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Straßenraumentwurf mit ÖV bei Flächenknappheit
Die verschiedenen verkehrlichen und nicht-verkehrlichen Anforderungen an den Stadtraum treffen in schmalen Stadtstraßen in besonderem Maße aufeinander, denn bei Flächenknappheit ergeben sich im Allgemeinen deutliche Nutzungskonkurrenzen. Optimal-Lösungen für jede Nutzergruppe lassen sich dabei nicht mehr realisieren. Neben den Anforderungen der Fahrbahnen für den Individualverkehr (Kfz-Rad) sind insbesondere auch die Ansprüche des ÖV, des Fußverkehrs, die Andienung bzw. Ver- und Entsorgung, sowie auch soziale Nutzungen (Austausch, Kommunikation, Geschäfte, Gastronomie etc.) zu berücksichtigen. Bei verkehrlich dominiertem Entwurf werden diese Aspekte oft nicht ausreichend berücksichtigt, was zu dysfunktionalen Transporträumen mit geringer Aufenthaltsqualität führt.
Damit der Ausgleich verschiedener Interessen gelingt, sehen die einschlägigen Richtlinien und Empfehlungen für den integrierten Straßenraumentwurf „Richtlinien für die Anlagen von Stadtstraßen“ (RASt) von 2006 und „Empfehlungen zur Straßenraumgestaltung innerhalb bebauter Gebiete“ (ESG) von 2011, die Methode der „städtebaulichen Bemessung“ zur Abwägung vor. Damit sollen verkehrliche und nicht-verkehrliche Aspekte wesensgerecht ermittelt und abgewogen werden. Ein Vorrang einzelner Nutzungen wird beim integrierten Straßenraumentwurf und der städtebaulichen Bemessung nicht erhoben. Es sollen vorrangig die vermeintlich „schwachen“ bzw. nicht-verkehrlichen Anforderungen an Stadträume angemessen berücksichtigt werden, da diese eine unabdingbare Voraussetzung für Urbanität und Aufenthaltsqualität sind.
Die städtebauliche Bemessung ist damit Kern des integrierten Straßenraumentwurfs. Der integrierte Straßenraumentwurf nach der städtebaulichen Bemessung erfordert neben verkehrstechnischen Kompetenzen unbedingt auch eine Sensibilisierung in städtebaulichen Belangen und soll daher nur durch entsprechende interdisziplinär ausgebildete Fachleute vorgenommen werden. Dies ist in der Praxis leider oftmals nicht gegeben, was sich in aus städtebaulicher Sicht nicht immer gelungen, einseitig Verkehrs lastigen Lösungen ausdrückt.
Dabei ist auch aus Sicht des ÖV zu berücksichtigen, dass nicht jeder Stadtraum für eine separierte Führung mit eigenen Fahrbahnen (beispielsweise besonderer Bahnkörper oder „busway“) geeignet ist. Für die Umsetzung des Trennungsprinzip mit einer separierten Führung für den ÖV ergibt sich nach der städtebaulichen Bemessung unter Berücksichtigung aller Nutzungsanforderungen ein Raumbedarf von mehr als 28 m. Bei Einordnung von Bahnsteigen und Abbiegespuren entsprechend mehr. In Zentrumsbereichen mit dichtem Geschäftsbesatz sind zudem zusätzliche Flächen für die Seitenraumnutzungen (Freisitze, Auslagen, Liefern etc.) zu berücksichtigen, so dass sich hier ein Bedarf von über 30 m ergibt. In schmaleren Stadträumen ist demnach vorrangig das Mischprinzip mit straßenbündigem Bahnkörper anzuwenden. Die Berücksichtigung aller Anforderungen und die Anlage von zwei Baumreihen bedingt aber auch hier Raumbreiten von etwa 22 m oder mehr. Dies führt in schmalen Stadträumen jedoch oftmals zu ungünstigen Betriebssituationen für den ÖV.
Bild 1: Prinzipdarstellung der städtebaulichen Bemessung nach RASt 06 bzw. ESG 2011 (Quelle: Stadt Leipzig)
Bild 2: Beispielhafte Darstellung des Flächenbedarfs für Querschnitte mit Mischverkehr bzw. mit Trennungsprinzip mit separierter Führung des ÖV mit besonderem Bahnkörper in Mittellage. Abgeleitet nach der städtebaulichen Bemessung im Sinne der RASt 06 (Anpassung der Abbildungen aus der RASt 06 durch den Autor)
Mischverkehr in schmalen Straßen mit ÖV
Für den ÖV kommt es in schmalen Stadtstraßen mit Mischverkehr aufgrund der Nutzungsüberlagerung zu oftmals erheblichen Konflikten und Behinderungen. Besondere Herausforderungen sind dabei v. a.:
- Überlastung mit Rückstau im Kfz-Verkehr,
- wartende Linksabbieger behindern die Nahverkehrsfahrzeuge,
- Langsamer Fahrradverkehr fährt vor den Nahverkehrsfahrzeugen.
Ein Problem liegt bei Mischverkehr auch in der traditionellen Führung der Straßenbahn in der Mitte der Fahrbahn, denn dies führt insbesondere zu den typischen Konflikten mit Linksabbiegern und oftmals auch einer ungünstigen Fahrspurgestaltung im Knoten mit Behinderungen und entsprechenden Zeitverlusten.
Unter diesen Prämissen ist eine zeitgemäße und attraktive Betriebsabwicklung in schmalen Straßen oftmals nicht möglich. Da derartige Streckenabschnitte meist im Netzkern in den Innenstadtquartieren mit hoher urbaner Nutzungsdichte liegen, ergeben sich starke Auswirkungen auf das Gesamtsystem, eine starke Betroffenheit für die Fahrgäste und damit ein negatives Image des ÖV.
Bild 3: Typischer Eindruck einer Mischverkehrsstrecke. Rückstau im Kfz-Verkehr führt zu Behinderungen für den ÖV mit der Folge eines Attraktivitätsverlustes
Da die Anlage einer separierten Führung mit einem besonderen Bahnkörper oder Busspuren in schmalen Stadträumen oftmals nicht möglich ist und neue Stadtbahntunnel nicht immer erstrebenswert oder finanzierbar sind, soll im Beitrag aufgezeigt werden, wie die auftretenden typischen Herausforderungen alternativ angegangen werden können. Mittlerweile liegen diesbezüglich in vielen Städten positive Beispiele und Erfahrungen vor, die eine Übertragung nahelegen.
Kern der Betrachtung ist dabei einerseits eine adäquate Betriebsführung für den ÖV beim Straßenraumentwurf im Mischverkehr, aber auch eine Ausdehnung des Einsatzspektrums einer separierten Führung des ÖV in schmalen Straßen. Neben der eigentlichen Beschleunigung ist insbesondere eine Reduzierung der Fahrzeitstreuung durch Abbau von Störungen anzustreben.
Qualifizierter Mischverkehr in schmalen Straßen
Zentraler Ansatz eines städtebaulich integrierten Ansatzes für straßenbündige Strecken in schmalen Stadträumen, in denen sich eine räumliche Separierung des ÖV von den anderen Verkehrsteilnehmern mit eigenen Fahrspuren nicht erreichen lässt, ist ein „qualifizierter Mischverkehr“ mit einer wesensgerechten Berücksichtigung des ÖV in der Straßenraumeinteilung und beim Betriebskonzept der Straße.
Die „dynamische Straßenraumfreigabe“ kann hier anstelle der räumlichen Separierung mit einem besonderen Bahnkörper eine „zeitliche Trennung“ der Verkehrsarten auf der Mischfahrbahn ermöglichen, indem durch eine „intelligente“ LSA-Steuerung eine „Zeitlücke“ für die Straßenbahn geschaffen wird und die Straßenbahn als Pulkführer in einen straßenbündigen Abschnitt einfahren kann. Dabei ist v. a. ein Abfließen des vorauslaufenden Kfz-Verkehrs im folgenden Streckenabschnitt sicherzustellen. Dies setzen ein stringentes Verkehrsmanagement und eine konsequente Verkehrsmengenbegrenzung im Straßennetz voraus.
Einzelmaßnahmen sind dabei das rechtzeitige Räumen von Kreuzungen, die Beschränkung von Linksabbiegern oder deren Anordnung zwischen den Gleisen, die Vermeidung von häufigen Umschlägen in den Parkstreifen am Fahrbahnrand sowie die Anlage von separierten Radverkehrsanlagen. Auch Querungsinseln zwischen den Gleisen anstelle von LSA-gesteuerten Furten über beide Fahrbahnen können positive Auswirkungen haben. Diese Bausteine sollten jeweils beim Straßenraumentwurf situationsspezifisch miteinander kombiniert werden.
In der Praxis ergeben sich gute Ergebnisse bei zwei Fahrspuren im Allgemeinen bei einer Belastung von 10. 15.000 Kfz/24h, wobei auch Beispiele mit etwa 20.000 Kfz/24h oder mehr bestehen. Auf vier Fahrspuren liegen die entsprechenden Werte bei ca. 20. 25.000 Kfz/24h bzw. bis etwa 35.000 Kfz/24h. Dabei werden jeweils hohe Reisegeschwindigkeiten von über 20 km/h erzielt. Natürlich sind diese Werte in hohem Maße abhängig von der Taktdichte der Straßenbahn, der Knotenfolgen, den Querungen und der Haltestellenlage etc. Eine verkehrstechnische Untersuchung ist in jedem Fall erforderlich.
Da die Wirksamkeit der dynamischen Straßenraumfreigabe immer wieder pauschal angezweifelt wird, sollen hier einige Beispiele angeführt werden.
Eines der ersten Projekte dieser Art, welches auch umfangreich untersucht und dokumentiert wurde, stellt vor etwa 20 Jahren die Umgestaltung der Seftigenstraße in Wabern bei Bern in der Schweiz dar. Bei einer Belastung mit etwa 21.000 Kfz pro Tag und 8 Tramkursen je Stunde und Richtung ergab sich durch die dynamische Straßenraumfreigabe eine Verstetigung des Verkehrsflusses mit weniger Stau sowie eine geringere Durchschnittsgeschwindigkeit im Kfz-Verkehr. Für das Tram ergibt sich in der Auswertung jedoch eine unveränderte Reisezeit. Der Wegfall der separierten Führung des ÖV hat sich hier also nicht negativ ausgewirkt. Aus städtebaulicher Sicht ergibt sich ein deutlicher Gewinn in Form breiterer Seitenbereiche.
Ein weiteres und in seiner Wirksamkeit besonders herausragendes Beispiel stellt die Leipziger Straße in Dresden dar. Hier verkehren 27.000 Kfz pro Tag sowie 12 Trams pro Stunde und Richtung. Durch den Umbau des Straßenzuges ergab sich auf zwei Kilometer Strecke ein Fahrzeitgewinn von bis zu 7 Minuten und eine Steigerung der Reisegeschwindigkeit von 17 auf 25 km/h.
Auch bei der verkehrstechnischen Untersuchung einer vom Autor ausgearbeiteten Lösung ergab sich bei 23.000 Kfz pro Tag sowie 18 Trams pro Stunde und Richtung eine erstaunlich hohe Reisegeschwindigkeit von etwa 24 km/h.
Ein weiteres interessantes Beispiel ist die Detmolder Straße in Bielefeld. Hier wurde die dynamische Straßenraumfreigabe in einer vierspurigen Straße mit einer Belastung von etwa 35.000 Kfz pro Tag eingerichtet. Auch hier ist die Reisegeschwindigkeit der Straßenbahn mit 21 km/h relativ hoch.
Diese Einzelbeispiele können die Wirksamkeit derartiger Maßnahmenbündel auch bei sehr hoher Verkehrsbelastung belegen. Bei Überschreiten der Einsatzparameter oder inkonsequenter Umsetzung der flankierenden Maßnahmen sind diesem Lösungsansatz für Mischverkehr jedoch naturgemäß Grenzen gesetzt.
Bild 4: Herstellung der Pulkführung durch Stauraumumfahrung bei Einfahrt in einen „leer gelaufenen“ Abschnitt in Leipzig (Lützner Straße)
Bild 5: Wesensgerechte Einteilung des Straßenraums durch Anordnung eines Linksabbiegers zwischen den Gleisen in Verbindung mit Querungsinseln im Schatten der Abbiegespur. Die Linksabbieger zwischen den Gleisen reduzieren Behinderungen des Verkehrsflusses
Bild 6: Beispiel Bielefeld Detmolder Straße für eine dynamische Straßenraumfreigabe in einer vierspurigen Lösung mit Linksabbieger zwischen dem Gleis
Querschnitte mit Mittelstreifen bei Mischverkehr
Querschnitte mit Mittelstreifen zwischen den Gleisen stellen insbesondere für Geschäftsbereiche mit starken Beziehungen zwischen den Straßenseiten und hohem Querungsbedarf ein sinnvolles Entwurfselement dar.
Der Mittelstreifen ermöglicht eine gute Querbarkeit und reduziert die Trennwirkung der Fahrbahn auch bei höheren Verkehrsbelastungen. Es ergibt sich durch die Mittelinsel eine „informelle lineare Querungshilfe“ und damit auch ein erheblicher Sicherheitsgewinn außerhalb formaler Querungsstellen. Im Zuge des Mittelstreifens können zudem Linksabbieger zwischen den Gleisen im Sinne der dynamischen Straßenraumfreigabe angeordnet werden.
Durch den Mittelstreifen entsteht jedoch ein zusätzlicher Platzbedarf, was eine Abwägung der Nutzungsansprüche des Seitenraums und der Querbarkeit bzw. Verkehrsabwicklung erforderlich macht.
Jüngere Beispiele für dieses Prinzip sind die Friedrich-Ebert-Straße in Kassel und die Bahnhofstraße in Cottbus. In beiden Fällen wurde auf einen besonderen Bahnkörper zugunsten eines integrierten Straßenraumentwurfs verzichtet.
Bild 7: Querschnitt mit Mittelstreifen anstelle eines besonderen Bahnkörpers in einer Geschäftsstraße in Kassel. Die Friedrich-Ebert-Straße wurde damit zur „Flaniermeile“ im Stadtquartier. Der Verkehr wird dabei nach der dynamischen Straßenraumfreigabe organisiert
Aktuelle Herausforderungen für den Straßenraumentwurf
In den letzten Jahren haben sich für den Straßenraumentwurf mit ÖV in schmalen Straßen zusätzliche Herausforderungen ergeben. Einerseits ist dies der zunehmende Flächenbedarf verkehrlicher Nutzungen, aber auch eine niedrigere Regel-Geschwindigkeit (Tempo 30). Zum steigenden Platzbedarf zählen beispielsweise breiter Parkstände für die größer werdenden Fahrzeuge (SUV, Wohnmobile). Insbesondere macht sich auch die zunehmende Förderung des Radverkehrs im Rahmen der „Verkehrswende“ bemerkbar. Radfahrstreifen werden zunehmend mit Breiten größer zwei Meter angelegt, statt mit den Regelmaßen von 1,85 m (oder 1,60 m). Bei Premiumrouten oder Schnellverbindungen werden auch Breiten von drei Metern oder mehr realisiert. Hingegen werden Schutzstreifen für den Radverkehr wegen des beim Überholen bzw. Vorbeifahren geforderten Seitenabstands von 1,50 m v. a. neben Straßenbahnen kaum mehr angewendet. Daraus ergibt sich eine Verbreiterung der Regelprofile der RASt 06 um etwa 1 bis 2 m – allerdings bei gleichbleibendem Stadträumen. Die Folge davon sind zunehmende Konflikte für den integrierten Straßenraumentwurf beispielsweise mit der baulichen Separierung des ÖV in breiteren Straßen oder mit Baumreihen, Andienung, Auslagen und Freisitzen in schmalen Stadträumen.
Für den ÖV ist aber auch die Einführung von Tempo 30 eine besondere Herausforderung, die auch Auswirkungen auf den Straßenraumentwurf haben kann.
Herausforderung Tempo 30
Für den öffentlichen Verkehr stellen die Diskussionen um Tempo 30 einen ernst zu nehmenden Anlass zur Sorge dar. Durch das Kappen der Geschwindigkeitskurve zwischen den Haltestellen ergibt sich auf den Linien des ÖV in der Addition ein nicht unerheblicher Zeitverlust. Zwar weisen viele Straßenbahnlinien und insbesondere Buslinien noch Beschleunigungspotenziale auf, aber ob diese den Zeitverlust durch Tempo 30 komplett kompensieren können, muss offenbleiben.
Die VBZ in Zürich haben die möglichen jährlichen Mehrkosten im Jahr mit ca. 20 Mio. Franken beziffert, wobei sich auch ein einmaliger Kostenbedarf von über 50 Mio. Franken für die Anschaffung zusätzlicher Fahrzeuge ergibt. Es ist abzuwarten, wie mit diesem Problem umgegangen wird.
Bei Lösungen mit „qualifiziertem Mischverkehr“ ist jedenfalls eine Absenkung der erzielbaren Reisegeschwindigkeiten zu erwarten. Damit dürfte insbesondere bei den Verkehrsunternehmen die Zustimmung zu derartigen Lösungen sinken. Aber auch bei Fördermittelgebern dürfte die Akzeptanz des „qualifiziertem Mischverkehrs“ als „Beschleunigungsmaßnahme“ nicht steigen.
Es ergibt sich damit die Situation, dass mit dem „qualifizierten Mischverkehr“ einerseits eine „stadtverträgliches Entwurfselement“ vorliegt, um den ÖV auch in Situationen mit schmalen Straßen und Flächenknappheit auch ohne separierte Führung zu beschleunigen bzw. die Pünktlichkeit zu erhöhen, aber andererseits kann diese Lösung durch die Bestrebungen zu Tempo 30 in ihrer Wirksamkeit und Akzeptanz eingeschränkt werden. Es besteht damit die Gefahr, dass die Einführung von Tempo 30 die Erfolge der dynamischen Straßenraumfreigabe zunichtemacht.
Damit lässt sich annehmen, dass perspektivisch die Bedeutung einer separierten Führung des ÖV wieder ansteigt, um eine höhere Geschwindigkeit als im umgebenden Kfz-Verkehr zu erzielen. Dies hat auch Auswirkungen auf den Straßenraumentwurf mit ÖV. In schmalen Straßen mit Flächenknappheit und Nutzungskonkurrenzen sollte bei Tempo 30 der separierte Fahrweg des ÖV mit besonderem Gewicht in die Abwägung der städtebaulichen Bemessung eingestellt werden.
Über eine für den ÖV besser akzeptable Geschwindigkeit von 40 km/h auf Hauptstraßen, in Verbindung mit Tempo 20 in Wohngebieten, wird aktuell leider nicht einmal diskutiert.
Herausforderung Radverkehr
Neben Tempo 30 ist auch ein weiterer Aspekt der Verkehrswende für den Straßenraumentwurf mit dem ÖV eine Herausforderung: die Art- und Weise der Radverkehrsförderung. Denn bei schmalen Straßen mit etwa 20 m Breite oder weniger ist die Einfügung von Radverkehrsanlagen nicht ohne weiteres möglich. Werden beispielsweise Parkstände am Fahrbahnrand durch eine Radverkehrsführung ersetzt, entsteht zwar eine Verkehrsanlage mit Separierung des Radverkehrs, aber auch ein in ästhetischer und funktionaler Bewertung stark defizitärer Stadtraum.
In vielen Fällen lassen sich bei derartigen Lösungen nicht ausreichend breite Seitenräume mit Behinderungen für den Fußverkehr beobachten, was vor allem die Qualität auf der „letzten Meile des ÖV“ einschränkt. Eine zwar viel zu oft vernachlässigte, aber sehr wichtige Erfolgsbedingung für Straßenbahn und Bus. Zudem bestehen bei derartigen „autistischen“ Querschnitten keine Liefermöglichkeiten für Andienung bzw. Ver- und Entsorgung mehr und es fehlen gerade in Bezug auf den Klimawandel wichtige Baumreihen in den Straßen (Verschattung, Verdunstung, Wohnumfeldqualität). Es wird zudem deutlich, dass sich damit keine Verbesserung der Aufenthaltsqualität und des Raumeindrucks ergibt. All dies kann nicht im Sinne eines integrierten Straßenraumentwurf nach der städtebaulichen Bemessung sein.
Bild 8: Eine typische Situation in einer schmalen Stadtstraße unter 20 m Breite geprägt von Mischverkehr und parkenden Autos am Fahrbahnrand. Wichtigstes städtebauliches Ziel ist hier die Einordnung von Baumreihen zur Verbesserung der Aufenthaltsqualität und Raumwirkung sowie des Stadtklimas
Bild 9: Werden die parkenden Fahrzeuge wie im Beispiel durch eine Radverkehrsanlage ersetzt, ist dies für die Funktionalität und Ästhetik des Stadtraums nicht wirklich positiv zu bewerten. Es entsteht eine quasi vierspurige Fahrbahn mit erheblichen städtebaulichen Defiziten. Andienung, Ver- und Entsorgung, Auslagen und Freisitze etc. sind nicht mehr angemessen möglich und auch die für das Stadtklima wichtigen Baumreihen fehlen
Bild 10: Asymmetrische Lösungen mit einseitiger Baumreihe bzw. Parkierung können ebenfalls nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fahrbahn verbreitert wurde und der fließende Verkehr sich mehr Raum genommen hat. Es entsteht ein verkehrslastiger Eindruck. Aus städtebaulicher Sicht kein wirklicher Kompromiss
Vor diesem Hintergrund wäre auch zu diskutieren, ob das Überholen von Radfahrenden untereinander innerhalb eines Radfahrstreifens in schmalen Stadträumen eine unverhandelbare Lösung ist. Und ob eine Mischspur für Radverkehr und Busse, wie sie aktuell in zahlreichen Städten als politischer Kompromiss praktiziert wird, wirklich ein erfolgreicher Ansatz ist, wäre noch genauer in seinen Wirkungen zu untersuchen („bergauf bremst der Radverkehr – bergab der E-Roller...“).
Bauliche Separierung des ÖV in schmalen Straßen
Wenn bei Straßenzügen mit Flächenknappheit der Ansatz „qualifizierter Mischverkehr“ mit der dynamischen Straßenraumfreigabe keine Option darstellt, eine hohe Reisegeschwindigkeit auch bei Tempo 30 sichergestellt werden soll oder wie in Frankreich der Vorrang des ÖV konsequent baulich umgesetzt werden soll, so sind besondere Lösungen für die räumliche Trennung und separierte Führung des ÖV erforderlich. An dieser Stelle sollen daher Beispiele für derartige Entwurfselemente für schmale Stadträume als Anregung für die Planungspraxis gezeigt werden.
Besonderer Bahnkörper in Kombination mit Mischverkehr Rad/Kfz
Ein Lösungsansatz liegt in der Kombination von Rad- und Kfz-Verkehr neben einem besonderen Bahnkörper. V. a. bei Tempo 30 scheint dieser Ansatz vielversprechend und spart erhebliche Flächen. Dies legt allerdings in manchen Fällen eine gewisse verkehrliche Entflechtung nahe (bspw. Verlagerung des Durchgangsverkehrs). Querschnittslösungen mit besonderem Bahnkörper lassen sich dabei nach städtebaulicher Bemessung auch bei Raumbreiten zwischen 20 und 25 m realisieren.
Ein interessantes Beispiel dieses Ansatzes gibt es in Göteborg mit einer asphaltierten Radfahrspur in einer gepflasterten Kfz-Fahrbahn mit eingelassenem Asphaltband für den Radverkehr. In Freiburg (Breisgau) wurde eine Fahrradstraße neben einem Rasengleis im Rahmen des Projekts Rotteckring eingerichtet, während in der Basler Straße bei geringer Verkehrsbelastung im Kfz-Verkehr eine „sanfte Separierung“ mit Mischverkehr für Rad- und Kfz-Verkehr realisiert wurde. Zwar kann in diesem Fall nicht mit der vollen Streckengeschwindigkeit durchgefahren werden, aber verkehrliche Konflikte werden von den Gleisen orientiert.
Vor dem Hintergrund der Verkehrswende ließen sich derartige Ansätze gut als „Umweltachse“ vermarkten.
Bild 11: Querschnitt im Stadtzentrum von Göteborg mit besonderem Bahnkörper und einer Anliegerfahrbahn mit asphaltierter Fahrradspur. Die Fahrbahnen für den IV sind zugunsten breiter Seitenräume minimiert, die Straßenbahn und der Bus erhalten dennoch eine separierte Trasse
Bild 12: Ein besonderer Bahnkörper als Rasengleis in Kombination mit einer Fahrradstraße in Freiburg (Breisgau)
Bild 13: Beispiel für eine „sanfte“ Separierung bei Flächenknappheit und geringer verkehrlicher Intensität (Freiburg Basler Straße). Rad- und Kfz-Verkehr fahren bei Tempo 30 im Mischverkehr
Besonderer Bahnkörper in Kombination mit einer Einbahnstraße für den Kfz-Verkehr
Ein weiterer Ansatz in schmalen Straßen kann eine Einbahnstraße neben einem besonderen Bahnkörper sein. Hierbei lässt sich nach städtebaulicher Bemessung ein zweigleisiger besonderer Bahnkörper auch bei Raumbreiten unter 20 m realisieren.
Dieser Ansatz setzt meist eine Herabstufung der Verkehrsbedeutung bzw. eine Herausnahme einer Fahrrichtung voraus. Im Seitenraum abseits der Kfz-Fahrbahn ist dabei in der Regel nur Anliefern zulässig. Immerhin kann damit aber die Erreichbarkeit und Andienung sichergestellt werden oder es wird ein Erhalt bestehender Baumreihen bei gleichzeitiger Integration einer separierten ÖV-Führung möglich.
Derartige Lösungen werden sehr oft bei den neuen Stadtbahnen in Frankreich eingesetzt. In Deutschland ist dieses bisher jedoch eher selten. Eine Anwendung gibt es beispielsweise im Zuge der Leipziger Straße bei der Stadtbahn Gera.
Bild 14: Einbahnstraße neben besonderem Bahnkörper im Stadtzentrum von Dijon. Die Funktion für den Kfz-Verkehr wurde im Rahmen der Neuordnung des Verkehrs im Stadtzentrum auf eine Erschließungsfunktion mit Parkstreifen zurückgenommen. Liefern ist auf der rechten Seite durch Überfahren des Bahnkörpers möglich. Eine häufige Lösung in engen Straßen in Frankreich als Ausdruck der hohen Priorität des hochwertigen ÖV-Systems Stadtbahn
Bild 15: Gera hat in der Leipziger Straße im Zuge des Stadtbahnausbaus eine Einbahnstraße mit reduzierter Verkehrsfunktion neben dem besonderen Bahnkörper realisiert
Einrichtungslösungen für den ÖPNV
Die Führung von zwei eingleisigen Gleisen in benachbarten Straßen kann eine Abmilderung von Flächenkonflikten ermöglichen. Dies ist auch mit kurzen eingleisigen Abschnitten im Begegnungsverkehr mit Signalsicherung denkbar. Damit kann auch die Einrichtung eines besonderen Bahnkörpers in sehr schmalen Straßen beispielsweise von Altstädten oder Dorfbereichen möglich werden.
Ein aktuelles Beispiel einer „geflügelten Zweigleisigkeit“ mit sogenanntem Einbahnstraßenzwilling findet sich bei Paris in der Altstadt von Gennevilliers an der westlichen Verlängerung der Linie T1, wo trotz der ausgeprägten Flächenknappheit ein besonderer Bahnkörper realisiert werden konnte.
Auch für die Anbindung des Bahnhofs in München-Pasing im Rahmen der Verlängerung Tram 19 wurde zur Aufwertung des Pasinger Zentrums eine geflügelte Gleistrasse mittels Blockumfahrung realisiert. Dies ergab mehr Spielraum für eine aufenthaltsorientierte Gestaltung der durchquerten Geschäftsstraßen im Sinne eines integrierten Straßenraumentwurfs.
Bild 16: Paris Verlängerung T1 in der Altstadt von Gennevilliers mit eingleisigem besonderem Bahnkörper. Eine der stadträumlichen Situation angemessene Lösung und Beispiel für eine gelungene städtebauliche Integration des ÖV
Bild 17: In München Pasing wurde zur Anbindung des Bahnhofs an das Straßenbahnnetz zwei eingleise Trassen realisiert, um den Zentrumsbereich Pasing aufzuwerten und genügend Platz für Seitenräume und Geschäftsnutzungen zu erhalten. Die Strecke wird auch von Bussen sowie dem Anliegerverkehr befahren.
Fazit
Zahlreiche Praxis-Beispiele belegen, dass bei schmalen Straßen mit Flächenknappheit auch im Mischverkehr eine hohe Betriebsqualität für den ÖV nach dem Ansatz einer zeitlichen statt der räumlichen Trennung der Verkehrsarten möglich ist. Dabei sind die die Entwurfselemente der dynamischen Straßenraumfreigabe wie lichtsignalgestützte Pulkführung und Linksabbieger zwischen den Gleisen etc. wesensgerecht und situationsspezifisch zu kombinieren. Der Ansatz des qualifizierten Mischverkehrs stellt im Kontext eines städtebaulich integrierten Straßenraumentwurfs eine flächensparende und sinnvolle Lösung dar.
Leider werden durch die Diskussionen um Tempo 30 aktuell sowohl Wirksamkeit als auch Akzeptanz in Frage gestellt. Damit kann sich beim Straßenraumentwurf mit ÖV zukünftig eine Akzentverschiebung ergeben, die auch in schmalen Straßen wieder eine höhere Bedeutung auf die separierte Führung des ÖV legt, um eine hohe Betriebsqualität des ÖV sicherzustellen.
Soll in schmalen Stadträumen eine separierte Führung des ÖV nach der städtebaulichen Bemessung ermöglicht werden, sind „unkonventionelle“ Entwurfselemente wie Einbahnstraßen oder „Umweltachsen“ mit Mischverkehr Kfz/Rad stärker zu berücksichtigen. Dabei sollte auch eine Rückstufung in der Verkehrsbedeutung des IV in Betracht gezogen werden. In dem Zusammenhang muss es zudem möglich werden, in ausgesprochenen ÖV-Hauptachsen auch über die alternative Führung von Kfz- oder Radverkehr im Sinne einer funktionalen Netzbetrachtung nachzudenken. Denn nicht alle verkehrlichen Funktionen können in schmalen Stadträumen gleichzeitig als sogenannte „Premiumelemente“ ausgebildet werden. Daher sind verschiedene Straßenräume, aber auch Parks und Grünanlagen, komplementär zu betrachten, um einen sinnvollen Ausgleich der Interessen der verschiedenen Verkehrsträger in einzelnen Straßen zu erreichen.
Für die städtebaulich kritischen Bereiche in Stadträumen mit Flächenknappheit und Nutzungskonkurrenzen sollte das Entwurfsrepertoire der RAST erweitert werden. Denn gerade die typischen Entwurfssituationen für schmale Straßen mit ÖV scheinen in der RASt aktuell unvollständig und nicht praxisnah.
Es bleibt demnach dem „individuellen“ Entwurf und der städtebaulichen Kompetenz der Planenden vorbehalten (die leider nicht immer gegeben ist), zu guten Lösungen zu kommen. Gerade in derart schwierigen Situationen wäre eine „Hilfestellung“ durch die Richtlinien wichtig und wird in der Praxis immer wieder gesucht.
Leider fehlen wichtige Entwurfselemente für den linearen Entwurf straßenbündiger Abschnitte wie bspw. die Anordnung von Linksabbiegern zwischen den Gleisen oder eine bedürfnisgerechte Knotengestaltung im Sinne des ÖV.
Hilfestellung bei der Planung kann einerseits durch den geführten Entwurf der RASt geschehen (v. a. ausreichende Seitenraumbreiten). Andererseits kann auch eine Beispielsammlung mit „alternativen“ Lösungen und Querschnitten hilfreich sein, um den individuellen Entwurfsprozess entsprechend zu ergänzen.
In jedem Fall sollten die städtebaulichen Belange eines integrierten Straßenraumentwurf in schmalen Straßen mit ÖV in einem viel höheren Maße Berücksichtigung finden. Dies gilt für die Richtlinien wie für die Planungspraxis. |