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1 Einleitung
Heutzutage stehen vielfältige Verkehrssysteme mit hoher Leistungsfähigkeit zur Verfügung. Trotzdem gibt es erhebliche und verschiedenartige Verkehrsprobleme. Wie soll es weitergehen?
1.1 Verkehrstechnologie: Ein ganz kurzer geschichtlicher Abriss
Der Verkehrssektor, zu dem wir neben öffentlichem Nah- und Fernverkehr auf Straße, Schiene, Wasser und in der Luft auch den Individualverkehr und alle Güterverkehre inklusive der Logistik zählen, war in der gesamten Geschichte der Menschheit immer eine echte Schlüsselindustrie. Fortschritte im Verkehrssektor waren in der Regel geprägt durch revolutionäre Erfindungen, die dann die Entwicklung von Wirtschaft und Industrie, aber auch die politischen Verhältnisse maßgeblich beeinflusst haben.
Man kann in der Menschheitsgeschichte weit zurückgehen und die Domestizierung von Tieren als einen enorm wichtigen Schritt im Transportwesen auffassen. Mit gezähmten Pferden konnte man sich schneller bewegen, und der Transport großer Lasten über lange Strecken (und damit der Handel) wurde deutlich verbessert. Die Bestellung von Feldern wurde mit Hilfe von Rindern oder Pferden erheblich vereinfacht. Und die Erfindung des Rades zog eine Erhöhung der Geschwindigkeit des Transports, der Menge der bewegbaren Güter, aber auch der Geschwindigkeit bei der Kommunikation von Nachrichten nach sich. Die Isochronenkarte für Postkutschen aus dem Jahr 1819 in Bild 1 illustriert die große Bedeutung, die tierische Transportmittel noch vor 200 Jahren in Deutschland hatten.
Bild 1: Isochrone Reisezeiten von Postkutschen in Brandenburg.
Ähnliches gilt für die Entwicklung und Weiterentwicklung von Schiffen, mit denen der Transport großer Gütermengen über lange Distanzen mit relativ geringem Energieaufwand möglich wurde. Dadurch entstand ein intensiver Fernhandel. Ohne die Koggen und die Organisation von Fahr- und Transportgemeinschaften hätte es z.B. die Hanse nicht gegeben. Überlegene Transportmittel und deren effizienter Einsatz haben entscheidend zum Aufstieg von Ländern zu Regional- oder Weltmächten beigetragen ("Britannia rules the waves"), und in bedeutenden Schlachten – wie in der Schlacht von Lepanto – waren neue Schiffstypen (bei Lepanto die venezianischen Galeassen) entscheidend und hatten dadurch signifikanten Einfluss auf die Weltgeschichte.
Im 19. Jahrhundert hat die Eisenbahn die Erschließung des Westens der USA und des Ostens Russlands maßgeblich vorangetrieben, in Europa war sie Motor eines enormen wirtschaftlichen Aufschwungs. Ebenso hat die Erfindung des Autos die individuelle Mobilität in unserer Welt massiv verändert. Große Städte können ihren Nahverkehr ohne U-Bahn und/oder S-Bahn nur schwer bewältigen. Die Erfindung des Flugzeugs hat die Reise- und Handelstätigkeit in weltweitem Maßstab nachhaltig auf eine andere Basis gestellt.
1.2 Infrastruktur und Organisation von Verkehr
Mit den technologischen Erfindungen gingen organisatorische Veränderungen und der Aufbau von zugehöriger Infrastruktur einher. Autos ohne Straßen, Züge ohne Schienen, Schiffe ohne Häfen und Flugzeuge ohne Flughäfen sind ohne merkbaren Nutzen. Und Infrastruktur ohne Organisation des Verkehrs durch Verkehrsbetriebe, Eisenbahngesellschaften, Fluglinien etc. hat nur geringe Wirkung. Die technologischen Revolutionen haben jeweils den Aufbau neuer physischer Infrastruktur und Formen der Verkehrsorganisation "erzwungen" und auch dadurch zu großen technischen und betriebswirtschaftlichen Innovationsschüben geführt.
Verkehrssysteme unterscheiden sich durchaus bezüglich ihres "Organisationsgrades". Autos können problemlos auf Straßen fahren (wenn die Straßenkapazität ausreicht), ohne dass eine zentrale Steuerung im Hintergrund agiert. Hingegen benötigt Eisenbahnverkehr eine komplexe sicherheitstechnische und organisatorische Infrastruktur. Gütertransport auf LKWs kann durchaus individuell betrieben werden; ein hoher Vernetzungsgrad und zentrale Planung können allerdings große Effizienzgewinne erbringen. Flugverkehr benötigt u.a. eine zuverlässige und angemessene Planung von Verbindungen und Anschlüssen, eine gut organisierte Sicherheitsstruktur sowie komplexe Flugzeugabfertigungssysteme auf Flughäfen.
Erst vor wenigen Jahren hat die Informationstechnologie (IT) Einzug in alle Bereiche des Verkehrs- und Transportwesens gehalten und ganz erhebliche Vorteile für alle Verkehrsteilnehmer gebracht. Dadurch sind u.a. ganz neue Arten der Reiseplanung und -buchung und der intermodalen Vernetzung entstanden. Eine Isochronenkarte für Postkutschen wie die in Bild 1 aus dem Jahr 1819 braucht man im Zeitalter von Navigationssystemen oder Google Maps nicht mehr. Angebote und Bestellungen im Internet haben neue Vertriebswege für Waren erschlossen und zu einem Logistikboom geführt. Das gilt analog für Just-in-Time-Produktionsprozesse in der Industrie. Ohne entsprechende Transport- und Verkehrsinfrastruktur hätten sich diese Geschäftszweige nicht entwickeln können.
1.3 Sind weitere fahrzeugtechnische Revolutionen in Sicht?
Wird es in Zukunft noch weitere Revolutionen im Verkehrswesen der oben skizzierten Art geben? Da man Innovationen nicht voraussagen kann, weiß das natürlich niemand. Es sieht aber jedenfalls nicht so aus, als ob es noch weitere so revolutionäre Technologieänderungen wie die Einführung von Autos oder von Flugzeugen geben wird. Auf dem Wasser werden Schiffe, auf Straßen PKWs, LKWs und Busse, auf Schienen Züge fahren, und Flugzeuge werden den Luftverkehr besorgen. Natürlich wird es permanent technologische Weiterentwicklungen geben, es wird Veränderungen der Antriebstechnologie geben wie etwa einen Wechsel von Verbrennungs- zu Elektromotoren etc. Vielleicht wird man gewisse Transporte über lange Distanzen mit Raketen vornehmen, aber wir haben nicht das Gefühl, dass "Beamen" oder ähnlich aufregende Ideen aus der Science Fiction Wirklichkeit werden.
Wird der Verkehrssektor dann zu einem langweiligen Teilnehmer am Wirtschaftsgeschehen herabsinken, der zwar eine gewisse Basisinfrastruktur des menschlichen Handelns bereitstellt, aber keine weiteren Innovationssprünge mehr hervorbringt? Werden sich in Zukunft innovative Köpfe nicht mehr mit Transport und Verkehr beschäftigen? Das glauben wir nicht, denn wir stehen heute vor neuen drängenden Verkehrsproblemen, die unbedingt gelöst werden müssen. Und hier wird vor allem innovative Planung und Optimierung erforderlich sein.
1.4 Was kommt anstelle fahrzeugtechnischer Revolutionen?
Wir sind davon überzeugt, dass die großen Herausforderungen in der effizienten Organisation und Steuerung des gesamten lokalen und globalen Verkehrs liegen. Das Ziel muss und wird sein, den lokalen und weltweiten Transportbedarf ressourcenschonend, kostengünstig, kunden- und mitarbeiterfreundlich zu decken. In Kurzform: Transport und Verkehr müssen in jeder Hinsicht effizient sein. Zwei Aspekte werden dabei im Vordergrund stehen. Erstens muss jeder einzelne Verkehrsträger für sich im Detail untersucht und optimiert werden. Dabei geht es sowohl um ökologische und finanzielle Aspekte als auch um Überlegungen dazu, in welcher Form und Flexibilität er zur Bedarfsdeckung beiträgt. Ganz wesentlich wird aber zweitens die Erhöhung der Effizienz des Gesamtsystems "Verkehr und Transport" sein.
Es gibt heute für alle Mobilitätsbedürfnisse hochentwickelte Fahrzeugtechnologien, die sehr effizient arbeiten, wenn sie ihre Systemvorteile ausspielen können. Leider hat jede dieser Technologien aber auch ihre Nachteile, die systemübergreifend ausbalanciert werden müssen. In der Verbesserung dieser Abstimmung liegt ein großes Potenzial. Die nächste große Herausforderung ist deshalb nicht fahrzeugtechnologischer Art, sondern betrifft das Systemdesign und die Verknüpfung und Vernetzung von Verkehr. Die Schlüsseltechnologie, die dafür benötigt wird, ist die Mathematik im Verbund mit der Informationstechnik (IT).
2 Wo wird Mathematik bereits eingesetzt?
Sowohl bei der individuellen Optimierung der verschiedenen Verkehrsträgersysteme als auch bei deren Verknüpfung zu einem leistungsfähigen Gesamtsystem werden Mathematik und IT eine bedeutende Rolle spielen. In einigen Bereichen tun sie dies bereits und sind dort nicht mehr wegzudenken.
2.1 Optimierung von Fahrzeugtechnik
Die Ingenieurwissenschaften sind in hohem Maße von Mathematik durchdrungen. Einen breiten Überblick zu dem Einfluss, den Mathematik heutzutage auf die Technik hat, findet man in Grötschel et al. (2008) [7]. Auf Fahrzeugtechnologie wird nicht nur in den Kapiteln über die Regelung und Steuerung technischer Prozesse, siehe Dahmen und Marquardt (2008) [6], oder über Aerodynamik, siehe Grüne et al. (2008) [8], eingegangen. Jeder zweite Artikel dieses Sammelbandes hat Bezug zu gewissen Aspekten der Fahrzeugtechnik (Strömungsbeeinflussung, Beschreibung heterogener Materialien, Herstellung moderner Materialien, Struktur- und Topologieoptimierung, Verfahrenstechnik, Regelung von Verbrennungsmotoren etc.). Niemand wundert sich mehr, dass ein gigantisches Flugzeug wie der A 380, wenn es zum ersten Mal auf eine Rollbahn fährt, tatsächlich fliegt und die Flugeigenschaften hat, die vorausgesagt wurden. Derartige Voraussagen sind kein Werk der Astrologie, sondern stützen sich auf die Entwicklung einer Vielzahl von mathematischen Modellen, die einzelne Komponenten und das Gesamtsystem des Flugzeugs beschreiben, auf die Optimierung tausender Details und auf umfangreiche Simulationsläufe, die am Ende den Entwicklern eine große Sicherheit bzgl. der Eigenschaften des Flugzeugs verschaffen. Ohne Mathematik würde es diese Flugzeuge nicht geben.
Ähnlich verhält es sich beim Bau anderer Fahrzeuge, wenn auch nicht immer mit der gleichen Sorgfalt und Genauigkeit wie bei Flugzeugen gearbeitet wird (wie man z.B. an der gelegentlichen Verweigerung der Abnahme neuer Züge sieht). Grundsätzlich durchdringt Mathematik aber in immer stärkerem Maße die gesamte Kette der Entwicklung von Fahrzeugen von der Auswahl der Materialien, der Berechnung von Strukturstabilität, Geräuschentwicklung und Aerodynamik bis hin zur Produktion mit computergesteuerten Robotern auf automatischen Fertigungsanlagen. Die Steuerung von Motoren und Getrieben, das Zusammenspiel von Sensoren mit Regelungsmechanismen und Fahrerassistenzsystemen bei modernen Autos, alles das ist in Software gegossene Mathematik, die unsere Fahrzeuge immer sicherer und effizienter macht. Fraglos sind technische Erfindungen und neue Konzepte die Treiber der Entwicklung, aber ohne Mathematik und Informationstechnologie sind viele dieser Ideen nicht effizient umsetzbar.
2.2 Optimierung von Logistiknetzen
Nach der Seven-Rights-Definition von Plowman besteht das Ziel der Logistik darin, die Verfügbarkeit des richtigen Gutes, in der richtigen Menge, im richtigen Zustand, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, für den richtigen Kunden, zu den richtigen Kosten zu gewährleisten. Logistik gab es natürlich bereits (unter anderen Namen) vor Jahrtausenden. Sie entstand hauptsächlich im Rahmen von militärischen Aktivitäten und hat im Laufe der Zeit ihr Anwendungsspektrum erweitert. Vor rund 20 Jahren begann die Logistik, sich auf unternehmensweite und -übergreifende Koordinationsfunktionen zu konzentrieren und die Optimierung von Material- und Warenflüssen in den Mittelpunkt zu stellen. Dies wurde durch Entwicklungen in der Informationstechnologie ermöglicht, die die notwendigen Informationsflüsse verbesserten und umfangreiche neue Daten elektronisch verfügbar machten. Waren-, Material- und Informationsströme konnten nun gemeinsam geplant und koordiniert und die Bereiche Entwicklung, Beschaffung, Produktion, Distribution und Entsorgung miteinander vernetzt werden. Spätestens seit dem Jahr 2000 werden firmenspezifische Wertschöpfungsketten zielgerichtet zu unternehmensübergreifenden Netzen verknüpft, die vom Zulieferer bis zum Endkunden reichen. Ein kritischer Faktor für die Leistungsfähigkeit dieser Netze ist die Verfügbarkeit von mathematischen Methoden zur Prognose, Simulation, Steuerung und Optimierung, wie der hervorragende Übersichtsartikel Möhring und Schenk (2008) [9] im Detail darlegt. Die Erforschung und Umsetzung dieses Bereichs der Logistik erfolgt unter dem Namen Supply Chain Management, ein Gebiet, das heute vornehmlich im Bereich des Wirtschaftsingenieurwesens angesiedelt ist und ohne Mathematik nicht denkbar wäre.
2.3 Optimierung im öffentlichen Personenverkehr (ÖPV)
Aus mathematisch-abstrakter Sicht erscheint die Organisation des Transports von Waren und Personen (oberflächlich betrachtet) nicht wirklich verschieden: Gewisse Objekte müssen in Zeit und Raum unter Berücksichtigung von einigen technischen Gegebenheiten und Beschränkungen "optimal" bewegt werden. Dennoch zeigen sich in der Praxis erhebliche Unterschiede. Waren können z.B. "herumkommandiert" werden, beschweren sich nicht und lassen sich in der Regel zwischenlagern. Menschen lassen das nicht so einfach mit sich machen, sie haben (berechtigte) Ansprüche und auf vielfältige Weise Einfluss auf die Transporttechnik und -organisation. Diese Aspekte wirken sich unmittelbar auf die mathematische Modellierung und Herangehensweise aus.
Ein großer Unterschied besteht auch darin, dass Warentransport größtenteils privat organisiert ist, während die Verfügbarkeit von Mobilität häufig als öffentliches Gut betrachtet und im Rahmen der Daseinsvorsorge staatlich organisiert wird. Dadurch ergeben sich erhebliche Diskrepanzen bei den Organisationsformen, was wiederum dazu führt, dass die mathematischen Modelle und Methoden zur Lösung von Fragen im Güter- und im Personenverkehr unterschiedlich sind.
Am weitesten fortgeschritten ist der Einsatz mathematischer Methoden im Luftverkehr. Jedem sind die seit den 1980er Jahren extrem gefallenen Preise für Flugtickets bekannt. Diese Preisveränderungen sind eine direkte Konsequenz aus tiefgreifender mathematischer Durchdringung aller Prozesse im Flugverkehr, ohne die das preiswerte Fliegen nicht möglich wäre. Der Einsatz mathematischer Methodik beginnt bei der statistischen Bedarfsanalyse, der Infrastruktur- und Netzplanung und reicht über die Flugplanerstellung, die Flottenoptimierung und das Tail Assignment bis zur Flugzeugbesatzungsplanung und zum oben erwähnten Revenue Management zur Preisbildung für Flugtickets. Hocheffiziente und komplexe mathematische Optimierungsverfahren sind hier bei allen namhaften Airlines im Einsatz.
Der öffentliche Nahverkehr (Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen) und der Bahnverkehr orientieren sich an den Fortschritten im Luftverkehr und versuchen ähnliche Methoden zum Einsatz zu bringen. Im Busbetrieb ist es z.B. gelungen, die Fahrzeugumlaufplanung und die Personaleinsatzplanung durch mathematische Methoden weitgehend optimal zu gestalten. Für große Städte wie Berlin führt die Busumlaufplanung zu ganzzahligen Optimierungsproblemen mit rund 100 Millionen Variablen. Aufgrund umfangreicher arbeitsrechtlicher Nebenbedingungen ist die Fahrereinsatzplanung viel schwieriger. Hier treten Modelle auf, deren Variablenzahl im Milliardenbereich liegt, die aber trotzdem nahezu optimal gelöst werden können.
Der Bahnverkehr ist aufgrund vielfältiger technischer und arbeitsrechtlicher Nebenbedingungen deutlich komplexer. Die Modellierung führt häufig zu riesigen Optimierungsproblemen; Datenbeschaffung und -pflege sind sehr aufwändig. Aus mathematischer Sicht führt die Eisenbahnoptimierung zu Optimierungsfragestellungen, die man erst in jüngster Zeit langsam in den Griff bekommt. Aus allen diesen Gründen beginnt man gerade erst damit, mathematische Umlauf- und Personaleinsatzplanung einzusetzen.
Im ÖPV ist heute mit der Neubeschaffung von IT-Systemen so gut wie immer der Kauf von Optimierungssoftware verbunden; die Anwendung von Optimierung in mehreren Bereichen der ÖPV-Planung kann man als Industriestandard betrachten. Die Bandbreite des Einsatzes von Mathematik unterscheidet sich bei Bussen und Bahnen im Vergleich zum Luftverkehr jedoch deutlich. Fluglinien machen detaillierte Prognosen über das erwartete Kundenverhalten und versuchen, möglichst die gesamte Wertschöpfungskette über Passagierströme, Preise, das Liniennetz und den Ressourceneinsatz zu optimieren, um eine hohe Auslastung des Fluggeräts, hohe Einsatzzeiten und damit ein möglichst günstiges betriebswirtschaftliches Ergebnis zu erreichen. Die mathematische Durchdringung der Planungs- und Steuerungsprozesse beschränkt sich damit nicht nur auf den Einsatz der Betriebsmittel. Bei Bussen und Bahnen wird dagegen kein mit den Methoden im Luftverkehr vergleichbares Revenue Management verwendet. Die Preisbildung entsteht in einem politischen Prozess. Netz-und Fahrplangestaltung erfolgen bei Bussen und zumindest im regionalen Bahnverkehr weitgehend mathematikfrei nach politischen Vorgaben durch den Aufgabenträger.
Für eine ausführliche Diskussion zum Status quo des Einsatzes von Optimierungsverfahren im ÖPV verweisen wir auf unserem Übersichtsartikel Borndörfer et al. (2008).
2.4 Leistungsstand der mathematischen Methodik
Die skizzierten Erfolge basieren auf enormen Fortschritten in der Modellierungsmethodik, der algorithmischen Mathematik, der Informatik und der Computertechnik. Diese Fortschritte werden in der Öffentlichkeit, aber auch in den die betreffende Software nutzenden Unternehmen bisher nur teilweise wahrgenommen. Bei vielen mathematischen Basisproblemen wie Methoden zur Lösung von Gleichungssystemen oder von allgemeinen linearen und gemischt-ganzzahligen Optimierungsproblemen sind in den letzten 25 Jahren Fortschritte gemacht worden, die genauso groß sind wie die in der Computertechnik. In Verbindung mit den Beschleunigungen im Hardwarebereich sind die heute verfügbaren Codes ein Mehrmillionenfaches schneller als vor einem Vierteljahrhundert, siehe hierzu u. a. Bixby (2002) [1] und die daraus abgeleitete Tabelle 1, Bixby et al. (2004) [2] und Shinano et al. (2013) [10]. Ein Speedup von einer Million ändert die Qualität einer Methode. In Bixbys (2002) [1] Worten: "A Model that might have taken a year to solve 10 years ago, can now solve in less than 10 seconds." Dieser Fortschritt ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Mathematik bei den in der Regel sehr großen Problemen im Verkehr an immer mehr Stellen erfolgreich eingesetzt werden kann. Ein "Zeitalter der Optimierung" ist angebrochen.
Tabelle 1: Speedups 1987-2002 in Linearer Programierung nach Bixby (2002) [1]
Wir können die verwendeten mathematischen Methoden hier nicht im Einzelnen darstellen. Erwähnt sei lediglich, dass sehr häufig Modelle aus der Netzwerkflusstheorie (kostenminimale Flüsse, Mehrgüterflüsse), aus der Routenplanung (Travelling-Salesman- Modelle, Chinese-Postman-Modelle und viele Varianten von diesen) und sogenannte Set- Partitioning-Modelle (die u. a. auf Stabile-Mengen-Probleme in Graphen oder Hypergraphen führen) zum Einsatz kommen, für die sehr viele theoretische Erkenntnisse mit algorithmischem Potenzial vorliegen. (Ein populärwissenschaftliches Buch zu diesem Thema ist Cook (2012) [5], ein einführender Artikel Borndörfer et al. (2000) [4].) Diese Modelle und ihre Varianten werden mathematisch untersucht mit Hilfe von Graphentheorie, polyedrischer Kombinatorik sowie anderen Werkzeugen der Diskreten Mathematik und der Optimierungstheorie. Die Lösungsalgorithmen basieren vielfach auf linearer und ganzzahliger Optimierung (Simplex-Algorithmus, Schnittebenenverfahren, Branch&Bound). Besonders bei großen Problembeispielen mit komplizierten Nebenbedingungen geht kein Weg an Heuristiken vorbei, von denen das gesamte, sehr umfangreiche Arsenal eingesetzt wird.
Die Idee, mathematische Methoden auf breiter Front zur Verbesserung aller möglichen Prozesse einzusetzen, ist nicht neu. Nach den Erfolgen in der Militärlogistik des zweiten Weltkriegs machte die damals in den USA neu entstandene Disziplin des Operations Research genau dieses Versprechen. Einem großen Hype folgte in den 1960er und 1970er Jahren eine teilweise bis heute spürbare Ernüchterung, weil die meisten Industrieprobleme mit den seinerzeit verfügbaren Mitteln nicht gelöst werden konnten. Dies hat sich mittlerweile geändert. Der Verkehrssektor bietet aufgrund der hohen Komplexität der hier entstehenden Probleme besonders gute Voraussetzungen, sich an die Spitze einer Renaissancebewegung zu setzen.
3 Problemfelder des Mathematikeinsatzes
Trotz vieler Erfolge bei wichtigen Einzelfragen steht der Einsatz der Mathematik in Transport und Verkehr erst am Anfang. Bedauerlicherweise sind gerade die Themen, die die größten Hebel bieten, aus mathematischer Sicht weitgehend unberührt. Es fehlen (außer im Flugverkehr) praxistaugliche mathematische Modelle zur Angebots- und Preisplanung. Vor allem die ÖV-Infrastrukturplanung erfolgt nahezu mathematikfrei, obwohl in diesem Bereich gewaltige Investitionssummen bewegt werden, die sehr langfristige Auswirkungen haben. Hier tun sich vielfältige Fragestellungen auf, die von Politikern, Ingenieuren, Informatikern, Ökonomen und Mathematikern nur gemeinsam bearbeitet werden können. Dass diese Fragestellungen auch mathematischer Natur sind, hat sich noch nicht überall herumgesprochen.
3.1 Angebotsplanung im ÖPNV
Die Angebotsplanung im öffentlichen Nahverkehr definiert die Infrastruktur, das Liniennetz, den Fahrplan und die Preise. Sie ist in starkem Maße von politischen Vorgaben abhängig. Die Verkehrsbetriebe haben häufig lediglich die Aufgabe, ein vorgegebenes Verkehrsvolumen kostengünstig abzuwickeln. Sie können weder die Preise noch die Struktur der Netze oder die Taktfrequenzen eigenständig gestalten. Damit haben sie nur einen begrenzten Einfluss auf das betriebswirtschaftliche Ergebnis.
Preis-, Netz- und Linienplanung ist bei der gegenwärtigen Strukturierung des ÖPNV keine genuine Aufgabe eines öffentlichen Verkehrsbetriebes und wird deshalb dort nicht optimiert. Diese Aufgabe müsste eigentlich vom Aufgabenträger erledigt werden; Optimierungsgedanken in unserem Sinne spielen bei diesem allerdings selten eine Rolle. Im Vergleich zu früheren Zeiten, als ein vollständiges Monopol der Verkehrsbetriebe bestand, ist durch die Definition und Ausschreibung von Verkehrsleistungen eine gewisse Form von Markt entstanden, dessen Effizienz sich jedoch nach unserer Meinung bei genauer Betrachtung als fragwürdig erweist. Denn die Aufgabenträger vertrauen lediglich darauf, dass sich in einem Ausschreibungsverfahren der effizienteste Verkehrsbetrieb durchsetzt und quasi ohne weiteres Zutun ein gutes und kostengünstiges Angebot bereitsteht.
Zu Beginn des Verfahrens wird in Deutschland typischerweise ein politischer Auftrag vergeben. Die Stadtverwaltung beauftragt den Aufgabenträger, ein Angebotskonzept für die Personenbeförderung zu erstellen. Der Aufgabenträger erstellt dazu einen Nahverkehrsplan. Dieser umfasst unter anderem eine Verkehrsprognose, ein Konzept für die Entwicklung des zukünftigen Verkehrs und eine detaillierte Ausarbeitung von Bus-, Straßenbahn- und U-Bahn-Linien, verbunden mit Frequenzen für den Taktverkehr. Diese Aufgaben werden typischerweise ganz oder teilweise an ein Ingenieurbüro vergeben. Dieses erhebt dazu eigene Daten (z.B. durch Fahrgastzählungen) und schätzt den in Entwicklungsgebieten entstehenden Bedarf. Aus dem Nahverkehrsplan werden dann vom Aufgabenträger Bündel von Leistungen abgeleitet, die ausgeschrieben werden. Die Verkehrsunternehmen geben Angebote ab und das insgesamt am besten erscheinende gewinnt. Dieses hat dann die Aufgabe, die zugeteilten Verkehre möglichst kostengünstig durchzuführen, kann aber am Angebot so gut wie nichts mehr ändern. Das Problem bei diesem Verfahren ist, dass keine Rückkopplung von der Nachfrage auf das Angebot erfolgt. Eigentlich müsste (wie im Flugbetrieb) eine häufige Überprüfung des Angebotskonzeptes erfolgen, welches anschließend zu veränderten Ausschreibungen und dann zu einem besseren betriebswirtschaftlichen Ergebnis und/oder zu höherer Kundenzufriedenheit führen könnte.
Diese Entkopplung der einzelnen Planungsschritte ist nicht optimal im Hinblick auf eine ganzheitliche Gesamtplanung. Es fehlen die Rückmeldungen und Anreize, Systemänderungen anzuregen. Der Besteller hat höchstwahrscheinlich gut gemeinte Vorstellungen, trägt aber nicht die Konsequenzen einer sich durch seine Vorgaben oder durch andere Umstände herausbildenden Ineffizienz des Systems.
Durch die Trennung der Verantwortlichkeiten in Verbindung mit einem Ausschreibungsverfahren entsteht ein möglicherweise nicht zutreffender Eindruck von Effizienz. Aus Optimierungssicht ist dieser Organisationsrahmen ein wesentliches Hindernis für die Etablierung einer auf die Effizienz des Gesamtsystems zielenden Planungsmethodik. Auch wenn wir dabei einige der am ÖPNV-Planungsprozess beteiligten Personen und Institutionen brüskieren, behaupten wir: Dieser Prozess ist eine Form von organisierter Verantwortungslosigkeit.
3.2 Urbanisierung und Überalterung: Die großen Herausforderungen
Die Andeutung der Fehlentwicklungen bei der Angebotsplanung im ÖPNV führt auf die – unserer Meinung nach – wirklichen Herausforderungen der Zukunft: fortschreitende Urbanisierung und dadurch entstehende Megastädte in Entwicklungsländern sowie alternde Bevölkerung in den Großstädten der Industrieländer und dadurch veränderter Mobilitätsbedarf.
Bild 2: Dichter Verkehr in Hanoi (links). Eröffnung des Transantiago BRT-System (rechts).
Weltweit gibt es einen eindeutigen Trend zur Urbanisierung. Seit wenigen Jahren leben erstmals mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Insbesondere in Asien, Lateinamerika und Afrika ist das Wachstum der Großstädte exorbitant. Viele dieser Städte liegen in Entwicklungsländern und haben keine effiziente Nahverkehrsinfrastruktur. Eine der großen Herausforderungen wird sein, angemessene Nahverkehrssysteme für sehr große und weiterhin wachsende Megazentren zu entwerfen. Den dort wohnenden Personen muss es ermöglicht werden, ohne übermäßigen Zeitaufwand zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen und den Bedürfnissen des täglichen Lebens nachzugehen. In vielen dieser Megazentren kann man den täglichen Verkehrskollaps besichtigen, der nicht nur mit einer extremen Zeitverschwendung, sondern auch mit Umweltverschmutzung und hohen Kosten verbunden ist. In manchen Städten dürfen Autos, abhängig vom Nummernschild, an bestimmten Tagen nicht fahren, zu gewissen Zeiten müssen Autos hohe Mautgebühren bezahlen. Alles das soll den Individualverkehr eindämmen und zur Stauvermeidung beitragen. Wenn aber kein vernünftiges ÖPNV-Angebot vorliegt, hilft das nicht viel. Das Resultat sind dann Verkehrsverhältnisse wie sie in Bild 2 links zu sehen sind. Mit automobil-, bus- und eisenbahntechnischen Innovationen allein sind diese Verkehrsprobleme nicht zu bewältigen. Sie können nur durch massive Eingriffe der lokalen Behörden in das Verkehrsnetz und die Entwicklung von Nahverkehrskonzepten gelöst werden, die auf den Bedarf, die geographischen Gegebenheiten etc. abgestimmt sind. Nur eine gute ganzheitliche Nahverkehrsinfrastruktur kann einen erträglichen Massentransport ermöglichen.
In der Vergangenheit sind aufgrund dieser Probleme z.B. U- und S-Bahnen entstanden. Sie leisten einen signifikanten Beitrag zum Personentransport in Großstädten. Heute möchte niemand mehr U-Bahnen in Städten wie Berlin, Paris, London oder New York missen. In vielen Entwicklungsländern können aus finanziellen Gründen U-Bahnen nicht gebaut werden. Sie haben enorm hohe Investitions-, Wartungs- und Betriebskosten. Daher wird dort nach innovativen Verkehrskonzepten zur Bewältigung des Personenverkehrs gesucht. Ein erfolgreiches Beispiel sind die Bus-Rapid-Transit-Systeme, die sich u.a. in den großen Städten Südamerikas etabliert haben. Dies sind Systeme, bei denen sich Busse auf speziell eingerichteten Fahrspuren (und mit eigenen Busbahnhöfen) mit hoher Geschwindigkeit bewegen. Sie durchqueren die Großstädte auf zentralen Achsen und werden mit Zubringerbussystemen "beliefert". Auch hier sind hohe Investitionskosten erforderlich, diese sind jedoch deutlich geringer als die für U-Bahnen (oder Light-Rail-Systeme). Es gibt auch Kombinationen dieser Ideen, z.B. das Transantiago-System in Chile, dessen Betriebsstart in Bild 2 rechts zu sehen ist.
Transantiago ist ein Beispiel für ein mit großen Ambitionen, aber mangelhafter Planung gestartetes Großprojekt. Es stellte sich u.a. sehr schnell heraus, dass man die Zahl der benötigten Busse um 50% zu niedrig angesetzt hatte. Erst nach massiven Protesten und einer Regierungskrise in Chile wurde nochmals investiert, so dass sich die Verhältnisse zu verbessern begannen. Wir wollen die Hintergründe dieses Desasters hier nicht diskutieren. Wir stellen nur fest: Es hätte nie dazu kommen dürfen, und bei besserer Planung wären all diese Probleme gar nicht erst entstanden. Wir können es uns nicht leisten, Verkehrssysteme durch diese Art von Trial-and-Error "darwinistisch" zu entwickeln. Das Design von Verkehrssystemen muss nicht nur realitätsnah simuliert, sondern optimiert werden. Dass dies möglich ist, beweist das Beispiel der Telekommunikationsbranche, die ihre Fest- und Mobilfunknetze seit Jahrzehnten mit Hilfe immer leistungsfähigerer mathematischer Methoden plant und steuert. Nun sind Bits keine Menschen und die Methoden nicht direkt übertragbar, aber wir haben keinen Zweifel, dass der Ansatz der Netzoptimierung auch im Verkehrssektor funktioniert.
In Europa und Nordamerika ist ein ganz anderer Trend zu beobachten. Die Bevölkerung schrumpft (je nach Region in unterschiedlichem Maße), die großen Städte wachsen trotzdem (ein wenig), während sich die ländlichen Regionen entvölkern; dabei ist fast überall eine deutliche Erhöhung des Durchschnittsalters der Bevölkerung zu beobachten. Dieser, manchmal abfällig als Vergreisung bezeichnete Trend führt zu anderen Transportbedürfnissen als das in Megastädten in Entwicklungsländern mit sehr junger Bevölkerung der Fall ist. Man wird sich überlegen müssen, wie der Transportbedarf älterer Menschen und der Landbevölkerung angemessen bedient werden kann. Zum Beispiel kann man sich gut organisierte Rufbussysteme mit Fahrzeugen vorstellen, die bedarfsgerecht ausgestattet sind, wie sie bereits für den Behindertentransport entwickelt wurden. Für den Behindertentransport sind bereits optimierende IT-Systeme im Einsatz, auf breiter Front haben sich diese Systeme aber bisher nicht durchgesetzt. Warum? Waren die Anwendungsfälle ungeeignet, die Vernetzung mit anderen Verkehrsträgern mangelhaft? Will man viel größere Bevölkerungsanteile mit Rufbussen bedienen, muss auch hier eine organisatorische Weiterentwicklung betrieben werden. Methoden der Netzwerkoptimierung können helfen, geeignete Szenarien zu identifizieren und die Systeme bestmöglich auszulegen.
3.3 Vision zur Lösung der zentralen ÖPNV-Probleme der nahen Zukunft
An den grundsätzlichen Technologien zur Befriedigung der Mobilitätsbedarfe wird sich nichts wesentlich ändern. Die Frage ist, wie das gesamte (lokale oder regionale) Verkehrssystem, welches diese Bedürfnisse befriedigen soll, zu einem Systemoptimum geführt werden kann.
Unsere erste Kernaussage ist, dass die Bewältigung der verkehrstechnischen Probleme, die durch die Urbanisierung und Alterung ausgelöst werden, das zentrale Problem der Verkehrstechnik der nahen Zukunft ist. Diese Herausforderung kann von keiner der am Verkehrswesen beteiligten Institutionen oder Berufsgruppen allein gelöst werden. Die notwendige Fahrzeugtechnik ist im Wesentlichen vorhanden oder kann zügig entwickelt werden. Die erforderliche Informationstechnik ist im Prinzip ebenfalls da.
Unsere zweite Kernaussage ist, dass den Investitionen in die Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastruktur nachhaltige Investitionen in die Planung vorausgehen müssen. Und hier meinen wir nicht die Beauftragung von einigen weiteren Ingenieurbüros. Das Zusammenspiel aller am Verkehr beteiligten Gruppen muss mit dem Ziel einer Konsensfindung besser organisiert werden. Das ist eine hochkomplexe Aufgabe, aber mit dem Einsatz von informationstechnischen Werkzeugen, mit mathematischer Modellbildung (die mit allen Beteiligten diskutiert werden kann), mit Simulationen und Optimierungstechniken können die genannten Ziele erreicht werden.
Wir stellen uns folgenden idealisierten Prozess vor. In einem ersten Schritt werden die tatsächlichen Mobilitätsbedürfnisse ermittelt. Dabei müssen die Konzentration der Bevölkerung in Wohnquartieren, die Lage von Arbeitsplätzen und Einkaufsmöglichkeiten, Schulen und Ausbildungsstätten und die Altersstruktur berücksichtigt werden. Investitionskosten und Betriebskosten müssen eine Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen genauso wie die absehbare Stadtentwicklung. Gleichzeitig muss man die für die gegebene Situation angemessenen, überhaupt finanzierbaren und verfügbaren Verkehrstechnologien bewerten und prüfen, welche adäquat eingesetzt werden können. Mögliche Bedienungsalternativen werden entwickelt und bewertet. Anschließend wird eine Gesamtoptimierung des Systems vorgenommen. Das Ergebnis wird bewertet, die Annahmen ggf. modifiziert und die Planung ggf. wiederholt. Auf Basis mehrerer Alternativen wird eine Entscheidung getroffen und umgesetzt. Anschließend wird kontrolliert, ob sich die Planungsprämissen bewahrheiten. Bei Abweichungen wird das Modell verbessert und mit der gleichen Methode gegengesteuert.
Die Mathematik spielt eine besondere Rolle zur Etablierung einer auf Fakten basierenden, ideologiefreien Planung. Wenn man die Diskussionen um den Bau von Stuttgart 21 oder um den Berliner Großflughafen verfolgt (hat), mag man zwar bezweifeln, dass eine "objektive Konsensfindung" möglich ist. Aber bei beiden Projekten wurden massive Kommunikationsfehler gemacht, die am Ende leider zu ideologischen Konfrontationen und zur Durchsetzung von Entscheidungen mit Machtmitteln geführt haben. Gut eingesetzte mathematische Modellierung und Simulation hätten mehr Sachlichkeit in die Auseinandersetzungen hineinbringen können.
In der Zukunft wird es verstärkt notwendig sein, die Bürger, Betriebe, Betreiber von Geschäften, Freizeiteinrichtungen und Schulen in angemessener Weise in die Planung mit einzubeziehen. Das bedeutet, dass Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung geschaffen werden müssen. Dies ist durch Internetplattformen etc. heutzutage durchaus möglich und nicht mehr nur eine Utopie. Nicht nur Verkehrsplaner in Behörden, sondern auch Bürger könnten aufgefordert werden, Ideen zur Entwicklung von Verkehrskonzepten einzubringen. Kann man sich eine von den Bürgern durchgeführte Verkehrsplanung vorstellen, bei der für ein virtuelles Modell einer Stadt mit Simulations- und mathematischen Optimierungsverfahren Hochrechnungen vorgenommen werden, um auf dieser Faktenlagen die Ergebnisse mit maximaler Transparenz breit zu diskutieren? Ein großer Aufwand bei der Planung, gewiss, aber vielleicht ein noch größerer Gewinn in der Realität.
4 Sind die skizzierten "Visionen" umsetzbar?
Wir sind nicht so vermessen zu glauben, dass heute alles, was wir an "Lösungstechnologie" angedeutet haben, bereits vollständig umsetzbar ist. Die dafür benötigten "Werkzeuge" sind derzeit nur zum Teil vorhanden. Es wird noch einige Zeit dauern, bis für derartige Planungen adäquate Daten bereitgestellt oder sinnvoll geschätzt und verarbeitet sowie die entstehenden mathematischen Modelle gelöst werden können. Selbst zur Lösung von Teilaspekten unserer Vision sind noch erhebliche Forschungsanstrengungen erforderlich. Für einige ÖV-Fragestellungen, z.B. Fahrzeug- und Personaleinsatzplanung im Bus- und Flugverkehr, sind ausgezeichnete mathematische Werkzeuge verfügbar und an vielen Stellen im Einsatz. In anderen Bereichen ist trotz aller Fortschritte die Leistungsfähigkeit der gegenwärtigen Algorithmen noch nicht ausreichend, um die im ÖV auftretenden Problemgrößen zu beherrschen; dies gilt z.B. für die Umlaufplanung im Bahnbereich oder die integrierte Personal- und Fahrzeugeinsatzplanung bei fast allen Verkehrsträgern. Der Integration der jetzt noch in hierarchischer Abfolge nacheinander durchgeführten Planungsschritte (erst das Netz, dann Linien, dann Takte, dann Fahrplan, dann Fahrzeugumlaufplanung, dann Personaleinsatzplanung) muss in Zukunft verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dies trifft natürlich insbesondere auf die Angebotsplanung zu. Der Mathematik fehlt es hier zurzeit noch an "integrierter Durchschlagskraft". Aber selbst wenn dies anders wäre: Es ist nicht zu erwarten, dass es ein mathematisches Megamodell geben wird, das für jede Stadt den optimalen Mix von Verkehrsträgern vollautomatisch ermitteln kann. Ein solches Modell wäre kaum noch zu beherrschen. Auch bei überschaubareren Problemgrößen müssen die mit unserem Ansatz verbundenen statistischen und ökonomischen Überlegungen gründlich durchdacht werden. Die dabei entstehenden soziologischen und politischen Prozesse werden Kopfschmerzen bereiten und erfordern vorab sorgfältige Analysen.
Die Durchdringung der Verkehrsplanung mit mathematischer Optimierung macht Anstrengungen in Forschung und Entwicklung auf vielen Fachgebieten notwendig, darunter natürlich auch in der Mathematik. Schaut man sich die staatliche Förderung von Verkehrstechnologien an, dann erkennt man, dass sehr viele Mittel in die Forschung und Entwicklung einzelner Technologien (wie derzeit z.B. in Elektroautos und Batterien) investiert werden, dagegen im Vergleich so gut wie nichts in die in diesem Artikel angesprochenen "Planungs- und Entscheidungstechnologien". Überlegt man sich sorgfältig die langfristigen Konsequenzen, die Entscheidungen bei der Planung von lokalen, regionalen oder globalen Verkehrssystemen haben, so erscheint es mehr als sinnvoll, hierfür adäquate Forschungs- und Entwicklungsinitiativen zu starten.
Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg solcher Initiativen ist Standardisierung. Die Entwicklung mathematischer „Standardmodelle“ und zugehöriger Optimierungsverfahren ist aufwändig. Das Gleiche gilt für die Versorgung der Modelle mit hochwertigen Daten, ohne die die mathematischen Verfahren nicht angewendet werden können. Beides lohnt sich nur, wenn Probleme ausreichend lange in ihrer Form stabil bleiben und die Methoden mehrfach verwendet werden können. Wenn dies gelingt, kommt ein sich selbst verstärkender Benchmarking-Prozess in Gang, der in der Regel zu einer dynamischen Weiterentwicklung führt. Dafür gibt es vielfältige Beispiele (lineare und gemischt-ganzzahlige Optimierung, Airline Crew Scheduling, Traveling Salesman Problem, Telekom-Netzwerk-Design).
Was also ist zu tun? Das Ziel muss die Entwicklung von mathematischen Modellen (die auch soziologische und ökonomische Aspekte einbeziehen) zur Verkehrsinfrastrukturplanung von urbanen Regionen sein. Dafür müssen Datenmodelle geschaffen, die notwendigen Daten erfasst und die Detailwirkungen von Verkehrsträgern auf die von uns genannten Ziele analysiert werden. Aus unserer Sicht sollten die zuständigen Städte, Regionen und Länder angemessene Mittel zur mathematischen Planung ihrer Verkehrsinfrastruktur bereitstellen, um einigermaßen zukunftssicher planen zu können und nicht nach wenigen Jahren festzustellen zu müssen, dass der kühne Entwurf eines Ingenieurbüros oder eines Verkehrsministers nicht die gewünschten Erfolge erbracht hat. Die derzeit vorherrschende Planungsmethodik muss signifikant erweitert werden. Nur eine Kombination aus Erfahrung, Modellierung, Simulation und Optimierung wird es ermöglichen, einen vernünftigen Mix aus Verkehrsträgern zu entwickeln, die Verkehrsträger intermodal zu verknüpfen und die Transportmittel bedarfsgerecht zu angemessenen Preisen zu Verfügung zu stellen.
Diese Vision ist mit (nicht unerheblichen) Anstrengungen realisierbar. Wenn die von uns skizzierte Planungsmethodologie entwickelt ist, wird Verkehrstechnik eine extrem innovative Schlüsseltechnologie sein, die weiterhin dazu beiträgt, dass unsere Städte lebenswert bleiben und unsere Wirtschaft optimal unterstützt wird.
4.1 Gefahren und Probleme
Wenn sich die oben dargestellten Überlegungen durchsetzen und tatsächlich die Planungswerkzeuge geschaffen werden sollten, die wir uns vorstellen, wird es spannend sein, die Entwicklung des Verkehrsmarktes zu beobachten. Änderungen von Verkehrsregulierungen und Vergaberegeln hatten (und haben) zum Teil ganz erhebliche Auswirkungen und können Märkte vollständig verändern. Dies geschieht u.a. dadurch, dass einige Marktteilnehmer neue Planungskonzepte entwickeln und dadurch andere vom Markt verdrängen.
So waren etwa die Umwälzungen des Flugverkehrsmarktes aufgrund der Liberalisierung durch „Open-Skies-Abkommen“ enorm. Wer kennt heute noch Pan Am oder TWA, einstmals die größten Fluggesellschaften der Welt? Sie sind u.a. deshalb verschwunden, weil sie mit der Marktentwicklung (neue Planungssysteme, Revenue Management etc.) nicht mithalten konnten. Im Flugverkehr gibt es einerseits Konzentrationsbewegungen (Lufthansa übernahm Austrian, Swiss,…), während gleichzeitig viele neue Fluglinien (insbesondere Billigflieger) entstehen. Im Bahnverkehr wird durch Deregulierungsbemühungen der EU versucht, die alten Monopole zu zerschlagen, um mehr Wettbewerb auf die Schiene zu bringen; im Fernverkehr hatte das bisher nur mäßigen Erfolg, während im Regionalverkehr deutliche Veränderungen sichtbar werden. Im ÖPNV besteht in manchen Regionen Deutschlands ein so ruinöser Wettbewerb, dass Ausschreibungsgewinner für regionale Buslinien nach wenigen Monaten ihre Lizenz zurückgeben müssen. Spannend wird es im deutschen Busfernverkehr, der erst kürzlich landesweit ermöglicht wurde. Wie viele der gerade entstehenden Anbieter wird es in 10 Jahren noch geben? Welcher Verkehrsträger wird bei welchen Distanzen dominieren, d.h., welche Strecken werden von Eisenbahnen, Bussen oder Flugzeugen bevorzugt bedient werden? Es gibt in einigen Städten eine Renaissance von Straßenbahnen, in wohlhabenden Megastädten entstehen weiterhin U-Bahn- und Light- Rail-Systeme. Wird langfristig in Städten nicht doch Busverkehr dominieren, wo Linienführungen flexibel und mühelos verändert werden können?
Ein großes Thema wird sein, breiten Konsens bei der Bewertung von Verkehrssystemen zu finden. Welche Kriterien für Qualität werden in verschiedenen Städten von Bedeutung sein und die Entscheidungen beeinflussen? Mit Sicherheit wird es Unterschiede geben zwischen den sich entwickelnden Metropolen in Entwicklungsländern und den Städten in Europa und Nordamerika. Mathematik kann helfen, die finanziellen Auswirkungen von unterschiedlichen Zielsetzungen zu berechnen. Wird der Individualverkehr zurückgedrängt, und wie soll das geschehen? Welche Lobbys oder Ideologien werden sich wo wie durchsetzen?
Irgendwann muss in solchen Entscheidungsprozessen politischer Konsens gefunden werden. Wir hoffen, dass dieser nicht auf ideologischen Überlegungen basiert, sondern auf realistischen Daten, harten Fakten und quantitativ sauberen und korrekten Überlegungen. Mathematik kann zu derartigen Entscheidungsprozessen durch Modellierung, Simulation und Optimierung einen signifikanten Beitrag leisten. Der Beitrag ist nicht statisch (überall dieselbe Lösung), mathematische Modelle sind regionalspezifisch modifizierbar, und Ideen für neue Verkehrskonzepte können mühelos in die Modelle eingebaut werden, so dass man Auswirkungen solcher Konzepte abschätzen kann, bevor man sich für ihren Einsatz entscheidet.
Was auch immer passiert, wie auch immer man Entscheidungen findet, am Ende wird man, wenn Verkehrssysteme einigermaßen effizient eingesetzt werden sollen, Planung und Steuerung der Systeme unter dem Einsatz von Mathematik durchführen müssen.
4.2 Wer wird die Planungsmethodik entwickeln und einsetzen?
Was muss passieren, welche Strukturen müssen entstehen, um die Verkehrsplanung so durchzuführen, wie wir das dargestellt haben?
Zunächst einmal müssen die notwendigen Daten ermittelt und erfasst werden, um die Modelle so zu bestücken, dass praxisnahe Antworten gegeben werden können. Mit der vorhandenen konzeptionellen Durchdringung der Verkehrstechnologie und der heute vorhandenen Informationstechnologie wird dies möglich sein. Die Mathematik muss die Theorie zu diesen Modellen und die entsprechende Algorithmik entwickeln, um realitätsnahe Modelle auch tatsächlich lösen zu können. Auch dies wird in naher Zukunft möglich sein. Eine Gefahr besteht: Es ist möglich, dass starke Marktteilnehmer die eigentlich erforderlich mathematische Algorithmik durch Trivialheuristiken ersetzen und mit Billigprodukten den Markt dominieren. Dies kann dazu führen, dass keine gute Planung erfolgt und diese vielleicht sogar schlechter ist als die händische Planung früher. Der Aufwand zur Entwicklung mathematischer Optimierungsverfahren wird sich nur lohnen, wenn am Ende die richtigen Werkzeuge zur Umsetzung vorhanden sind und eingesetzt werden.
Wer wird diese Modelle auf welche Weise bedienen? Natürlich werden dies Verkehrsingenieure (u.U. mit verschiedenen Ausbildungsgängen) sein. Deren Ausbildung muss die neu entstehende Planungsmethodik beinhalten, damit diese überhaupt sinnvoll eingesetzt werden kann. Welche Einrichtungen werden die Methodik verwenden? Wollen wir Superbehörden in Stadtverwaltungen aufbauen, die die Kommunikation mit den Bürgern und den Anbietern von Verkehrsdienstleistungen betreiben, daraus das passende Angebot ermitteln und über Ausschreibungen Aufträge vergeben? Wollen wir so etwas wie Ingenieurbüros für regionale/nationale Verkehrsinfrastrukturplanung, die entsprechende Software besitzen und in Kombination mit Stadtverwaltungen einsetzen, oder werden globale Betriebe entstehen, die in einigen Megastädten Verkehrskonzepte umgesetzt haben und diese dann anderen urbanen Regionen anbieten?
Wir wissen es nicht, aber wir sind der festen Überzeugung, dass wir uns auf dem Weg zu einer besseren lokalen und globalen Verkehrsplanung begeben müssen, um die anstehenden Herausforderungen meistern zu können. Der dabei entstehende Markt an Dienstleistungen (für Softwareanbieter etc.) wird sich entfalten und hoffentlich nicht zu globalen Monopolen führen. Genauso wenig wünschenswert wäre ein Trend hin zu atomistischen Marktsegmenten, die zu global ineffizienten Einzellösungen führen. Wir brauchen allerdings ausgezeichnete Software (deren Entwicklung und Unterhaltung teuer ist und daher nicht von Kleinstfirmen betrieben werden kann), die die Möglichkeit bietet, wirklich gute und der Situation angemessene Planung durchzuführen. Wir brauchen Anbieter von Verkehrssystemen, die bereit sind, die Veränderungen mitzutragen und Politiker, die sich diesen Herausforderungen auf einem Markt stellen, der sowohl globale als auch lokale Komponenten hat.
Bei der Konzeption des Artikels haben wir uns gefragt, warum soviel mehr Mathematik in der Fahrzeugentwicklung verwendet wird als in der Verkehrsplanung? Der Grund, so unsere Analyse, ist die Messbarkeit von Entwicklungserfolgen. Historisch hat sich gezeigt, dass die Ingenieure, die mehr Mathematik verwenden, in der Regel zu besseren Lösungen kommen. Die Qualität technischer Systeme (Luftwiderstand eines Fahrzeugs, Spritverbrauch eines Motors, …) ist meistens direkt und relativ einfach messbar. Technische Parameter dieser Art sind mühelos vergleichbar und spielen bei Kaufentscheidungen eine große Rolle; und so trifft der Markt Entscheidungen über den Erfolg von Angeboten. Die Qualität von Nahverkehrssystemen ist dagegen ein relativ weicher Faktor. Als Bürger einer Stadt hat man keine wirkliche Wahl. (Man kann sich keinen besseren Nahverkehr kaufen.) Niemand wird aufgrund schlechten Nahverkehrs umziehen, es sei denn, die Situation ist wirklich katastrophal. Diese geringe Konkurrenzsituation verleitet dazu, den Einsatz von Planungswerkzeugen weniger intensiv voranzutreiben als eigentlich sinnvoll wäre. Wir hoffen, dass sich das in Zukunft ändern wird und die Möglichkeiten genutzt werden, die die Mathematik bietet.
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