sich Änderungen des Entscheidungsverhaltens im Laufe der Zeit ergeben. So ist nach positiven oder negativen Erfahrungen der Verkehrsteilnehmer mit einer speziellen Anlage ein verändertes Entscheidungsverhalten zu erwarten (vgl. Janssen & van der Horst, 1992).
Zudem ermöglichen Mobilfunktrajektorien, nicht nur die Wirkung im Sinne von umgelenkten Fahrzeugen zu ermitteln, sondern auch durch ein kontinuierliches Monitoring der Angebotsqualität die Wirkungen auf den Verkehrsfluss zu bewerten.
5 Fazit
In dieser Veröffentlichung wurde anhand von zwei Untersuchungsgebieten über einen Zeitraum von ca. 80 Untersuchungstagen demonstriert, wie mit Hilfe von Mobilfunkdaten das Routenwahlverhalten in Abhängigkeit von dynamischen Einflussgrößen analysiert werden kann.
Für beide Untersuchungsgebiete kann aus den Mobilfunkdaten eine im Vergleich zu anderen Untersuchungsmethoden sehr große Anzahl von Trajektorien generiert werden, ohne dass eine Rekrutierung von Probanden erforderlich ist. Die Routenwahlanalysen zeigen, dass die Verkehrsteilnehmer im Untersuchungsgebiet der BAB-Netzmasche auf Verkehrslageinformationen im Radio, über TMC und auf Anzeigen entlang der Autobahn reagieren. Im Bereich der NBA Stuttgart können dagegen keine statistisch sicheren Ergebnisse generiert werden, was unter anderem darauf zurückzuführen liegt, dass dort sehr selten Routenwahlempfehlungen gegeben werden. Dies ist eine allgemeine Schwäche der Nutzung von beobachteten Routenwahlentscheidungen, bei denen im Gegensatz zu SP-Befragungen die Einflussgrößen nicht beliebig variiert werden können und ist damit unabhängig von der Datenquelle Mobilfunkdaten.
Eine Ausweitung der Methodik auf Gesamtdeutschland würde die Untersuchung von einer größeren Auswahl an Routenwahlentscheidungen auf Autobahnen ermöglichen. Dadurch könnten die Einflüsse von Wechselwegweisungen und Verkehrsmeldungen in Abhängigkeit von der Routenlänge und dem Umwegfaktor ermittelt werden. Außerdem kann untersucht werden, ob substitutive und additive Wechselwegweisungen unterschiedliche Wirkungen haben. Eine umfassende Analyse würde den Verkehrsingenieur in die Lage versetzen, auch für in Planung befindliche Wechselwegweisungen die Wirkungen abzuschätzen.
Wie in dieser Veröffentlichung aufgezeigt wird, sind neben dem Befolgungsgrad auch noch der Anteil des Durchgangsverkehrs am Gesamtverkehr sowie der Anteil des Durchgangsverkehrs auf der Hauptroute entscheidend, um die Anzahl der umgelenkten Fahrzeuge und damit die tatsächliche Wirkung auf die Verkehrsnachfrage einzelner Strecken zu ermitteln. Allerdings stellt auch dies erst ein Zwischenziel dar, um eine vollständige Wirksamkeitsuntersuchung einer Wechselwegweisung durchzuführen. Weitere Forschungsarbeiten sollten sich daher damit beschäftigen, welche Wirkungen die umgelenkten Fahrzeuge auf den Verkehrsfluss auf der Haupt- und Alternativroute haben und wie sich dadurch globale Kenngrößen wie Reisezeit oder CO2-Ausstoß verändern.
Danksagungen
Diese Veröffentlichung basiert auf der Dissertation „Nutzung von Mobilfunkdaten für die Analyse der Routenwahl“ (Schlaich, 2010). Diese wurde von Prof. Dr.-Ing. Markus Friedrich (Universität Stuttgart) und Prof. Dr.-Ing. Kay. W. Axhausen (ETH Zürich) betreut.
Die Forschungsergebnisse sind Teil des Forschungsprojektes „Datenoptimierung für integrierte Telematik (Do-iT, 2008), das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gefördert worden ist. Die Mobilfunkdaten wurden in diesem Projekt von T-Mobile Deutschland zur Verfügung gestellt.
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