FGSV-Nr. FGSV 002/134
Ort Weimar
Datum 05.05.2022
Titel Eine zukunftsfähige Verkehrswelt: Welche Straßen? Wieviel Mobilität? Welche Fahrzeuge?
Autoren Univ.-Prof. Dr.-Ing Udo J. Becker
Kategorien Landschaftstagung
Einleitung

Es dürfte weitgehender Konsens darin bestehen, dass das bisherige Entwicklungsmodell der steigenden Fahr- und Verkehrsleistungen im deutschen Verkehrswesen nicht zukunftsfähig ist. Aus verschiedenen Gründen (Klimawandel, Biodiversitätsrückgang, gesellschaftlicher Kostendruck, Polarisierungstendenzen, Energiewende usw.) ist eine grundsätzliche Umorientierung zwingend.

In diesem Beitrag werden die Ziele, die Elemente und die Konsequenzen einer solchen tatsächlichen Verkehrswende (die die gesamte Gesellschaft betrifft und die nicht auf einen Austausch von Benzin- und Dieselmotoren durch oftmals noch stärkere Elektromotoren beschränkt bleibt) skizziert. Dabei ist es entscheidend, dass die Mobilität der unterschiedlichen Personengruppen erhalten bleibt bzw. sogar gefördert wird: Menschen werden auch zukünftig einkaufen können, zum Arzt oder zur Apotheke gelangen, Freunde treffen oder in Urlaub reisen, zur Arbeit kommen oder zur Schule. Im Gegensatz zu heute würde diese gesicherte Abdeckung der Mobilitätsbedürfnisse vor allem auch den Nicht-Pkw-Verfügenden, den jüngeren und älteren, den kränkeren oder den anders benachteiligten Personengruppen zugutekommen: Die sich ergebenden Veränderungen würden „mehr und bessere Mobilität“ für diese Personengruppen mit sich bringen.

Verkehrlich würde die allmähliche und sozial abgefederte Internalisierung der ungedeckten externen Effekte im Verkehr, die Umorientierung staatlicher Ziele und Maßnahmen, eine andere Raum-, Schul-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik sowie der Einsatz anderer Fahrzeuge in ein grundsätzlich anderes Verkehrsverhalten münden, das deutliche sinkende Fahrleistungen und damit einhergehende Kostenreduktionen ermöglicht.

Werden alle Faktoren der Verkehrsökologischen Tautologie (allgemein gültige Aussage) betrachtet und werden alle gesellschaftlichen Felder und Stellschrauben einbezogen, dann ist die Sicherung der Mobilität zu einem Bruchteil der heutigen Kosten und Aufwände möglich: Die gesamtgesellschaftliche Effizienz würde deutlich erhöht. Eine Überschlagsrechnung zeigt, dass dann der größere Teil der deutschen Straßenverkehrsfahrleistungen verzichtbar wäre (im Beispiel: Reduktion der Personenverkehrsfahrleistungen um 75 % und Reduktion der CO2-Emissionen um mehr als 90 %), ohne dass auch die Anzahl der abgedeckten Mobilitäten zurückgehen würde.

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1 Hintergrund

Seit dem zweiten Weltkrieg hat sich in der Bundesrepublik Deutschland ein leistungsfähiges und attraktives Verkehrssystem etablieren können. Dies gilt insbesondere im Straßenverkehr, wo leistungsfähige Infrastrukturen (des Staates) und attraktive (Premium-) Fahrzeuge (der Fahrzeughersteller) sowie ökonomische Rahmenbedingungen (Eigenheimzulage, Pendlerpauschale, Dienstwagenprivileg usw.) und kraftvolle Gewerkschafts- und Lobbyinteressen mit den Prioritäten der Bevölkerung (Selbstverwirklichung, freie Fahrt, Freiheitsgefühle, Wiedervereinigung, Häuschen im Grünen usw.) zusammenkamen. Die Verkehrsleistungen und insbesondere die Fahrleistungen im Straßenverkehr stiegen damit bei wenig veränderten Einwohnerzahlen um einen Faktor von 10 oder mehr. Dieses Entwicklungsmodell besitzt große Anziehungskraft: „Mehr Verkehr“ und Wachstum im (Straßen-) Verkehr wird im deutschen Bundesverkehrswegeplan als Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand und bürgerliche Zufriedenheit verstanden, und eine breite Koalition unterschiedlicher Akteure begleitet bzw. unterstützt dieses Paradigma. Auch berufsständische oder verkehrsfachliche Verbände und Vereinigungen sind Teil dieses sich unterstützenden Systems.

In jüngerer Vergangenheit häufen sich allerdings Zweifel bzw. Kritik an diesem Entwicklungsmodell: „Mehr Verkehr“ bedeutet auch immer mehr Flächeninanspruchnahme, mehr Verlärmung, größere ökologische Risiken, aber auch höhere Aufwendungen für Straßenbau und -unterhalt, Schwächung der Nahräume und eine Zentralisierung der Schul-, Gesundheits-, Einkaufs- bzw. Logistikkonzepte. „Mehr Verkehr“ verlangt mehr Energie, macht verletzlich und senkt die Resilienz. Vor allem die steigenden Verbräuche fossiler Energie und die damit verbundenen Klimaveränderungen werden zwischenzeitlich in veränderte politische Zielstellungen umgesetzt, und möglicherweise werden zukünftig auch echte CO2-Emissionsreduktionen auch im Verkehr folgen. Aus meiner Sicht ist der tatsächlich schon eingetretene oder drohende Verlust an Biodiversität (zu dem der Verkehr durch Trenneffekte, Versiegelung und Ausbreitungseffekte beiträgt) möglicherweise noch gravierender. Eine Zusammenstellung und Bewertung der vom Verkehr ausgehenden Negativen Umweltfolgen findet sich in (Becker, 2016).

„Mehr Verkehr“ wird dabei auch immer ineffizienter, wie das allgemeine ökonomische Prinzip der sinkenden Grenznutzen belegt. Dabei gilt, dass zunächst in jeder Gesellschaft jede Verwendung einer zusätzlichen Einheit einer Ressource oder eines Produktionsfaktors zunächst einmal einen hohen Nutzen stiftet, dass aber ab bestimmten Bereichen der zusätzliche Nutzen jeder zusätzlichen Einheit (bzw. jeder zusätzlichen Fahrt) immer kleiner wird (grüne Linie im Bild 1), während etwa die Grenzkosten zusätzlicher Infrastrukturen, Autobahnbrücken,

Bild 1: Sinkender Grenznutzen (sinking marginal benefits)

Ortsumfahrungen usw. im Verkehr wegen der häufigen Sprungkosten tendenziell immer teurer werden. Hier besteht die Gefahr, dass das „Mehr ist besser-Entwicklungsmodell“ in einen Bereich gerät, in dem zwar individuell einzelne Fahrten gerade noch lohnend erscheinen, in dem aber die gesellschaftlichen Kosten den Nutzen dieser Fahrt übersteigen. Ökonomisch wird das als Ineffizienz beschrieben. Das Bild 1 beschreibt die prinzipielle Situation.

2 Welche Ziele werden in der Gesellschaft verfolgt?

In dieser Situation stellt sich als Gesellschaft die Frage, was denn eigentlich unsere übergeordneten Ziele sind bzw. wofür alle diese privaten und gesellschaftlichen Aufwände im Verkehr getrieben werden. Das Bild 2 beschreibt vereinfacht die Zusammenhänge im Verkehrswesen.

Dabei ist unstrittig, dass Menschen an die Orte gelangen müssen, an denen sie einkaufen, arbeiten, Urlaub machen, Freunde treffen, gesundwerden können: An denen sie Bedürfnisse abdecken können, die mit Ortsveränderungen verbunden sind. Dies gilt auch für den Güterverkehr, denn auch Güter werden letztlich immer zur Abdeckung menschlicher Bedürfnisse erzeugt und verteilt. Diese Mobilitäten sind in gewissem gesellschaftlich zu diskutierendem Umfang für alle Bevölkerungsgruppen, also auch für jüngere oder ältere, für reichere oder ärmere, für städtischere oder ländlichere Gruppen zu garantieren, und zwar unabhängig von Führerschein- oder Autobesitz. Mobilitätssicherung ist also das entscheidende Ziel, quasi „der Output der ganzen Aktivitäten“.

Für dieses gewählte Niveau an Mobilität sind Instrumente, also Verkehrswege, Verkehrsmittel, Verkehrsregeln und Verkehrsflächen notwendig und unverzichtbar: Man braucht Straßen selbst dann, wenn man zu Fuß oder per Fahrrad unterwegs ist. Die Gesamteinheit aller Instrumente und Ressourcen, die zur Mobilitätssicherung eingesetzt werden, wird als „Verkehr“ bezeichnet. Jede individuell beschlossene (!) Fahrt, Wanderung oder Reise besitzt also immer zwei Komponenten: Einen Zweck, ein Bedürfnis, wofür man unterwegs sein möchte, und ein Mittel, ein Instrument, einen „Verkehr“, wie man dies dann konkret gestaltet. Die Details sind in (Becker 2019) beschrieben.

Bild 2: Prinzipskizze zum Unterschied zwischen „Mobilität“ und „Verkehr“

Für die gesellschaftliche Ausgestaltung des Verkehrswesens ergeben sich damit folgende Definitionen und Folgerungen:

  1. Mobilität beschreibt Bedürfnis, Ursache, Zweck, Dies ist im diskutierten Umfang für alle Personengruppen als „Menschenrecht“ einzuordnen, auch deshalb werden gerade „Mobilitätsgesetze“ und weniger „Verkehrsgesetze“ gefordert.
  1. Verkehr ist das dienende Instrument zur Umsetzung von Mobilität: Verkehr ist kein Selbstzweck, und ein Wachstum der Verkehrsmenge ist ökonomisch betrachtet zunächst einmal nichts anderes als ein Wachstum der Aufwände und der Kosten.
  2. Es folgt:
    • gesellschaftliches Oberziel ist die Sicherung der Mobilitätsbedürfnisse,
    • Dieses gesellschaftlich diskutierte Niveau soll mit möglichst wenig Aufwand, Geld, Lärm, CO2, also mit möglichst wenig Verkehr erreicht werden (Unterziel).

Ökonomisch sinnvoll wäre also im Verkehr ganz sicher kein Wachstums- oder Ausbauziel, sondern ein Minimierungsgebot. Einen gegebenen Output mit minimalem Input zu erreichen, das wäre ökonomisch „effizient“. Es muss eine Transformation von „Mehr Verkehr ist besser“ zu „Weniger Verkehr ist besser“ stattfinden.

Interessanterweise wird dieser Übergang von einem Paradigma zum nächsten auch als „Wandel zur Nachhaltigen Entwicklung“ beschrieben. Alle Länder der Erde haben sich dem Pfad der Nachhaltigen Entwicklung (zumindest verbal) verschrieben. Diese nachhaltige Entwicklung ist im Kern nichts anderes als der Wunsch der Menschen, „möglichst nicht aussterben zu wollen“: Denn dann muss man akzeptable Lebensbedingungen für alle Generationen nach uns zurücklassen (Hauff, 1987). In den Rio-Dokumenten haben die Vereinten Nationen nun nachhaltige Entwicklung so definiert:

Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung (kein Zustand!),

  • die die Bedürfnisse der heute Lebenden befriedigt und
  • die es künftigen Generationen ermöglicht, (dann) ihre Bedürfnisse zu Übertragen auf das Verkehrswesen bedeutet es wiederum:
  • Die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen heute sind abzusichern ...
  • aber mit weniger Risiken, Externalisierungen, Abgasen, Flächen, Lärm, Ungerechtigkeit, Versauerung, CO2, ... eben mit weniger Verkehr.

3  Und welche Maßnahmen sind dazu umzusetzen?

Ganz pauschal lässt sich sagen: All diese Maßnahmen, die in einer Gesellschaft bis jetzt dazu eingesetzt wurden, den Verkehr wachsen zu lassen, und die auch dazu führten, dass die Verkehrsleistungen so angewachsen sind, sind nach diesem Paradigmenwechsel nun kontraproduktiv. Im Sinne einer effizienten Gesellschaft und im Sinne der nachhaltigen Entwicklung sind alle die Maßnahmen zielführend, effizient, sozial und ökologisch, die die Mobilität mit weniger Verkehr sichern helfen. Anschaulich gesprochen: Wir sind in der Sackgasse, gesucht wird eine Kehrtwende um 180 Grad. Dafür wird der Begriff „Verkehrswende“ genutzt, wobei er oft auch als „Mobilitätswende“ bezeichnet wird. Beides ist richtig, denn strenggenommen geht es um die Wende weg vom Verkehrswachstum hin zur Mobilitätssicherung.

Dazu sind natürlich eine Vielzahl von Maßnahmen, Konzepten, Raumordnungs-, Gesetzes- und Verhaltensänderungen notwendig. A priori ist aber zunächst unklar, ob und in welchem Umfang die verschiedenen Maßnahmen zur Erreichung des Zieles beitragen oder ob sie auch kontraproduktiv wirken.

Zur Abschätzung der Gesamtwirkungen von Maßnahmen hat sich die Verwendung der Verkehrsökologischen Tautologie bewährt (siehe Bild 3), die an den jeweiligen Einsatzzweck geeignet anzupassen ist.

Die ökonomischen, sozialen oder ökologischen Auswirkungen einer Maßnahme (oder besser: eines ganzen Push-and-Pull-Maßnahmenpaketes) werden dabei nicht etwa durch die Änderung eines einzigen Faktors (etwa der Emissionen pro km) beschrieben, sondern sie beruhen auf dem Zusammenwirken verschiedener, auch anschaulich interpretierbarer Verkehrsgrößen.

Bild 3: Verkehrsökologische Tautologie zur Abschätzung von Maßnahmenwirkungen

Die Energieverbräuche, Abgas- oder CO2-Emissionen in einem Raum zu einem Zeitraum werden dabei aus der Multiplikation von fünf Faktoren bestimmt:

  • Anzahl der dort lebenden Menschen
  • Mittlere Fahrtenanzahl im motorisierten Verkehr pro Kopf und Zeitraum
  • Mittlere Reiseweite jeder dieser Fahrten
  • Mittlerer Besetzungsgrad der verwendeten Fahrzeuge (hier muss der Kehrwert des Besetzungsgrades verwendet werden)
  • Mittlerer technischer Emissionsfaktor der Fahrzeuge auf dieser

Erst die Kombination aller fünf Faktoren ergibt die Gesamtaufwände oder die Gesamtmenge der ökologischen Belastungen. Wer etwa durch Steuervergünstigungen dafür sorgt, dass Fahrzeuge billiger verkauft werden, die statt 8 Liter Kraftstoff je 100 km nur noch 6 Liter Kraftstoff je 100 km benötigen, parallel aber auch dafür sorgt, dass Autokauf damit verbilligt wird und dass die Gesamtzahl aller Fahrzeuge dadurch insgesamt steigt, der muss sich nicht wundern, wenn die gesamten Kraftstoffverbräuche nach dieser Maßnahme nochmals ansteigen. Drei Beispiele sollen das Prinzip verdeutlichen:

In einer Stadt wird überlegt, die Verkehrsstauungen abzubauen. Dazu steht als verkehrsorganisatorische Maßnahme vielleicht die „Optimierung der Grünen Wellen“ oder eine ähnliche Maßnahme zur Verkehrsverflüssigung zur Debatte. Erwartet wird, dass durch diese Maßnahme die Emissionen oder die Reisezeiten um angenommen 10 % sinken. Alle anderen Faktoren werden im Stadtrat als „unveränderlich“ unterstellt. Setzt man diese Annahmen in die obige Tautologie ein, so ergibt sich als Gesamtwirkung:

Formel in der PDF

Wirkung = 1,00 (Menschen)  *   1,00 (Fahrten)  *  1,00 (Reiseweite)  *  1,00 (Besetzung)  * 0,90 (Emissionsfaktor)  =  0,90

Die Maßnahme wäre nach dieser traditionellen Betrachtung also zielführend und kann umgesetzt werden.

Nun würde die Realisierung der Maßnahme selbstverständlich zu Reisezeitgewinnen oder Kraftstoffeinsparungen führen. Es stellt sich die Frage, wie die Verkehrsteilnehmenden darauf reagieren. Da Verkehr insgesamt attraktiver wurde, ist in Marktwirtschaften davon auszugehen, dass dann die Nachfrage steigt und öfter, weiter oder länger gefahren wird. Das sogenannte „Gesetz des konstanten Reisezeitbudgets“ vereinfacht diesen Zusammenhang der primären und sekundären induzierten Verkehre.

Im Beispiel könnte diese Reisezeitreduktion um 10 % etwa dazu führen, dass natürlich die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner gleichbleibt, dass aber die Fahrtenanzahl um angenommen 2 % steigt (Umsteigende oder Neufahrende), dass die Reiseweite um vielleicht 10 % steigt (konstantes Reisezeitbudget), dass der Besetzungsfaktor ungefähr gleichbleibt (theoretisch müsste der Wert bei steigender Fahrtenanzahl leicht sinken) und dass der technische Emissionsfaktor/Kraftstoffverbrauch auch jetzt noch um 10 % sinkt. Die letzte Annahme ist sicher falsch, denn wegen der zusätzlich induzierten Verkehre steigt ja das gesamte Verkehrsaufkommen wiederum ein wenig, sodass sich andere Stauerscheinungen an anderen Stellen zeigen dürften – die bleiben hier aber der Einfachheit halber unberücksichtigt.

Im Ergebnis zeigt sich:

Formel in der PDF

Wirkung = 1,00 (Menschen)  *   1,02 (Fahrten)  *  1,1 (Reiseweite)  *  1,00 (Besetzung)  * 0,90 (Emissionsfaktor)  =  1,02

Demnach wäre die Maßnahme zwar gut gemeint, würde aber wegen der steigenden Verkehrsmengen zu um 2 % höheren Kraftstoffverbräuchen o. Ä. führen: Sie wäre also kontra-produktiv im Sinne des Klimaschutzes. Dieses Ergebnis ist auch wegen der Rebound-Effekte ökonomisch plausibler: Man kann Verkehr nicht attraktiver machen und hoffen, dass die Menschen darauf nicht reagieren oder dass dann Ceteris paribus weniger Kraftstoff verbraucht würde.

Interessant wird es nun, wenn als drittes Beispiel einfach die summarische Auswirkung einer konsequenten Verkehrs-/Mobilitätswende in der Gesamtgesellschaft abgeschätzt werden soll. Dazu wird im Folgenden angenommen, dass alle Incentives, Subventionen, Steuerregelungen, Raumordnungen usw., die Verkehr bisher attraktiver machen, aufgehoben werden. Stattdessen soll Mobilität, vor allem für Nicht-Autofahrende, gefördert und attraktiver werden, indem man Nahmobilität, Fahrrad- und Fußverkehr sowie den Öffentlichen Verkehr und geteilte Verkehre fördert. Aus ökonomischen Gründen ist eine stetige und vorangekündigte, konsequente Internalisierung aller externen Kosten zwingend. Dadurch wird Verkehr je km teurer, aber die zusätzlichen Einnahmen werden in die Förderung der Nahmobilität, einer anderen Raumordnung oder auch in direkte „Mobilitätsgelder“ umgeleitet, denn Ziel soll es nicht sein, „die Bevölkerung abzukassieren“: Internalisierungsmaßnahmen sollen und müssen lenken, sie dürfen nicht staatliche Einnahmen generieren.

Finanziell wird damit motorisierter Verkehr je km für die Betroffenen teurer, aber in einer gelungenen Verkehrswende würden Verwaltung und Regierung vorab und parallel alle Anstrengungen unternehmen, um Vermeidungsoptionen bereitzustellen: Jeder soll mobil sein können, ohne die erhöhten Preise bezahlen zu müssen. Wer aber die pro km erhöhten Preise bezahlen möchte, der darf das gerne tun (denn wir brauchen ja die Einnahmen an anderer Stelle), denn diese Person kann ja auch die Vorteile daraus genießen (etwa, dass dann mehr Parkplätze frei wären und man schneller durch die Stadt käme). Wie wirkt nun ein solches grundsätzliches Verkehrswende-Push-and-Pull-Maßnahmenpaket?

Da weder die Einzelmaßnahmen noch die Umsetzung noch der Zeithorizont bekannt sind, ist eine konkrete Vorab-Abschätzung praktisch unmöglich. Lediglich denkbare Spielräume bzw. Szenarien lassen sich bilden. So wäre es bei geeigneter Ausgestaltung der Rahmenbedingungen sicher möglich, dass nach einer solchen Verkehrswende etwa die folgenden Veränderungen beobachtet werden könnten (gegebenenfalls müsste man nachsteuern):

  • Die Anzahl der Menschen im Betrachtungs-(Zeit-)-Raum bliebe natürlich gleich.
  • Aber vielleicht könnte nach dem Ausbau des Umweltverbundes auf jede dritte motorisierte Fahrt verzichtet werden (weil sich auch die Raumordnung ändert).
  • Die mittleren Reiseweiten könnten sich, weil Verkehr je km ja teurer wurde, vielleicht halbieren, denn alle würden in Richtung Verkehrsvermeidung denken und handeln: Es gibt ja nun wieder Läden in der Nachbarschaft, und auf nicht mehr benötigten Parkplätzen im Zentrum könnten Wohnungen errichtet werden.
  • Aufgrund der vielen Sharing-Konzepte und der Förderung des ÖV sowie der Anwendung von Smartphone-Apps wären die Besetzungsgrade geschätzt um ein Viertel erhöhbar; also jede vierte Fahrt jedes Einwohners würde mit einem Freund oder Nachbarn zusammen durchgeführt.
  • Da schwere und schnelle und große Fahrzeuge höhere Internalisierungszuschläge bezahlen müssten, würden die Käufer sicherlich reagieren, sodass die Automobilhersteller aus kommerziellem Interesse leichtere und kleinere Fahrzeuge anbieten würden. Wären solche Fahrzeuge vielleicht nur noch halb so schwer/schnell und würden sie vielleicht statt 8 Litern nur noch 4 Liter Kraftstoff je 100 Kilometer verbrauchen, dann entspräche dies einer echten Halbierung der Verbräuche (gerechnet über alle Tage und Temperaturen und in der Realität, keine Typprüfwerte!). Die schon jetzt vorliegenden technischen Vorschläge für solche kleineren Fahrzeuge (die derzeit aber aus Herstellersicht einen viel kleineren Deckungsbeitrag als etwa Premium-SUV erbringen) belegen, dass diese Senkung der technischen Verbrauchs- und Emissionsfaktoren möglich ist.

Letztlich ergäbe sich bezogen auf Kraftstoffe oder auf CO2 folgende Abschätzung:

Formel in der PDF

Wirkung = 1,00 (Menschen)  *   0,67 (Fahrten)  *  0.5 (Reiseweite)  *  0,75 (Besetzung)  * 0,50 (Emissionsfaktor)  =  0,125

Das aber bedeutet: Ein solches umfangreiches, sicher nur über Jahre realisierbares Verkehrswende-Gesamtpaket könnte größenordnungsmäßig dazu führen, dass sieben Achtel der Kraftstoffverbräuche oder der CO2-Emissionen eingespart würden, ohne dass auch nur auf eine einzige Mobilität verzichtet werden würde.

Nur am Rande sei noch erwähnt, dass ein solches Verkehrswende-Gesamtpaket gerade für benachteiligte, ärmere oder schwächere Bevölkerungsgruppen echte Einsparungen bedeuten würde. Immer wieder ist gerade von sozial engagierten Parteien zu hören, dass „Verkehr billig bleiben müsse, sonst dürften ja nur noch die Reichen Auto fahren“. Das obige Verkehrswende-Gesamtpaket würde aber letztlich bedeuten:

Wenn im heutigen Verkehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für die Fahrt zur Arbeit dringend auf ein Auto angewiesen sind und dafür heute 100 Liter Kraftstoff je Monat tanken müssen, so bezahlt dieser Haushalt bei einem angenommenen Preis von 2 € je Liter nur für Kraftstoffe 200 €/Monat. Die Verkehrswende würde für diesen Haushalt nun sicher deutliche Veränderungen mit sich bringen, sie würde anfangs wohl Ängste auslösen, diese müsste man politisch adressieren, aber am Ende würden alle diese Veränderungen dazu führen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Monat nach dem obigen Beispiel vielleicht noch 12,5 Liter Kraftstoff benötigen würden: Weil Mobilität eben auf viele andere Arten gesichert ist. In einem Verkehrswende-Paket wird ja nun aber jeder Liter Kraftstoff sicher teurer sein als heute: ich nehme vereinfacht einen Preis von 4 € je Liter Kraftstoff an. Alle diese Annahmen sind natürlich diskutabel, sie sollen nur Beispiele darstellen: Gerne können Sie eigene Werte einsetzen. Bedeuten würde dies aber:

Nachher würden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vielleicht 12 Liter * 4,00 €/l = 48 €/Monat zu bezahlen haben.

Bitte glauben Sie nicht, eine Verkehrswende würde gerade die schwächeren Bevölkerungsgruppen treffen: Das Gegenteil ist der Fall. Im Beispiel wäre der Arbeitnehmer genauso mobil wie vorher, und Benzin hätte sich je Liter im Preis verdoppelt (!), aber dennoch blieben am Monatsende vielleicht 150 € mehr in der Familienkasse übrig als heute. Das Beispiel belegt, welche Effizienzgewinne eine andere Verkehrswelt mit sich bringen könnte.

4 Auswirkung eines Verkehrswendepakets auf die Straßenverwaltungen und die Straßenplanung

Primäre Informationsgröße für die Arbeiten der Verwaltungen im Straßenwesen sind selbstverständlich nun nicht die Kosten der Haushalte für Kraftstoffe, sondern vor allem die Verkehrsmengen, also die Belastungszahlen, wie sie etwa im DTV erfasst werden. Wie würde sich nun ein Verkehrswendepaket auf diese Größe auswirken? Dazu lässt sich die Verkehrsökologische Tautologie ebenfalls verwenden, man muss einfach den letzten Faktor streichen. Aus der Multiplikation der motorisierten Fahrtenzahl mit der Reiseweite und dem Kehrwert des Besetzungsgrades lässt sich mit den Annahmen aus dem obigen Beispiel größenordnungsmäßig abschätzen:

Formel in der PDF

Wirkung = 1,00 (Menschen)  *   0,67 (Fahrten)  *  0.5 (Reiseweite)  *  0,75 (Besetzung)  * -------- (Emissionsfaktor)  =  0,25

Das aber bedeutet: Ein solches umfangreiches, sicher nur über Jahre realisierbares Verkehrswende-Gesamtpaket könnte größenordnungsmäßig dazu führen, dass drei Viertel der Fahrleistungen im Straßenpersonenverkehr verschwinden, ohne dass auch nur auf eine einzige Mobilität verzichtet würde. Damit aber könnten Verbindungen ganz anders trassiert, ausgebaut oder unterhalten werden. Die Aufwendungen für Straßenbau- oder Unterhalt würden deutlich sinken, es könnten Flächen freigegeben werden und Trennwirkungen, Versiegelungen und Habitatzerschneidungen könnten reduziert werden. Die Anwohnerinnen und Anwohner bisher belasteter Straßen (oftmals weniger privilegierte Personengruppen) würden entlastet.

Auch aus verwaltungstechnischer und aus finanzieller, ökologischer, naturschutzfachlicher, ökonomischer und sozialer Sicht wäre eine solche Verkehrswende, die die heutige Mobilität keinesfalls reduziert, sondern Mobilität für alle sichert, unbedingt begrüßenswert.

5 Zusammenfassung

Im Titel dieses Beitrags werden die Fragen nach den Straßen, der Mobilität und den Fahrzeugen der Zukunft gestellt. Nach den obigen Ausführungen können diese Fragen unter den Rahmenbedingungen einer zukünftigen Verkehrswelt, die mit den Prinzipien der Nachhaltigen Entwicklung kompatibel wäre, nein: nicht beantwortet, aber durchaus eingegrenzt werden. Eine zukunftsfähige Verkehrswelt wird anders aussehen als die uns heute bekannte.

  • Sie wird ganz sicher Straßen enthalten: Gut unterhaltene, alle Orte verbindende, sichere Straßen. Aber viel weniger Straßenfläche, viel weniger Umweltbelastungen und viel geringere Verkehrsaufkommensgrößen werden unverzichtbare Elemente darstellen.
  • Die zukünftige Verkehrswelt wird Mobilität garantieren, und zwar unabhängig von Reichtum und Führerschein- oder Autobesitz. Nähe und Nutzenmischung werden attraktive, lebenswerte Orte schaffen, Rad- und Fußverkehre werden deutlich attraktiver und häufiger sein. Sharing-Dienste und Öffentliche Verkehre sind effizienter und genießen dann Vorrang vor privaten, motorisierten Verkehren.
  • Die Fahrzeuge werden wohl die größten Veränderungen erleben. Ja, auch die Motorkonzepte werden sich ändern, wenn die Internalisierung externer Effekte vorankommt. Aber vor allem Größe, Gewicht, Leistungsparameter und Umweltbelastungen werden sehr deutlich sinken. Letztlich werden die Effizienz und die Umweltverträglichkeit entscheiden: Um eine Person in der Stadt zur Arbeit, zum Arzt, zur Freizeit oder zum Einkauf zu bringen, sind Fahrzeuge mit 5 Metern Länge, 2,5 Tonnen Gesamtgewicht und 450 Pferdestärken einfach keine effiziente Lösung.

 

Literaturverzeichnis

Becker, Udo (2016): Grundwissen Verkehrsökologie – Grundlagen, Handlungsfelder und Maßnahmen für die Verkehrswende, oekom, ISBN 978-3-86581-775-4, München, 2016

Becker, Udo (2019): Worin liegt das Ziel aller Verkehrsplanung und wie verträgt sich das mit konsequentem Umweltschutz? In: Gies et al.: Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung, Kapitel 3.1.1.1, VDE-Verlag, ISBN 978-3-87907-400-6, 2019

Hauff, Volker (1987) (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Eggenkamp, ISBN 9783923166169, Greven, 1987