FGSV-Nr. FGSV 002/116
Ort Stuttgart
Datum 22.03.2017
Titel Raum und Verkehr – Welche Interventionen können zur Reduzierung klimawirksamer Verkehrsemissionen beitragen?
Autoren Prof. Dr.-Ing. Christan Holz-Rau, Joachim Scheiner
Kategorien HEUREKA
Einleitung
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1 Einleitung

Die Verkehrsentwicklung der letzten Jahrzehnte ist für Deutschland und andere wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten durch folgende Stichpunkte gekennzeichnet:

1. Deutliche Zunahme der privaten Motorisierung und der Pkw‐Nutzung.

2. Deutliche Zunahme der zurückgelegten Distanzen im Personenverkehr, vor allem im Pkw‐Verkehr.

3. Weitgehende Konstanz der Wegeanzahl und durchschnittlichen Zeitaufwendungen im Alltagsverkehr je Person.

4. Deutliche Zunahme der transportierten Mengen und zurückgelegten Distanzen im Güterverkehr, vor allem im Lkw‐Verkehr.

5. Überdurchschnittliche Zunahme der überregionalen und internationalen Verflechtungen.

6. Überdurchschnittliche Zunahme des Flugverkehrs und der Seeschifffahrt.

Trotzdem konnte in den letzten Jahrzehnten in vielen Bereichen die negativen Verkehrsauswirkungen reduziert werden. Die schweren und vor allem tödlichen Unfälle sind deutlich gesunken. Dies gilt auch für die Schadstoffemissionen (CO, NOx…), obwohl es in vielen Städten zu einer Überschreitung von Immissionsgrenzwerten kommt (BMVI 2016).

Weitgehend erfolglos sind dagegen die bisherigen Bemühungen um eine Reduzierung der CO2‐ Emissionen. Die deutschen Verkehrsstatistiken weisen in den letzten Jahren eine weitgehende Konstanz der CO2‐Emissionen aus (BMVI 2016), blenden dabei aber den internationalen Luftverkehr und die Seeschifffahrt weitgehend aus. Dabei besteht das erklärte Ziel die klimawirksamen Emissionen bis zum Jahr 2050 auf null zu senken (Bundesregierung 2016).

Gegen die bisherige und prognostizierte Zunahme des Verkehrsaufwandes (gleichbedeutend Verkehrsleistung), die dominant im Pkw‐ und Lkw‐Verkehr abgewickelt wird, verweisen Leitfäden und Verkehrsentwicklungspläne zusätzlich zu einer verträglicheren Verkehrsabwicklung auf die Strategien der Verkehrsvermeidung und Verkehrsverlagerung (z. B. UBA 2013, DIfU 2011). Der Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung betont vor allem die Möglichkeiten der Verkehrsverlagerung (Bundesregierung 2016: 51f. und 55f.). Kommunen und Regionen sollen danach durch eine abgestimmte Entwicklung der Standortstrukturen und der Verkehrsangebote, durch eine Förderung des Radverkehrs und des ÖV (Öffentlicher Verkehr), teilweise auch durch Einschränkungen des MIV (motorisierter Individualverkehr) Verkehr vermeiden und modal verlagern.

Diese Strategien basieren empirisch vor allem auf beobachteten Unterschieden im Verkehrshandeln der Wohnbevölkerung unterschiedlicher Teilräume. Die zurückgelegten Distanzen und die Pkw‐Nutzung der Wohnbevölkerung sind:

- in kleinen Gemeinden höher als in Mittel‐ und Großstädten,

- in Umlandgemeinden höher als in den Kernstädten,

- am Stadtrand höher als in den Innenstädten und am Innenstadtrand,

- in reinen Wohngebieten höher als in nutzungsgemischten Quartieren.

Zur Erklärung der Dynamik beschreibt Wegener (2009) einen Regelkreis von Flächennutzung und Verkehr (s. Abb. 1), nach dem sinkende Raumwiderstände die Erreichbarkeit verbessern und damit Veränderungen der Flächennutzungen anstoßen. In der Folge steigt der Verkehrsaufwand und stößt eine weitere Reduzierung der Raumwiderstände an.

Bild 1: Regelkreis von Verkehr und Flächennutzung (Quelle: Wegener 2009:20)

Eine integrierte Stadt‐ und Verkehrsplanung soll dagegen mit ihren Strategien der Verkehrsvermeidung und modalen Verlagerung diese Entwicklung umkehren können. Dies fußt auf folgenden Wirkungsannahmen:

Eine nutzungsgemischte und flächensparsame Standortentwicklung, die sich an den ÖV‐Netzen orientiert, reduziert den Verkehrsaufwand und die MIV‐Abhängigkeit. Sie ermöglicht eine Erhöhung der Raumwiderstände. Höhere Raumwiderstände, vor allem höhere Transportkosten im MIV, reduzieren den Verkehrsaufwand, stärken den öffentlichen Verkehr sowie den Radverkehr und unterstützen ihrerseits eine nutzungsgemischte, flächensparsame und ÖV‐orientierte Standortentwicklung. Die bisherigen „Wechselwirkungen zwischen Raum und Verkehr“, die zu einer Zunahme der (MIV‐)Verkehrsaufwandes und der Verkehrsabhängigkeiten geführt haben, werden also umgedreht und reduzieren so die Nutzung sowie den Verkehrsaufwand vor allem des Pkw und Lkw.

Im Mittelpunkt der folgenden Diskussion steht der Personenverkehr, auch wenn der Güterverkehr ebenfalls erheblich mit besonderen Steigerungsraten zur Verkehrsexpansion sowie zu den negativen Folgen des Verkehrs beiträgt. Wir weisen im analytischen Teil (Kapitel 2) anhand einiger empirischer Befunde auf weitere Treiber der bisherigen und unseres Erachtens aus zukünftigen Verkehrsexpansion hin und stellen damit die Umkehrbarkeit dieses Prozesses in Frage. Diese liegen weitgehend außerhalb des Handlungsfeldes einer integrierten Standort‐ und Verkehrsplanung und stellen überwiegend gesellschaftlich erwünschte Veränderungen dar.

In Kapitel 3 stellen wir darauf gestützte konzeptionelle Fragen:

- Zur Lösung welcher Verkehrsprobleme kann eine integrierte Verkehrsplanung (vorrangig auf kommunaler und regionaler Ebene) beitragen und zur Lösung welcher Problemfelder nicht?

- Welche Akteure und Maßnahmen sollten dann zur Lösung der verbleibenden Problemfelder beitragen?

Da sowohl die Planungs‐ als auch die Umsetzungsressourcen beschränkt sind, schätzen wir dabei das Maß der erwarteten Wirkungen ein und betonen die jeweils besonders wirksamen Ansätze.

2 Gesellschaftlicher Wandel, Raum und Verkehr

Zahlreiche Untersuchungen haben sich bereits mit den Zusammenhängen zwischen Standortstrukturen und Strukturen des Alltagsverkehrs befasst (Zusammenfassung in Holz‐Rau, Scheiner 2016)4. Danach legt die Bevölkerung von Großstädten erheblich geringere Distanzen zurück als die Bevölkerung kleinerer Gemeinden. Gleichzeitig steigt die Alltagsdistanz innerhalb der Großstädte von innen nach außen, teilweise mit Nebenminima in Nebenzentren. Dabei nutzt die Wohnbevölkerung von Gemeinde‐ und Quartierstypen mit unterdurchschnittlichen Alltagsdistanzen seltener den Pkw, geht häufiger zu Fuß oder fährt mit ÖV und Rad. Derartige Befunde begründen die Hoffnung durch eine abgestimmte Planung von Standortstrukturen und Verkehr den Verkehrsaufwand und die MIV‐Nutzung reduzieren zu können. Die folgenden Überlegungen zeigen aber, dass dies, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt möglich ist:

- Die beobachteten Unterschiede sind teilweise das Resultat von Selbstselektionsprozessen. Auch wenn sich im Vergleich zwischen Standorten mit gutem (A) und schlechtem ÖV‐Angebot (B) Unterschiede in der Verkehrsmittelnutzung zeigen, darf man nicht erwarten, dass sich bei einer ÖV‐Verbesserung in (B) das gleiche Verhalten einstellt wie in (A). Denn am Standort (A) leben besonders viele „ÖV‐affine“ Personen. Umgekehrt leben „ÖV‐Averse“ häufiger an Standorten ohne guten ÖV. Diese ÖV‐Aversen werden sich nach einer Angebotsverbesserung in (B) nicht so verhalten wie die ÖV‐Affinen in (A). Ein möglicher Effekt bleibt daher deutlich geringer als der vorher beobachtete Unterschied. Sinngemäß gilt dies für alle Verhaltensunterschiede, die sich zwischen Ausstattungs‐, Gemeinde‐ und Gebietstypen zeigen, also auch für die geringeren Alltagsdistanzen in den Großstädten und deren Innenstädten oder die höheren Fernreisedistanzen an diesen Standorten (Holz‐Rau et al. 2014).

- Die beobachteten Unterschiede sind zeitlich nicht stabil. Während nach einer bundesweiten Verkehrsbefragung aus dem Jahr 1976 (KONTIV 76) die geringsten Durchschnittsdistanzen in Klein‐ und Mittelstädten beobachtet wurden, hat sich dieses Minimum bei gleichzeitig in allen Kategorien steigenden Distanzen inzwischen bis in die Millionenstädte verschoben. Die bindende Wirkung guter Angebote in der eigenen Gemeinde hat über die vergangenen Jahrzehnte abgenommen. So steigen in allen Großstädten gleichzeitig die Einpendler‐ und die Auspendlerzahlen. Heute binden nur noch die Millionenstädte, bei allerdings ebenfalls steigenden Ein‐ und Auspendlerzahlen und vergleichsweise hohen Binnendistanzen, die große Mehrheit der Bevölkerung an die Wohnortgemeinde, während die Klein‐ und Mittelstädte inzwischen deutlich höhere Alltagsdistanzen aufweisen.

- Die Gemeinde und Quartierstypen mit geringen Distanzen der Wohnbevölkerung lassen sich nicht als Planungsleitbild „verallgemeinern“. So weisen große Städte und Lagen in der Innenstadt einen Bedeutungsüberschuss auf. Die Anzahl der Arbeitsplätze ist höher als die Anzahl der Erwerbstätigen in den Gemeinden, das Einzelhandelsangebot in einem Quartier stützt sich auch auf die Nachfrage der Bevölkerung aus anderen Quartieren. Entsprechend wäre die zusätzliche Ansiedlung von Arbeitsplätzen in kleineren Gemeinden (mit möglichen Verkehrsspareffekten vor Ort) gleichzeitig mit einer Reduzierung der Arbeitsplätze in größeren Städten sowie mit längeren Wegen an anderen Orten verbunden.

- Die Ursachen möglicher Kausalbeziehungen müssen sich zielgerichtet gestalten lassen. So legt die Bevölkerung innenstadtnaher Quartiere im Durchschnitt kürzere Wege zurück als die Bevölkerung der Umlandgemeinden und der Quartiere am Stadtrand. Die Bewohner profitieren von dem Bedeutungsüberschuss im Quartier und von der Nähe zur Innenstadt. Aber die innenstadtnahen Flächen sind wie die Flächen der Innenstädte begrenzt und weitgehend bebaut. Die Randwanderung der Bevölkerung in den Ballungsräumen war gerade Folge dieser nach wie vor bestehenden Flächenknappheit. So leben z. B. in der Stadt München heute 1,3 Mio. Menschen, etwa genauso viel wie 1970. Diese „stabile“ Bevölkerungszahl und eine steigende Anzahl der Arbeitsplätze waren verbunden mit erheblicher Neubautätigkeit. Denn die Flächenansprüche aller Nutzungen sind erheblich gestiegen. Im gleichen Zeitraum hat die Bevölkerung im Umland der Stadt München um 850.000 Einwohner zugenommen. Diese leben vor allem in kleineren Gemeinden. Eine Verdichtung der Stadt München, die dieses Wachstum in die Stadt geführt hätte, ist kaum vorstellbar. Bei den heute beobachteten Reurbanisierungsprozessen geht es dagegen um wesentlich geringere Zuwächse.

- Planungskonzepte müssen gleichzeitig mehrheitsfähig und finanzierbar sein, um umgesetzt zu werden. Ein kapazitätsreduzierender Rückbau des Hauptverkehrsstraßennetzes, der Rückbau großer Flughäfen sowie eine drastische Verteuerung des Auto‐ und Flugverkehrs erscheinen politisch kaum mehrheitsfähig. Massive Verbesserungen im ÖV scheinen kaum finanzierbar.

Ergänzend zur räumlichen Entwicklung, die trotz aller oben angeführten Gegenargumente zumindest auch zur Verkehrsexpansion beigetragen, gibt es weitere nach unserer Ansicht wichtige Treiber, die weitgehend oder gänzlich außerhalb der Handlungsfelder einer integrierten Standort‐ und Verkehrsplanung liegen

- Die Distanzen im Alltagsverkehr und stärker noch im Fernverkehr sind in höheren Einkommensgruppen besonders weit. So beträgt die Differenz zwischen der höchsten und niedrigsten Einkommenskategorie (oberste und unterste 10%) im Alltagsverkehr 3.500 km/Person und Jahr und im Fernverkehr 7.700 km/Person und Jahr (Holz‐Rau; Scheiner; Sicks 2014: 498) bei einem Durchschnitt von 12.500 bzw. 7.700 km/Person und Jahr (ebd.: 500). Diese Unterschiede betreffen insbesondere die Reisen mit dem Pkw und Flugzeug (Reichert; Holz‐Rau 2014). Auch wenn es sich bei diesen Ergebnissen um einen zeitlichen Querschnitt handelt, erscheint der längerfristige Wohlstandszuwachs mit einer Zunahme der Distanzen verbunden, im Alltagsverkehr vor allem mit dem MIV, im Fernverkehr vor allem mit dem Flugzeug. Dies wird verstärkt durch den bisherigen Trend sinkender Kosten im Luftverkehr.

- Nahezu parallele empirische Befunde zeigen sich (unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Einkommenseffekte) nach Bildungsniveaus. Personen mit Hochschulabschluss sind im Alltagsverkehr 1.700 km/a und im Fernverkehr 7.200 km/a weiter unterwegs als Personen mit Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss (Holz‐Rau; Scheiner; Sicks 2014: 498). Höhere Bildungsabschlüsse bedeuten eine höhere Spezialisierung auf dem Arbeitsmarkt, und bessere Sprachkenntnisse. Diese sind gleichzeitig Kompetenz und Anreiz für die Suche nach spezialisierten, gut dotierten Arbeitsverhältnissen unter Akzeptanz dann meist längeren Berufswege, aber auch für berufliche und private Auslandsreisen und Auslandsaufenthalte.

- Mit der Frauenerwerbstätigkeit ist deren private Motorisierung deutlich gestiegen. In jüngeren Kohorten finden sich bei gleicher Erwerbstätigkeit kaum noch Unterschiede bei Pkw‐Verfügbarkeit, Distanzen und Pkw‐Nutzung im Alltagsverkehr zwischen Frauen und Männern. Dabei hat sich die Angleichung vor allem auf dem Niveau der Männer vollzogen (Konrad 2016). Bisher sind die Distanzen von Frauen im Fernverkehr geringer als die der Männer. Dies ist allein auf die höhere Geschäftsreisetätigkeit von Männern zurückzuführen und weist auf bisher unterschiedliche Berufsprofile von Männern und Frauen hin (Holz‐Rau; Scheiner; Sicks 2014, S. 497ff.).

- Im letzten Jahrzehnt gibt es dagegen in einigen Ländern Anzeichen für eine Abnahme der Pkw‐Nutzung und einen Rückgang der Alltagsdistanzen unter jungen Männern (Kuhnimhof; Armoogum; Buehler et al. 2012, Frändberg; Vilhelmson 2011). Ob diese insgesamt geringfügige Abnahme der Distanzen auch unter Einbeziehung von Fernreisen gilt, ist bisher nicht untersucht. Wir vermuten vielmehr, dass die abnehmende Pkw‐Nutzung und die zunehmende Multimodalität im Kontext zunehmender Fernreisen stehen. Denn für diejenigen, die sich häufig weit von ihrem Wohnort entfernt aufhalten, sinkt die Attraktivität eines eigenen Pkw am Wohnort.

- Private (und berufliche) Netzwerke lassen sich mit Telekommunikationsmitteln heute leichter über große Entfernungen bilden und aufrechterhalten, z. B. bei (ehemaligen) Studenten die Kontakte aus einem Auslandsstudium oder die Partnersuche im Internet. Dies begründet auch die Zunahme einer Vielzahl von Formen multilokalen Wohnens, die mit entsprechend langen Wegen verbunden sind ('Living Apart Together'‐Paare, pendelnde Kinder in Nachtrennungsfamilien, Fernpendler‐Ehen etc. (Hesse; Scheiner 2007)).

Diese gesellschaftliche Entwicklung einschließlich der Entwicklung von Raum und Verkehr sehen wir daher nicht als Regelkreis, sondern als eine Wachstumsspirale. Wesentliche Treiber liegen außerhalb der Standort‐ und Verkehrsplanung, in einer Vielzahl, mehrheitlich gesellschaftlich gewünschter sozialer, ökonomischer und technologischer Veränderungen (Abb. 2). Dabei kann es in Zukunft durchaus zu einer reduzierten Bedeutung des Pkw und der Distanzen im Alltagsverkehr kommen, die Chancen für eine höhere Lebensqualität in den Städten bieten. Jedoch werden diese mit Blick auf die klimarelevanten Emissionen vermutlich durch die Zunahme des Fernverkehrs überkompensiert.
Die Räume, in denen sich diese Entwicklungen (zunehmende Multimodalität, abnehmende Pkw‐ Nutzung und zunehmender Fernverkehr) besonders ausprägen, sind die hochverdichteten Räume, deren Zentren und teilweise auch deren Peripherie. Damit fügen sich die aktuellen Prozesse der Reurbanisierung bzw. des Wachstums der großen Ballungsräume und die (etwas) geringere Pkw‐ Nutzung junger Erwachsener in den Prozess der weiteren Verkehrsexpansion: als Bedeutungsverlust des Pkw im Alltag bei paralleler Zunahme des Fernverkehrs.

Bild 2: Soziale, ökonomische und technologische Treiber der Standort‐ und Verkehrsentwicklung (eigene Abbildung in Anlehnung an Wegener 2009)

Zusammenfassend vermuten wir: Die räumlich‐kausalen Unterschiede im Verkehrsverhalten werden in der Planungsdiskussion systematisch überschätzt, während die verkehrsinduzierenden Wirkungen anderer gesellschaftlichen Entwicklungen in der Planungsdiskussion eher ausgeblendet werden. Die planerischen Hoffnungen auf eine verkehrsvermeidende und modal verlagernde Standortplanung, vor allem als Beitrag zur Reduzierung klimawirksamer Emissionen, halten wir daher für übertrieben.
Gleichzeitig zeigen die Analysen, dass in der Klimaschutzdebatte neben dem Alltagsverkehr der Fernverkehr ein deutlich höheres Gewicht erhalten sollte.

3 Integrierte Verkehrsplanung, Verkehrspolitik und Nachhaltigkeit

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus für eine integrierte Verkehrsplanung und Verkehrspolitik? Unter einer integrierten Verkehrsplanung versteht man in der Regel eine mittel‐ bis langfristige strategische Planung ‐ meist kommunal, selten regional. Das typische Planwerk ist der Verkehrsentwicklungsplan (FGSV 2013).

Eine integrierte Verkehrsplanung bezieht alle Verkehrsmodi sowie den Personen‐ und Güterverkehr ein. Sie ist eng mit anderen Planungsdisziplinen, insbesondere mit der Standortplanung, verbunden und verknüpft mit räumlich benachbarten sowie räumlich über‐ und untergeordneten Planungen und Politiken. Eine integrierte Verkehrsplanung beteiligt und informiert die Betroffenen sowie die Planungs‐ und Entscheidungsträger (Abb. 3).

Bild 3: Integrationsebenen einer integrierten Verkehrsplanung (eigene Abbildung)

Die Zielsysteme integrierter Verkehrsplanungen hängen von der jeweiligen Planungsaufgabe ab. In den komplexen Zielsystemen bestehen häufig Ziel‐ und Interessenkonflikte, z. B. bei Infrastrukturmaßnahmen zwischen dem Ziel geringer Reisezeiten und einem geringen Flächenbedarf (Abb. 4).

Als Strategien einer integrierten Verkehrsplanung gelten die Verbesserung oder Sicherung der Erreichbarkeit, die Reduzierung zurückgelegter Distanzen (Verkehrsvermeidung), die Verlagerung auf verträgliche Verkehrsmodi sowie die verträgliche Abwicklung des Verkehrs. Auch zwischen den Strategien können Konflikte bestehen, z. B. zwischen der Verbesserung der Erreichbarkeit und der Verkehrsvermeidung.

Die relevanten Handlungs‐ und Politikfelder sind vielfältig. Sie reichen von der Gestaltung der Infrastruktur über die Standortplanung oder Ordnungspolitik bis zur Information.

Bild 4: Ziele, Strategien, handlungs‐ und Politikfelder einer integrierten Verkehrsplanung (eigene Abbildung)

3.1 Nachhaltigkeit in der kommunalen und regionalen Verkehrsplanung

Für die folgenden Überlegungen zur Wirksamkeit einer integrierten Verkehrsplanung auf kommunaler oder regionaler Ebene haben wir einen unseres Erachtens typischen Maßnahmenkatalog aufgestellt und schätzen grob ein, welche Auswirkungen dieser auf den strategischen Ebenen besitzt und welche Effekte hinsichtlich des hier beispielhaft skizzierten Zielsystems zu erwarten sind. Ergänzt wird die Betrachtung durch den Zeithorizont bis zum Maßnahmenbeginn sowie bis zur vollständigen Wirksamkeit (Abb. 5). Zu diesen groben Einschätzungen wird es sicher unterschiedliche Auffassungen geben, abhängig davon:

- wie man sich konkret die Ausgestaltung der Maßnahmen vorstellt und

- was man unter starken oder schwachen Wirkungen versteht.

Unseres Erachtens müsste sich aber eine weitgehende Übereinstimmung zu folgenden Kernaussagen herstellen lassen:

- Insbesondere die seitens der Verkehrsplanung geforderte (allerdings von der Stadtplanung umzusetzende) nutzungsgemischte, kompakte und am ÖV orientierte Stadt‐ und Regionalentwicklung sichert oder verbessert die Erreichbarkeit und reduziert die MIV‐ Abhängigkeit. Auf den drei anderen Strategieebenen sind nur geringe Effekte zu erwarten. Die Vermeidungspotenziale durch Maßnahmen auf kommunaler und regionaler Ebene werden aufgrund der vorherigen Argumentation als gering eingeschätzt.

- Auch andere typische Ansätze auf kommunaler Ebene, wie die Förderung der Nahmobilität, des ÖV, des Radverkehrs und die barrierefreie Gestaltung der Verkehrsangebote, verbessern die Erreichbarkeit und reduzieren die Abhängigkeit vom Pkw. Verlagerungseffekte sind dabei abhängig vom Maßnahmenmix und von begleitenden Einschränkungen im MIV, deren Umsetzung allerdings häufig unterbleibt.

- Dagegen führen z. B. die Umgestaltung von Straßenräumen zugunsten des Fuß‐ und Radverkehrs, Geschwindigkeitsbegrenzungen und -kontrollen zu einer verträglicheren Verkehrsabwicklung. Je nach Art und Umfang der Umgestaltungen können diese Maßnahmen die Erreichbarkeit für Fußgänger, Radfahrer und ÖV‐Nutzer verbessern, umgekehrt für den Pkw‐ und LKW‐Verkehr einschränken.

- Eine integrierte Verkehrsplanung auf kommunaler und regionaler Ebene bleibt gegenüber der besonders klimabelastenden Zunahme des überregionalen und internationalen Personen‐ und Güterverkehr wirkungslos, kann aber die Lebensqualität in den Städten deutlich erhöhen.

Bild 5: Qualitative Einschätzung der Effekte verkehrsrelevanter Interventionen auf kommunaler und regionaler Ebene (eigene Abbildung)

Auf der Zielebene spiegeln sich diese Einschätzungen. Viele Maßnahmen der kommunalen und regionalen Verkehrsplanung können zur Stadtraumqualität beitragen und in der Summe ihrer Wirkungen die Lebensqualität in den Städten verbessern. Dabei ist eine kompakte Stadtentwicklung eine zentrale Voraussetzung zum Erreichen des 30 ha‐Ziels. Nutzungsmischung, Flächensparsamkeit und eine am ÖV orientierte Stadt‐ und Regionalentwicklung können darüber hinaus die erforderlichen Infrastrukturkosten senken.

Viele Ansätze lassen sich kurzfristig beginnen. Strukturprägend werden insbesondere die siedlungsstrukturellen Maßnahmen aber erst auf lange Frist, da sich die bestehenden Standortstrukturen der Städte und Regionen nur sehr langsam verändern (lassen).

Die Überlegungen zur kommunalen und regionalen Verkehrsplanung zeigen hinsichtlich der Zielerreichung deutliche Lücken. Während Maßnahmen der kommunalen und regionalen Verkehrsplanung zur Erreichbarkeitssicherung, zur Qualität des Stadtraums und als kompakte und nutzungsgemischte Stadtentwicklung auch zur Reduzierung des Flächenverbrauchs beitragen, sind die diskutierten Maßnahmen zur Reduzierung von Partikel‐ und NOx‐Emissionen und Immissionen, zur Reduzierung der Lärmbelastung und der CO2‐Emissionen kaum wirksam. Damit stellt sich zunächst die Frage nach weiteren Maßnahmen auf kommunaler oder regionaler Ebene.

Im Bereich der Lärmimmissionen gibt es hierzu einige Ansätze, vor allem:

- Lärmmindernde Straßenbeläge,

- ein generell guter Erhaltungszustand der Straßen,

- temporäre Fahrverbote, vor allem Nachtfahrverbote für Lkw,

- Lkw‐Routen zur Umfahrung hoch belasteter Straßenzüge und Bereiche,

- Tempolimits,

- Verkehrstechnische Steuerung zur Homogenisierung des Verkehrsablaufs,

- Modernisierung der Flotte des ÖV und anderer kommunaler Fahrzeugflotten,

- Modernisierung anderer lokaler Fahrzeugflotten auf Anregung, ggfs. durch Förderung der Kommunen,

- Lärmschutz an Gebäuden und

- Baustrukturen, die den Lärm aus empfindlichen Bereichen heraushalten.

Hinsichtlich der Partikel‐ und NOx‐Immissionen erscheint uns das Maßnahmenspektrum geringer:

- Umweltzonen,

- temporäre Fahrverbote,

- Lkw‐Routen zur Umfahrung hoch belasteter Straßenzüge und Bereiche,

- Verkehrstechnische Steuerung zur Homogenisierung des Verkehrsablaufs,

- Modernisierung der Flotte des ÖV und anderer kommunaler Fahrzeugflotten,

- Modernisierung anderer lokaler Fahrzeugflotten auf Anregung, ggfs. durch Förderung der Kommunen.

Hinsichtlich der CO2‐Minderung halten wir nur wenige kommunale oder regionale Maßnahmen für wirksam:

- Verkehrstechnische Steuerung zur Homogenisierung des Verkehrsablaufs,

- Modernisierung der Flotte des ÖV und anderer kommunaler Fahrzeugflotten,

- Modernisierung anderer lokaler Fahrzeugflotten auf Anregung, ggfs. durch Förderung der Kommunen.

Diese werden insgesamt nur einen geringen Beitrag zur CO2‐Reduzierung leisten können. Da die Reduzierung der CO2‐Emissionen immer mehr in den Mittelpunkt rückt, stellen wir abschließend die Frage nach Interventionsmöglichkeiten anderer Akteure in diesem Bereich.

3.2 Zum notwendigen Rahmen einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung

Aus den bisherigen Überlegungen ziehen wir den Schluss, dass kommunale und regionale Verkehrskonzepte die verkehrsbedingten CO2‐Emissionen bei Weitem nicht im erforderlichen Maße reduzieren können. Auch wenn zahlreiche Kommunen ihre Verkehrsplanung zum Gegenstand von Klimaschutzkonzepten machen, bleibt deren Beitrag zur Reduzierung der CO2‐Emissionen gering. Die teilweise vorliegenden Wirkungsprognosen erscheinen eher überzogen und beruhen teilweise auf unrealistischen Wirkungsannahmen.

Bild 6: Qualitative Einschätzung der Effekte verkehrsrelevanter Interventionen des Bundes und der EU sowie technische Innovationen (eigene Abbildung)

Daher stellt sich die Frage nach stärker wirksamen Ansätzen und den Möglichkeiten weiterer Akteure. Als relevante Akteure betrachten wir hier den Bund und die EU in ihren rahmensetzenden Funktionen und die Fahrzeughersteller als Verursacher. Wir stellen hier die Frage nach den CO2‐Emissionen in den Mittelpunkt und ergänzen weitere Entwicklungen wie das automatisierte Fahren und die Infrastrukturplanung als Randnotiz (Abb. 6).

Auf dieser Ebene finden sich wirksame Ansätze zur Reduzierung der Emissionen in Form von Grenzwertsetzungen für Emissionen und Verbrauch sowie die daraus resultierende Anpassung der Fahrzeugtechnik. Dabei verweisen die Erfahrungen mit dem Abgasbetrug der letzten Jahre durch Teile der Automobilindustrie auf notwendige Kontrollen, stellen den Ansatz aber nicht grundsätzlich infrage. Die kontinuierliche Verschärfung der Emissionsgrenzwerte und die eher zurückhaltende Einführung von Verbrauchsgrenzwerten in den letzten Jahrzehnten sind trotz dieses Betruges eine Erfolgsgeschichte. Sie machen aber im Hinblick auf die Überschreitung von Immissionsgrenzwerten in den Städten und gleichzeitig im Hinblick auf die Kraftstoffverbräuche deutlich:

Wenn die Zulassungsvoraussetzungen nicht streng genug reglementiert und überwacht werden, konzentriert sich die technische Entwicklung auf immer größere Fahrzeuge mit immer stärkeren Motoren, auf Fahrzeuge also, die immer schlechter für die Nutzung in den Städten geeignet sind. In der langfristigen Perspektive bietet nur ein Verbot des Einsatzes von Verbrennungsmotoren eine klare Perspektive für die Fahrzeugentwicklung. Auch dieser sollte mit Verbrauchsgrenzwerten verbunden sein. Denn auch alternative Antriebe verbrauchen Energie und auch die Rohstoffe für Speichermedien sowie regenerativ erzeugte Energien sind begrenzt.

4 Schlussbemerkungen

Eine sozial gerechte, ökonomisch leistungsfähige und ökologisch verträgliche Verkehrsentwicklung ist eine konfliktträchtige Aufgabe, die weit über den engeren Verkehrsbereich hinausgeht. Einen wesentlichen Beitrag leistet eine integrierte Verkehrsplanung als Verknüpfung der strategischen Verkehrsplanung mit der Stadt‐ und Regionalplanung sowie als enge Kooperation kommunaler und regionaler Institutionen. Eine solche Planung hat wesentlichen Einfluss auf die Verkehrsstrukturen vor Ort, auf die Erreichbarkeitsverhältnisse, auf die Verkehrssicherheit, den Flächenverbrauch und Immissionen, auf Kosten und Finanzierbarkeit des Verkehrs…, auf Lebensqualität und Funktionsfähigkeit.
Auf der Ebene des Bundes und der EU liegt dagegen die primäre Verantwortung für den Klimaschutz im Verkehrsbereich, der nur durch ein klares Ende des Antriebskonzepts des Verbrennungsmotors zur erreichen ist. Nur dies führt zu den angestrebten Null‐Emissionen im Verkehrsbereich und entspricht dem Prinzip, Probleme jeweils dort zu lösen, wo die entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen liegen. Im Moment zeigt sich drastisch formuliert ein umgekehrtes Bild sich gegenseitig verstärkenden Politikversagens und einer Selbstüberschätzung der (Verkehrs‐)Planung:

- Der Bund beschränkt sich auf eine symbolische Politik der Technikentwicklung, anstatt durch konsequente Rahmensetzungen mithilfe der EU wirksamen Klimaschutz zu betreiben.

- Gleichzeitig fördert der Bund kommunale Klimaschutzkonzepte im Verkehrsbereich, die weitgehend unwirksam bleiben müssen, aber als Beitrag zum Klimaschutz gelten.

- Diese Förderung wird seitens der Kommunen dankbar angenommen und für durchaus sinnvolle, aber weitgehend klimaunwirksame Verkehrskonzepte genutzt. Die Kommunen entlasten damit vordergründig den Bund von den nur durch ihn und die EU lösbaren Aufgaben und tragen letztlich mit dazu bei, dass die längerfristigen CO2‐Minderungsziele verfehlt werden. Die Langfristigkeit vieler Vorhaben erschwert dabei die Wirkungskontrolle.

- Verkehrswissenschaft und -planung stützen diesen Prozess, indem sie die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen überschätzen, später entschuldigend auf nicht umgesetzte Teilkonzepte verweisen und auf strategischer Ebene ein Mehr an (ebenfalls unwirksamen) Interventionen fordern. Dabei ist ein solches Mehr meist nicht wirksamer und häufig nicht realisierbar. Denn hierzu fehlen politische Mehrheiten und/oder die erforderlichen Ressourcen für die Ausführungsplanung und Umsetzung.

Verkehrsplanung und Verkehrspolitik sind daher gefordert, die jeweiligen Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten nach ihren jeweiligen Wirkungsmöglichkeiten zu verteilen. Die Planung und Politik von Kommunen und Regionen gestaltet die Verkehrs‐ und Lebenssituationen vor Ort. Die Auswirkungen auf die bisher und wohl auch weiterhin dominante Verkehrsexpansion sind aber gering, da sich diese immer stärker aus überregionalen und internationalen Verflechtungen speist, die ohnehin außerhalb des Wirkungsbereichs der Kommunen liegen.

Aber auch auf anderen Ebenen ist der Einfluss auf die Verkehrsentwicklung gering. Denn die Verkehrsexpansion ist ein (wenn auch unerwünschter Nebeneffekt) vieler erwünschter gesellschaftlicher Entwicklungen. Entsprechend hoch ist die Bedeutung einer verträglicheren Abwicklung des Verkehrs. Die Reduzierung der großräumigen verkehrsbedingten Umweltfolgen lässt sich nur durch konsequente Grenzwertsetzungen bis hin zum Verbot von Verbrennungsmotoren erreichen. Die hierfür maßgeblichen Akteure sind der Bund gemeinsam mit der EU sowie die Fahrzeughersteller.

An die Verkehrsplanung und Verkehrswissenschaft richtet sich gleichzeitig der Appell, nicht nur nach weiteren Konzepten auf allen Ebenen zu suchen, sondern auch deren jeweilige Unwirksamkeit zu thematisieren. Als Beispiel:

Die Förderung des Radverkehrs führt z. B. zu mehr Bequemlichkeit, zu einem zügigeren und sicheren Fortkommen mit diesem besonders stadtverträglichen Verkehrsmittel. Allein dies sind Gründe genug, den Radverkehr zu fördern. Diese Förderung mag auch das Verkehrsaufkommen ein wenig zugunsten des Radverkehrs verlagern, teilweise vom Fußverkehr, teilweise vom ÖV und teilweise vom Pkw.

Dabei bleibt aber der Beitrag zum Klimaschutz gering, da die Verlagerung vom MIV nur relativ kurze Wege betrifft, so dass selbst ein verdoppelter Radverkehrsanteil den Verkehrsaufwand des MIV nur geringfügig reduziert.

Aber umgekehrt kann eine Verdopplung des Radverkehrsanteils in einer Stadt vor allem in der Innenstadt und am Innenstadtrand zu einer merklichen Reduzierung des MIV‐Aufkommens beitragen, wenn dort für möglichst viele kurze Wege das Auto stehen bleibt. Dagegen verlieren selbst erfolgreiche Verkehrsvermeidungs‐ und Verlagerungsansätze ihre CO2‐Minderungseffekte, je geringer der Kraftstoffverbrauch in der Flotte wird. Entsprechend sehen wir die vordringliche Aufgabe der übergeordneten Verkehrspolitik in ihrem Beitrag zum Klimaschutz durch wirksame Grenzwertsetzungen bis hin zum Verbot von Verbrennungsmotoren und die vordringliche Aufgabe der kommunalen Verkehrsplanung in der Verbesserung der Lebensqualität vor Ort.

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