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1 Einleitung
Detaillierte und verlässliche Verkehrsdaten sind notwendig als Eingangsdaten für die Verkehrsmodellierung. Sie beeinflussen maßgeblich die Qualität der Modellergebnisse. Daten in hoher Güte sind daher für eine realitätsnahe und aussagekräftige Modellierung von enormer Bedeutung. Dennoch konnte die Gewinnung detaillierter und verlässlicher Verkehrsdaten inkl. Befragungsdaten in den letzten Jahrzehnten nicht am hohen Niveau der Datenverarbeitung und Datenaufbereitung anknüpfen [1].
Im Festlandeuropa basiert die Generierung von Verkehrsinformationen und Verkehrsdaten überwiegend auf stationären Messeinrichtungen, während in den USA und Großbritannien vorwiegend Flottenfahrzeuge und Taxis als Datenlieferanten genutzt werden. Zur Datenaufbereitung werden entsprechende Plausibilisierungsalgorithmen eingesetzt. Die Nutzung von Flottenfahrzeugen hat den Vorteil, dass sie sich nahezu den ganzen Tag hinweg kontinuierlich im Straßennetz bewegen und meist hohe Kilometerleistungen erbringen.
Im Gegensatz dazu stehen stationäre Erfassungseinrichtungen, die neben einer ungleich verteilten Ausstattung im Straßennetz nur einen kleinen räumlichen Ausschnitt des gesamten Verkehrsgeschehens erfassen. In Österreich sind insbesondere Autobahnen und Schnellstraßen mit stationären Detektoren versehen. Das nachgeordnete Netz ist meist nur lückenhaft erfasst. Zeit-Weg Verläufe (Trajektorien), Informationen über die Quelle und das Ziel, als auch Routenverläufe fehlen. Doch solche Daten wären wichtig für eine kontinuierliche Netzplanung und Netzoptimierung. Aus diesem Grund werden Verkehrsnachfragedaten heute fast ausnahmslos mit Verkehrsnachfragemodellen (Aktivitätenwahl, Zielwahl, Verkehrsmittelwahl, Routenwahl) berechnet. Sie basieren auf Daten der Raum- und Siedlungsstruktur, Verkehrsverhaltens-Daten und Daten zum Verkehrsnetz. Trotz sorgfältigem Modellaufbau bestehen entsprechende Unsicherheiten bei Ortsveränderungen von Personen und Fahrzeugen und dennoch werden diese Modelle für Prognosen eingesetzt, die Verkehrs- und Infrastrukturplanung beeinflussen.
Eines der grundlegenden Elemente der Verkehrsnachfragemodellierung ist die Quelle-Ziel- Matrix (QZ-Matrix). Sie stellt alle Verkehrsbeziehungen zwischen verschiedenen Quellen und Zielen dar. Die Summe aller Matrixeinträge entspricht der Gesamtanzahl aller Fahrten des Planungsgebietes. Die QZ-Matrix kann entweder durch Modellrechnungen oder empirische (Strom-)Erhebungen ermittelt werden. Da zur Berechnung der QZ-Matrix umfassende Haushaltsbefragungen zum Verkehrsverhalten, sozio-ökonomische Analysen als auch Kennzeichenerfassungen notwendig sind, ist die Generierung einer qualitativ hochwertigen QZ-Matrix meist sehr kosten- und zeitintensiv und bedarf einer intensiven Vorbereitung, Durchführung, Aufbereitung und Analyse. Stromerhebungen werden aus Zeit- und Kostengründen meist nur einmalig oder mit großen zeitlichen Abständen durchgeführt.
Da in Österreich weder stationäre Erfassungseinrichtungen, noch zusätzliche Erhebungen optimale Rahmenbedingungen zur Generierung der QZ-Matrix bieten, können neue Technologien zielführend sein. Fahrzeuge als auch Insassen sind heutzutage mit Sensoren ausgestattet, die eine kostengünstige und flächendeckende Erfassung vielfältiger Informationen ermöglichen. Zum einen können Fahrzeuge selbst Daten generieren bzw. erfassen, zum anderen können über mitgeführte Geräte wie beispielsweise Mobilfunkgeräte Informationen gesammelt werden.
Ziel von verschiedenen Projekten an der TU Graz war es, basierend auf den Bewegungen dieser Mobilfunkgeräte, QZ-Beziehungen zu berechnen, welche auch Informationen über das benutzte Verkehrsmittel enthalten und somit eine weitere Grundlage für die Erstellung bzw. Kalibrierung von Verkehrsmodellen sind.
Floating Phone Data (FPD) basiert auf dem Ansatz, dass sich ein im Fahrzeuginnenraum (mIV oder ÖV) mitgeführtes Mobilfunkgerät während der Fahrt in verschiedenen Mobilfunkzellen entlang der Fahrstrecke ein- und ausbucht bzw. auch Aktivitäten am Mobilfunktelefon bei stationären Aufenthalten verarbeitet werden können. Somit besteht die Möglichkeit, dass ein Mobilfunknetzbetreiber die Bewegungsdaten über eine sogenanntes Mobilfunk- Monitoringsysteme erfasst, anonymisiert und sie weiterverarbeitenden Einrichtungen zur Verfügung stellt [2-6].
Der bisher verwendet Ansatz - geographische Projektion der Mobilfunkdaten auf Verkehrszellen - aus dem Jahre 2014 in Bezug auf die Verarbeitung dieser Mobilfunkdaten an der TU Graz wurde verworfen [7] und ein neuer Feature-Extraction-Algorithmus entwickelt, welcher eine Zuordnung der mobilfunkbasierten Trajektorien zu Verkehrsmitteln ermöglicht. Hierbei geht es darum, dass verkehrlich relevante Merkmale extrahiert werden und in einem nachfolgenden Klassifikationsverfahren eine optimale Lösung automatisiert suchen.
Für verkehrsplanerische Fragestellungen erfolgt eine Aggregation der einzelnen mobilfunkbasierten Trajektorien in Quelle- und Zielzellen. Diese QZ-Wege werden in einer QZ- Matrix in verschieden Ausprägungen (Quell-Ziel-Verkehr, Binnenverkehr) ausgegeben. Basierend auf dieser Grundlage erfolgt die Berechnung einer sogenannten Gesamtnachfragematrix.
2 Datenbasis Floating Phone Data
Grundlage für alle an der TU Graz und der KnowCenter GmbH durchgeführten Mobilfunkanalysen sind mobilfunkbasierte Bewegungsdaten (Floating Phone Daten (FPD)) - sogenannte mobilfunkbasierte Trajektorien d.h. von jeder anonymisierten IMSI (International Mobile Subscriber Identity), welche auf einer SIM-Karte (Subscriber Identity Module) gespeichert wird, werden die Aktivitäten (sogenannte Events (Anrufe, SMS, aktiviertes Datenpaket) verwendet, um den zeitlichen Verlauf und die räumliche Verteilung abzubilden. Die IMSI wird basierend auf einem Anonymisierungsalgorithmus einer 24 Stunden gleich bleibenden Identifikationsnummer (ID) zugeordnet. Die räumliche Zuordnung erfolgt über eine Koordinate für jeden aktiven Event. Die IDs werden mittels eines Monitoringsystems aus dem GSM (Global System for Mobile Communications)-, UMTS (Universal Mobile Telecommunications System)-, LTE (Long Term Evolution)- und LTE-Advanced-Mobilfunknetz eines Mobilfunkanbieters extrahiert. Der große Vorteil dieser Daten liegt in der dauerhaften zeitlichen und räumlichen Verfügbarkeit.
3 Methode zur Berechnung von verkehrsmittelspezifischen Trajektorien und Matrizen
Mittels Map-Matching-Verfahren werden diese relativ unpräzisen Mobilfunk-Event-Trajektorien auf einen Straßen- bzw. Schienennetzgraphen projiziert [8]. Die Position der ID auf dem Netzgraphen für einen gegeben Zeitpunkt kann dann approximativ mittels Interpolation basierend auf dem Zeitstempel der einzelnen Mobilfunk-Events bestimmt werden. Somit ist das Ergebnis eine sehr präzise, mobilfunkbasierte Trajektorie auf Basis des Netzgraphen. Dieses Ergebnis ist dann Grundlage für die weitere Verwendung in den verschiedenen Analyseanwendungen.
Die hier präsentierte Arbeit betrachtet jedoch im Detail die Unterteilung in motorisierter Individualverkehr (mIV) und schienengebundenem öffentlichen Verkehr (ÖV). Es sind verschiedene Methoden anzuwenden, um eine mIV- bzw. schienengebundene ÖV-Matrix zu generieren. Bei parallel verlaufenden Straßen- und Schienenstrecken wird anhand von Bewegungsgeschwindigkeit der Mobilfunktrajektorie und Zeitpunktüberprüfung mit ÖV- Fahrplänen geprüft, ob sich die Mobilfunk-ID in einem Schienenfahrzeug befinden kann. Bei parallel verlaufenden Autobahnen und Landesstraßen werden aufgrund von Reisegeschwindigkeit und Reiseweiten Annahmen über die Streckenzuordnung getroffen. Anhand der Streckenreisezeit für Kfz und Bus erfolgt eine verkehrsmittelbezogene Filterung. Fußgängerverkehre können anhand ihrer niedrigen Systemgeschwindigkeit einfach ausgeschieden werden. Die Ausscheidung des Radverkehrs gestaltet sich komplexer. Jedoch erkennt man den Radverkehr, sobald er sich abseits von Busstrecken im Netz bewegt.
Die nach Verkehrsmitteln gefilterten Trajektorien werden zu mIV- und ÖV-Nachfragematrizen aggregiert.
In der nachfolgenden Systemskizze (Abbildung 1) ist die grundsätzliche Methodik dieser Umsetzung dazu abgebildet.
Abbildung 1: Systemskizze Floating-Phone-Data für die Berechnung von verkehrsmittelspezifischen Nachfragematrizen bestehend aus QZ-Tool-Backend und -Frontend
Das an der TU Graz und der Know-Center GmbH entwickelte „QZ-Tool“ ist die Grundlage für die Analysen von mobilfunkbasierten Trajektorien und deren Zellaggregation. Das QZ-Tool besteht aus einem Frontend, wo mittels zeitlicher und räumlicher Eingabeparameter Analysevorgänge definiert und durchgeführt werden. Als externe Eingangsquelle für das QZ- Tool dienen der anonymisierte Mobilfunkdatenstream (A1MTDS), der Straßen- und Schienennetzgraph und der für die Verkehrsmittelunterscheidung relevante ÖV-Fahrplan.
3.1 Verkehrsmittelerkennung
Die Verkehrsmittelerkennung selbst funktioniert mithilfe eines probabilistischen Ansatzes und wird rechentechnisch auf einem Hadoop Big Data Cluster verarbeitet. Ein Hadoop-Cluster ist eine spezielle Art von Computer-Cluster, der für die Speicherung und Analyse von großen Mengen unstrukturierter Daten in einer verteilten Rechenumgebung entwickelt wurde. Es werden sogenannte Features (Merkmale) identifiziert, die einen diskriminativen Charakter bezüglich mIV- und ÖV-Trajektorien haben und die eine prozentuale Bewertung erlauben, ob diese Strecke auf einer mIV- oder ÖV-Strecke zurückgelegt worden ist. Anschließend gewichtet ein manuell erstellter Decision-Tree die einzelnen Features und gibt für eine beliebige Mobilfunktrajektorie das wahrscheinlichste Verkehrsmittel aus, mit welchem die Strecken innerhalb dieser Trajektorie zurückgelegt wurden. Folgende Features wurden identifiziert, in das QZ-Tool integriert und evaluiert:
3.1.1 Feature: Aufenthaltsverhalten an Bahnhöfen
Jede Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel beginnt und endet an einer ÖV-Station (z.B. Bahnhof). Dieses Feature berücksichtigt diese Tatsache und berechnet einen Wert, der die Distanz zur nächsten ÖV-Station sowie die aktuelle Geschwindigkeit berücksichtigt. Eine geringe Distanz zur Station in Kombination mit einer geringen Geschwindigkeit deutet auf einen Aufenthalt an diesem Bahnhof hin. Der Feature-Wert berücksichtigt einerseits die Nähe zum Bahnhof, andererseits auch die Anzahl der Bahnhöfe, die diese Trajektorie durchfährt. Je geringer die Nähe und je höher die Anzahl der Bahnhöfe, desto höher ist der Feature-Wert.
3.1.2 Feature: Übereinstimmung mit Fahrplan
Die Implementierung dieses Features ist ein wesentlicher Bestandteil der Verkehrsmittelerkennung. Es baut auf die bereits implementierte Segmentierung der Trajektorien auf. Da eine Trajektorie über den Zeitraum eines Tages gebildet wird und nur kurze Teile davon reisend (IV oder ÖV) zurückgelegt werden, ist es notwendig die Trajektorien in einzelne Segmente zu unterteilen, wobei zwischen „stationär“ und „bewegend“ unterschieden wird. Die Berechnung der Überlappung wird nur für bewegende Segmente durchgeführt.
Dieses Feature geht von der Annahme aus, dass sich ÖV-Nutzer in Übereinstimmung mit dem ÖV-Fahrplan bewegen und sich diese Tatsache in den Mobilfunktrajektorien widerspiegelt. Zuerst werden die durchfahrenen Bahnhöfe extrahiert und der Zeitstempel der Durchfahrt gespeichert. Danach wird diejenige Zugverbindung bestimmt, die die beste Übereinstimmung mit den einzelnen Zeitstempeln hat. Der Feature-Wert ergibt sich aus der aufsummierten Abweichung zwischen Fahrplan und der Zeitstempel der Durchfahrt, wobei ein hoher Wert (nahe 1.0) auf eine geringe Abweichung hindeutet.
Abbildung 2: Überlappung zwischen Zugverbindung und Mobilfunktrajektorie
In Abbildung 2 ist beispielhaft die Überlappung zwischen einer Zugverbindung und einer Mobilfunktrajektorie dargestellt. Die Segmentierung teilte die Trajektorie in mehrere Segmente, wobei ein „bewegendes“ Segment von Zeitpunkt t0 bis t5 erkannt wurde. Der Algorithmus überprüft nun als erstes, welche Haltestellen dieses Segment schneidet, in diesem Fall H2, H3, H4 und H5, und zwar zum Zeitpunkt t1, t2, t3 und t4. Im nächsten Schritt wird nun im Fahrplan nach der am besten übereinstimmenden Verbindung gesucht, für welche die Bedingung erfüllt ist, dass ein Aufenthalt an der jeweiligen Haltestelle zum jeweiligen Zeitpunkt stattgefunden hat. Mit „am besten übereinstimmend“ ist diejenige Verbindung gemeint, die den größten Teil der verbundenen Haltestellen abdeckt. In unserem Beispiel (siehe Abbildung 2) ist das eine Verbindung, die von H2 bis inkl. H4 reicht. Ist keine solche Verbindung verfügbar, könnte auch eine Verbindung von H3 bis H4 ein potentieller Kandidat sein, allerdings mit einer niedrigeren Überlappung.
Der Score des Features ergibt sich nun aus folgender Formel:
Formel (1) siehe PDF.
Der Score erfüllt nun folgende Eigenschaften:
• Der Score ist 1.0 bei einer perfekten Überlappung, sprich das Segment beginnt und endet an einem Bahnhof und korreliert mit dem Fahrplan einer Verbindung.
• Der Score ist nahe 1.0, wenn sowohl
o die geschnittenen Haltestellen eine hohe Korrelation mit dem Fahrplan einer Verbindung aufweisen (H ~ U), und
o die Länge des bewegenden Segments in etwa gleich groß ist wie die Distanz zwischen der ersten und der letzten geschnittenen Haltestelle (T ~ H)
• Der Score ist nahe 0.0, wenn entweder
o eine hohe Anzahl an geschnittenen Haltestellen, aber wenig Überlappung mit dem Fahrplan gibt (H >> U)
o die Länge des bewegenden Segments viel größer ist als die Distanz der sich überlappenden Haltestellen (T ~ H)
• Der Score ist 0.0, wenn keine Haltestellen geschnitten werden (H=0), oder es nur an einer einzigen Haltestelle eine Überlappung mit dem Fahrplan gibt (U=0)
In dem beschriebenen Beispiel ergibt sich nun folgender Score: H = 4, U = 3, T = 35km, H = 26km
Score = 1/4*3 * 1/35*26 = 0.75 * 0.74 = 0.55, was auf eine gute (aber nicht sehr gute) Überlappung hindeuten würde.
3.1.3 Feature: Distanz zur wahrscheinlichsten mIV- und schienengebundenen ÖV-Strecke
Die Mobilfunktrajektorie wird zuerst sowohl auf das darunterliegende Straßennetz, als auch auf das Schienennetz projiziert. Dieses als Map-Matching bekannte Verfahren kann als Optimierungsproblem formuliert werden: Gegeben ist eine Liste von Beobachtung (Mobilfunkevents), finde den optimalen Pfad auf einem Graphen unter den Nebenbedingungen, dass (i) der Pfad sämtliche Beobachtungen tangiert und (ii) die Kosten (z.B. Zeit) minimiert werden. Dieses Verfahren gibt für beide Netze einen optimalen Pfad zurück. Nun wird die Mobilfunktrajektorie mit den beiden projizierten Trajektorien verglichen, indem die durchschnittliche Distanz zwischen der mobilfunkbasierten- und der berechneten Trajektorie aufsummiert wird. Der Feature-Wert ergibt sich aus dem Verhältnis der beiden Distanzen, wobei ein Werte nahe 1.0 auf ÖV und ein Wert nahe 0.0 auf IV hindeuten.
3.1.4 Feature: Reisegeschwindigkeit
Ein anderes Merkmal zur Unterscheidung ist die Reisegeschwindigkeit. Unter der Annahme, dass mIV und ÖV unterschiedliche Geschwindigkeitsprofile aufweisen, wird die berechnete Geschwindigkeit der Mobilfunktrajektorie mit der streckentypischen Geschwindigkeit des mIV bzw. ÖV verglichen und daraus ein Feature-Wert berechnet.
Die extrahierten Feature-Werte dienen als Eingabeparameter des Klassifikators. Der Klassifikator ist ein manuell erstellter Decision Tree, der die verschiedenen Werte unterschiedlich gewichtet und daraus ein Klassifikationsergebnis (ÖV oder mIV) ableitet, siehe Abbildung 3.
Abbildung 3: Decision Tree für Verkehrsmittelerkennung
Grundsätzlich kann der Decision Tree als eine Liste von verschachtelten „Wenn-Dann“-Regeln verstanden werden. So könnte z.B. ein Decision Tree, der die beiden Features „Aufenthaltsdauer am Bahnhof“ und „Übereinstimmung mit Fahrplan“ berücksichtig, wie folgt formuliert werden: „Wenn hohe Aufenthaltsdauer am Bahnhof“ und „starke Übereinstimmung mit Fahrplan“, dann „ÖV verwendet“, sonst „IV verwendet“.
Für den in dieser Arbeit verwendeten Decision Tree wurden die Features manuell nach Diskriminität gewichtet. Als stärkstes Feature wurde die Übereinstimmung mit dem Fahrplan ausgewählt, unter der Annahme, dass eine Überlappung mit dem Fahrplan (idente Abfahrts-, und Ankunftszeit bei mehreren Stationen) sehr stark auf eine ÖV-Nutzung hinweisen. Als zweitstärkstes Feature wurde das Aufenthaltsverhalten am Bahnhof gewählt, da dies das typische Reiseverhalten abbildet. Das Feature „Distanz zur IV bzw. ÖV-Strecke“ wurde weniger stark gewichtet, da Straße und Schiene speziell im Alpenraum häufig parallel zueinander verlaufen, und der Abstand zwischen diesen Strecken mit Mobilfunkdaten aufgrund deren räumlicher Ungenauigkeit nur schwer bestimmbar ist. Das Feature „Reisegeschwindigkeit“ wurde nach detaillierter Anwendung und Analyse nicht in den Decision Tree integriert. Die Geschwindigkeitsberechnung für Mobilfunktrajektorien ist aufgrund der mangelnden räumlichen Genauigkeit nicht so robust wie für GPS-Trajektorien. Auch sind die Geschwindigkeitsprofile (=Geschwindigkeitsverteilung) für Bahn- und Straßenverkehr teilweise überlappend, daher ist die Zuordnung einer einzelnen Trajektorie zu einem Profil statisch nicht signifikant und daher nicht zielführend.
Nach der Gewichtung der einzelnen Features wurde ein Decision Tree implementiert, der diese Gewichtung mittels eines Top-Down-Ansatzes berücksichtigt. zeigt den aufgespannten Baum. Die Grenzen für Ja/Nein-Entscheidungen für die einzelnen Featurewerte wurden manuell festgelegt.
Der Klassifikator lässt sich bei Vorhandensein von Trainingsdaten auch durch einen überwachten Klassifikator (z.B. SVM) ersetzen. In dieser Arbeit wurde aber aufgrund des Fehlens von Trainingsdaten auf einen unbewachten Klassifikator zurückgegriffen.
Die Ergebnisse der verkehrsmittelspezifischen QZ-Matrizen werden anschließend mit regional gewichteten Hochrechnungsfaktoren extrapoliert. Die Hochrechnungsfaktoren basierend auf einem multikriteriellen Ansatz, welcher u.a. Zähldaten aus dem IV, ÖV und Fußgängerverkehr, ebenso wie regional untergliederte Marktanteilsdaten der Mobilfunkanbieters und Strukturdaten enthält. Der Grundsatzmethodik liegt ein gewichteter Hochrechnungsfaktor pro IMSI zugrunde, welcher über der Tagesverlauf als individueller Faktor in die aggregierten Analyseergebnisse einfließt.
4 Statistische Vergleichsanalyse von Mobilfunk- und Verkehrsmodell
Im österreichischen Forschungsprojekt „NawiMOP – Nachfrage wissen, Mobilität planen“ wurden im Projektteam der TU Graz, der KnowCenter GmbH und der ITS Vienna Region die Ergebnisse von mobilfunk- und verkehrsmodellbasierten Nachfragematrizen mittels statistischen Korrelationsanalysen untersucht und validiert. ITS Vienna Region ist das Kompetenz-Zentrum für Intelligent Transport Systems (ITS) der drei österreichischen Bundesländer Wien, Niederösterreich und Burgenland und ist eine Abteilung der Verkehrsverbund Ost-Region (VOR) GmbH. Sie betreibt u.a. das Routingservice AnachB, welches Nachfragematrizen als Grundlage für ihr Online-Verkehrsmodell verwendet.
Im Projekt NawiMOP wurde u.a. die Nachfrageschätzung mit kontinuierlich eingehenden Mobilfunkdaten um eine neue, nicht modellbezogene, Datenquelle ergänzt.
Im Bereich der Mobilfunkmodellergebnisse wurde eine neue mIV- und Schiene-ÖV-Matrix auf Basis der Mobilfunkdaten generiert, welche mit der mIV-Matrix des Verkehrsmodells der ITS Vienna Region statistisch (Korrelationsanalyse und Chi-Quadrat-Unabhängigkeitstest) validiert wurde. Siehe dazu nachfolgende systematische Abbildung 4.
Abbildung 4: Statistische Analyse von Mobilfunkmodell und Verkehrsmodell
Dazu wurde für das gesamte VOR-Gebiet eine neue Verkehrsmodell-Oberbezirkseinteilung, basierend auf Parametern der Verkehrs- und Mobilfunkplanung, erstellt. Basierend auf der neuen Oberbezirkseinteilung wurden dann Mobilfunkmatrizen berechnet und mit dem Verkehrsmodell verglichen. Nachfolgend wurde die Mobilfunkmatrix auf die Verkehrsbezirkseinteilung des Verkehrsmodells disaggregiert und in die Testanwendung AnachB.at implementiert und umgelegt. Die Ergebnisse zeigen statistisch hoch signifikante Zusammenhänge zwischen den beiden untersuchten Modelltypen.
Abbildung 5 zeigt exemplarisch eine Spinnenmatrix für den Vergleich der Ergebnisse aus dem mIV-Verkehrsmodell und dem ImV-Mobilfunkmodell für das Gebiet (Verkehrsbezirk) Scheibbs in Niederösterreich.
Abbildung 4: Spinnenmatrix für den Verglich der Ergebnisse aus den IV-Verkehrsmodell und dem IV-Mobilfunkmodell für das Gebiet (Verkehrsbezirk) Scheibbs in Niederösterreich.
Die Schiene-ÖV-Ergebnisse wurden mit empirisch erhoben Zähldaten der Verkehrsbetriebe verglichen. Der Vergleich der extrapolierten Mobilfunkzähldaten und der ÖV- Reisendenzähldaten liegt in einem Abweichungsbereich von Plus/Minus 5% bis 10% vom Sollwert.
5 Zusammenfassung und Ausblick
Im gesamten Kontext zeigt das Projekt NawiMOP den großen Mehrwert der Nutzung von Floating Phone Daten im Verkehrswesen. Die große empirische Datenquelle Mobilfunktrajektorien und deren immerwährende zeitliche und räumliche Verfügbarkeit (auch in ländlichen Gebieten) sind im Bereich der Quelle-Ziel-Analysen ein sehr guter Mehrwert um die Kalibration des traditionellen Verkehrsmodells auf einen neue, höhere Qualitätsstufe zu heben.
Speziell die immer vorhandene zeitliche Verfügbarkeit ermöglicht Langzeitvergleichsanalysen (nicht nur ein typischer Werktag sondern saisonal bedingte Aussagen), welche mit den aktuell zur Verfügung stehenden Daten (Befragungsdaten) nicht möglich sind.
Ebenso ermöglich das Erkennen des Verkehrsmittels, speziell im Bereich des Schienen-ÖV, eine neue Dimension der Fahrgastzählungen und Fahrgastromanalysen.
Voraussetzung für die Verwendung von Mobilfunkdaten in jeglicher Anwendung ist eine relativ konstante Qualität und Quantität der Rohdaten aus dem Mobilfunknetz. Eine stark schwankende und nicht nachvollziehbare Anzahl der anonymisierten IMSIs (International Mobile Subscriber Identity) führt zu Schwankungsbreiten bei den Extrapolationsberechnungen und wirkt sich somit auf das hochgerechnete Gesamtergebnis aus.
Die Verkehrsmittelerkennung aus mobilfunkbasierten Trajektorien funktioniert für den mIV und den schienengebunden ÖV sehr gut. Fußgängerverkehre lassen sich in abgegrenzten Gebieten, wo es keinen Mischverkehr gibt, mit dieser Datengrundlage auch sehr gut detektieren und weiterverarbeiten. Radverkehr und Busverkehr stellen im urbanen Gebiet in größeres Problem dar und sind noch Stand von weiteren Forschungsarbeiten.
6 Literatur
[1] Schnabel, W., Lohse, D. (2011) Grundlagen der Straßenverkehrstechnik und der Verkehrsplanung. Band 1 Verkehrstechnik, 3. Auflage, Beuth-Verlag, Berlin, 2011
[2] Bera, S., Rao, K. V. K. (2011) Estimation of Origin-Destination Matrix from Traffic Counts: The State of the Art. European Transport / Trasporti Europei. 49, 2—23, 2011
[3] Caceres, N., Wideberg, J. P., Benitez, F. G. (2008) Review of Traffic Data Estimations Extracted from Cellular Networks. IET Intelligent Transport Systems. 2(3), 179—192, 2008
[4] Aguiléra V., Allio S., Benezech V., Combes F., Milion C. (2013) Using cell phone data to measure quality of service and passenger flows in Paris transit system, Transportation Research Part C, November 2013
[5] Alexander L., Jiang S., Murga M., González M.C. (2015) Origin-destination trips by purpose and time of day inferred from mobile phone data, Transportation Research Part C, March 2015
[6] Caceres N., Wideberg, J.P., Benitez, F.G. (2007) Deriving origin destination data from a mobile phone network. Intell. Transp. Syst., IET 1 (1), 15–26, 2007
[7] Cik M., Fellendorf M., Vogel J. (2014) Mobilfunkbewegungsdaten als Erweiterung der Datengrundlage für Verkehrsmodelle, HEUREKA Stuttgart, 2014
[8] Schulze, G., Horn, C., Kern, R. (2015) Map-Matching Cell Phone Trajectories of Low Spatial and Temporal Accuracy. In: IEEE 18th International Conference on Intelligent Transportation Systems, pp. 2707--2714. IEEE Press, New York 2015 |