FGSV-Nr. | FGSV 002/140 |
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Ort | Stuttgart |
Datum | 13.03.2024 |
Titel | Risikobewertung und -prognose für das deutsche Straßennetz mithilfe von Crowdsourcing- und Sensor-Daten |
Autoren | Michaela Grahl, Jörg Ehlers |
Kategorien | HEUREKA |
Einleitung | KurzfassungZur Erreichung der Klimaziele ist das geänderte Mobilitätsverhalten hin zu mehr aktiver Mobilität, d. h. Fuß- und Radverkehr, ein notwendiger Trend. Aktuelle Statistiken zeigen jedoch, dass die Zunahme dieser Mobilitätsformen mit erhöhten Unfallzahlen für diese vulnerablen Verkehrsteilnehmenden einhergehen. Dies liegt zum einen am vermehrten Konfliktpotential mit dem Kfz-Verkehr. Zum anderen gibt es kaum Daten über gefährliche Situationen, welche zur Beurteilung und gezielten Optimierung der vorhandenen Verkehrsinfrastruktur herangezogen werden können. Zur Verbesserung der Datengrundlage wurden im Forschungsprojekt FeGiS+ daher Crowdsourcing-Meldungen und Sensordaten aus Autos herangezogen und mit polizeilichen Unfalldaten zu einem Gefahrenscore kombiniert, der in einer deutschlandweiten Gefahrenscore-Karte ausgegeben wird. So können kritische Gefahrenstellen frühzeitig identifiziert werden. Zur weiteren Sicherheitsanalyse und Maßnahmenfindung sind allerdings weitere Informationen zum Konfliktgeschehen notwendig. Hier setzt das Forschungsprojekt HarMobi an. Aufbauend auf den Erfahrungen aus FeGiS+ hinsichtlich der Verarbeitung von Sensordaten aus Kfz sollen diese für alle Arten von Verkehrsteilnehmenden erhoben, bewertet und mit Infrastrukturinformationen zusammengebracht werden. Das zu entwickelnde Modell soll Verkehrsplanerinnen und Verkehrsplanern eine Risikoanalyse über das Konfliktpotential verschiedener Planungsalternativen ermöglichen. |
Volltext | Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.1 EinführungDie Bundesregierung hat in ihren Klimazielen festgehalten, dass Deutschland bis zum Jahr 2045 klimaneutral werden soll [1]. Um dieses Ziel erreichen zu können, steht unter anderem die Förderung der Verkehrswende und damit der Umstieg auf emissionsfreie Mobilität wie ÖPNV, Rad- und Fußverkehr im Fokus. Die steigende Anzahl an Radfahrenden und zu Fuß Gehenden macht sich allerdings auch in den aktuellen Unfallstatistiken bemerkbar. Im Jahr 2022 stieg in dieser Gruppe der vulnerablen Verkehrsteilnehmenden die Zahl der Getöteten im Vergleich zu 2021 besonders stark an: Pedelecs +60 % (+75 Getötete), Fahrräder +14 % (+31 Getötete), Fußgängerinnen und Fußgänger +11 % (+32 Getötete) [2]. Damit die Verkehrswende gelingt, muss die Verkehrssicherheit insbesondere für die vulnerablen Verkehrsteilnehmenden erhöht werden. Vorherrschende Verfahren zur Verbesserung der Verkehrssicherheit basieren vorwiegend auf Unfalldaten der Polizeibehörden. Ein wesentliches Verfahren ist zum Beispiel die Analyse von Unfallhäufungsstellen, bei denen gefährliche Stellen anhand der Überschreitung fester Unfall- Grenzwerte ermittelt werden. Insbesondere für den Radverkehr wird eine hohe Dunkelziffer von Radverkehrsunfällen angenommen [3]. Kritische Stellen und Straßenabschnitte werden daher erst spät in den bisherigen Datenanalysen sichtbar. Deswegen hat die Europäische Kommission die proaktive Erkennung und Bewertung von Gefahrenstellen im Straßenverkehr als eine wichtige Aufgabe im EU Road Safety Policy Framework 2021–2030 festgehalten [4]. In vierjähriger Forschungsarbeit wurde zunächst unter dem Akronym FeGiS (Früherkennung von Gefahrenstellen im Straßenverkehr) und später unter FeGiS+ (Früherkennung von Gefahrenstellen im Straßenverkehr durch Smart Data) eine Datenplattform aufgebaut sowie eine Gefahrenscore-Methodik entwickelt, die solch eine frühzeitige Identifikation von Gefahrenstellen im Straßenverkehr ermöglicht und so zur Prävention von Verkehrsunfällen in Deutschland beiträgt. Als Basisergebnis des durch den „mFund“ des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr geförderten Projekts ist eine deutschlandweite Gefahrenscore-Karte entstanden, die für vielfältige Anwendungsfälle im Rahmen einer proaktiven Verkehrssicherheitsarbeit genutzt werden kann [5]. Damit identifizierte Gefahrenstellen durch geeignete Sicherheitsmaßnahmen entschärft werden können, benötigt die Verkehrsplanung in kommunalen Behörden oder Ingenieurbüros weitere Informationen zum genauen Konflikthergang zwischen den Verkehrsteilnehmenden. Diese werden in der Regel über persönliche Beobachtung oder Kamera-Aufzeichnung erhoben und zeitintensiv ausgewertet. In FeGiS+ wurde das Potenzial erkannt, mittels sicherheitskritischer Bremsdaten aus Fahrzeugen Konflikte schneller und flächendeckend bestimmen zu können. Zur ganzheitlichen Konfliktbeschreibung sind allerdings sicherheitskritische Fahrdaten aller Verkehrsteilnehmenden notwendig. Ebenso sind auch Einflussgrößen der Infrastruktur entsprechend zu berücksichtigen. Das Forschungsprojekt HarMobi (Harmonizing Mobility: Wie Verkehrsdaten das Miteinander verschiedener Verkehrsteilnehmender und eine sichere Verkehrsinfrastruktur fördern können) setzt hier an und verfolgt das Ziel für die Untersuchung von Konflikten eine neue Bewertungsgrundlage zu schaffen. Im Folgenden werden der Ansatz und die Ergebnisse aus FeGiS+ inklusive der Gefahrescore-Methodik vorgestellt. Des Weiteren wird der Projektansatz für HarMobi erläutert, in den auch Erkenntnisse aus FeGiS+ einfließen und weitere Datenquellen zur Konfliktbeschreibung nutzbar gemacht werden. 2 Proaktiver FeGiS+ AnsatzDie frühzeitige Identifizierung von Gefahrenstellen beruht auf einer Risikobewertung des Straßennetzes auf Basis sicherheitskritischer Verkehrsdaten. Dabei werden sowohl reaktive als auch proaktive Datenquellen herangezogen, die im Folgenden beschrieben werden. 2.1 Beschreibung der FeGiS+ HauptdatenquellenAls erste Datenquelle werden polizeiliche Unfalldaten herangezogen, die von den Polizeibehörden über IT-Systeme erfasst und für die Verkehrssicherheitsarbeit bereits aktiv genutzt werden, wie z. B. die Unfalltypensteckkarte für die Arbeit der Unfallkommissionen. Die georeferenzierten Daten für registrierte Unfälle mit Getöteten oder Verletzten liegen flächendeckend in guter Qualität für ganz Deutschland vor und dienen als Basis für die Gefahrenbewertung. Um einer proaktiven Früherkennung von Gefahrenstellen gerecht zu werden, wurden im Rahmen von FeGiS+ Meldungen von Verkehrsteilnehmenden über Gefahrenstellen sowie sicherheitskritische Daten aus Fahrzeugen, im folgenden Impulsdaten genannt, als zusätzliche Indikatoren ausgewählt. Die Meldungen von Verkehrsteilnehmenden betreffen Stellen im Straßennetz, die aus ihrer Erfahrung eine Gefahr bergen und sich kritische Situationen ereignet haben. Für die Generierung dieser Verkehrsteilnehmenden-Meldungen wurde die Plattform und App gefahrenstellen.de aufgebaut, auf der Verkehrsteilnehmende aus ganz Deutschland mittels Crowdsourcing Gefahrenstellen auf einer Karte melden und kommentieren können. Bei der Abgabe der Meldung erfolgen automatisierte Abfragen, die die Gefahrenstelle genauer beschreibt - bspw. für wen diese Stelle gefährlich ist (z. B. zu Fuß Gehende, Radfahrende und/oder motorisierte Fahrende, siehe Bild 1). Für die genaue Geocodierung können Pins auf das gesamte deutsche Straßennetz (inner- wie außerorts) gesetzt werden. Im Fokus sind dabei Gefahrenstellen, an denen aufgrund von schlechten oder unübersichtlichen Straßenverhältnissen, Fehlverhalten von Verkehrsteilnehmenden oder bestimmten Wetterkonstellationen regelmäßig gefährliche Situationen entstehen. Bild 1: Beispiele der aggregierten Gefahrenstellen-Anzeige bzw. der Eingabemaske zur Meldung von Gefahrenstellen. Über die proaktiven Meldungen der Verkehrsteilnehmenden können Beinahe-Unfälle und polizeilich nicht gemeldete Unfälle sichtbar gemacht werden, die auf Sicherheitsdefizite und mögliche zukünftige Unfälle hindeuten könnten. Stand Herbst 2023 sind mehr als 60.000 Usermeldungen und -interaktionen zu knapp 13.000 Stellen im deutschen Straßennetz eingegangen. Die Ergebnisse aus der erfolgreichen Pilotphase im Jahr 2018 in Aachen und Bonn haben gezeigt, dass diese Meldungen einerseits bereits bekannte Unfallhäufungsstellen bestätigten. Andererseits haben sie auch Gefahrenstellen aufgedeckt, die bislang noch nicht bekannt waren. Bei der Analyse wurden nicht nur die Informationen aus der Meldung selbst, sondern auch die Zahl der Unterstützer einer Meldung sowie die User-Kommentare als wichtige Kenngrößen identifiziert [6]. Zur erweiterten Validierung der Gefahrenmeldungen wurden im Jahr 2022 weitere 115 Ortsbegehungen in Aachen sowie 60 in Bonn durchgeführt. Bei den Ortsbesichtigungen wurde überprüft, ob eine gemeldete Stelle tatsächlich relevante Sicherheitsdefizite aufweist, die zu Unfällen führen können. Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, wurden die Ortsbesichtigungen anhand eines Defizitkatalogs durchgeführt, der aus der Defizitliste für Sicherheitsaudits der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) abgeleitet wurde [7]. Anhand der Daten für Aachen wurde ein logistisches Regressionsmodell entwickelt, das die Ergebnisse von Ortsbesichtigungen anhand von Gefahrenstellen.de-Informationen schätzt – wobei das Ergebnis entweder „Defizit bestätigt“ oder „Defizit nicht bestätigt“ sein kann. Sechs Kenngrößen für jede Gefahrenmeldung von Gefahrenstellen.de wurden dabei einbezogen:
Das finale Modell mit den statistisch signifikanten Modelltermen (p < 0.05) ist in Tabelle 1 aufgelistet. Die Ergebnisse zeigen, dass die Anzahl der Unterstützer pro Gefahrenmeldung (support_count) sowie die Anzahl der Unterstützer benachbarter Gefahrenmeldungen im Umkreis von 25 m (supports_adjacent) statistisch signifikant sind. Beide Kenngrößen haben einen positiven Zusammenhang zur Wahrscheinlichkeit eines „Defizit bestätigt“-Ergebnis. Tabelle 1: Parameterschätzung, Standardfehler, Z- und P-Wert für das Regressionsmodell zur Schätzung der Ergebnisse von Ortsbesichtigung anhand von Gefahrenmeldungen Das Modell weist für Aachen eine Sensitivität von 78,1 % und Spezifität 83,3 % auf. Mit den Daten aus den Ortsbesichtigungen in Bonn weist dieses Modell eine Sensitivität von 77,3 % und Spezifität von 58.3 % auf. Dies bestätigt, dass die Ergebnisse grundsätzlich auch auf Crowdsourcing-Daten aus anderen Regionen verallgemeinert werden können Beispiele für die zweite Datenquelle zur proaktiven Bewertung, die Impulsdaten, sind auffällige Brems- und Ausweichmanöver. Treten diese auffälligen Manöver an einer Stelle gehäuft auf, kann dies auf eine Gefahrenstelle hindeuten. Vorläuferstudien bestätigten bereits, dass scharfe Bremsungen mit Unfällen korrelieren [8]. Für das Projekt konnte dank einer Kooperation mit einem Datenlieferanten auf deutschlandweite Daten zu scharfen Bremsungen zurückgegriffen werden. Als scharfe Bremsungen wurden solche Bremsungen definiert, deren Längsbeschleunigungen einen Wert von -4,5 m/s2 unterschreiten. Dieser Wert orientiert sich an Werten aus der Literatur [9] und wurde durch Fahrversuche im Rahmen des Projektes bestätigt. 2.2 Die Gefahrenscore-Methodik und digitale Verkehrssicherheitskarte als BasisDie zuvor genannten geokodierten Daten werden in einer Datenbank strukturiert abgelegt, bewertet und zu einem Gefahrenscore für das gesamte Straßennetz verrechnet. Als Basis- Straßennetz wird hierfür die Karte von OpenStreetMap verwendet. Die Methodik zur Berechnung des Gefahrenscores umfasst zwei Schritte. Zunächst wird auf der Grundlage von Unfalldaten ein Basis-Gefahrenscore berechnet. Hierfür werden Unfalldaten mit Getöteten und Verletzten der jeweils letzten drei Jahre herangezogen, da diese für alle Bundesländer in vergleichbarer, hoher Qualität zur Verfügung stehen. Im Forschungsprojekt FeGiS+ wurden auch Unfalldaten mit Sachschäden (Unfallkategorie 4+5) untersucht. Es zeigten sich Tendenzen für einen Zusammenhang zwischen den Gefahrenmeldungen, Impulsdaten und Unfällen mit Sachschäden. Diese Untersuchung wurde jedoch nicht vertieft, weil diese Unfalldaten nicht flächendeckend zur Verfügung gestellt werden konnten. Die Berechnung des Basis-Gefahrenscores beruht dabei auf der netzwerk- basierten Kerndichteschätzung, welche bereits erfolgreich zur Analyse von Unfalldaten genutzt wurden [10]: Um die Beziehungen zwischen nahegelegenen Unfällen zu berücksichtigen, werden diese punktuellen Ereignisse über mehrere Abschnitte hinweg geglättet, wobei näher beieinander liegende Unfälle stärker gewichtet werden als weiter entfernte Unfälle. Aus den punktuellen Unfalldaten wird somit eine kontinuierliche Dichtefunktion entlang des Straßennetzes ermittelt. Erreicht der Dichtewert eines Abschnitts oder eines Knotenpunkts einen Grenzwert von mehreren Unfällen in unmittelbarer Nähe, wird der Bereich als gefährlich gekennzeichnet. Um die Höhe der Gefahr zu beziffern, werden die für die Straßenabschnitte bzw. Knotenpunkte errechneten Dichtewerte einem Gefahrenlevel in fünf Stufen zugeordnet. Das jeweilige Gefahrenlevel wird dabei in Abhängigkeit von vier Einflussgrößen ermittelt, die sich auf das Mobilitätsmuster sowie das Unfallgeschehen auswirken:
Die Unterteilung erfolgt nach Perzentilen, wobei die 2,5 % der Netzelemente mit den höchsten Dichtewerten das höchste Gefahrenlevel bilden. Die weiteren Abstufungen sind das 95. Perzentil, das 80. Perzentil und das 50. Perzentil. Anschließend werden die so ermittelten Straßenabschnitte mit ihrem Gefahrenscore-Level von hellgelb (Gefahrenlevel 1) bis dunkelrot (Gefahrenlevel 5) eingefärbt. Ein dunkelroter Bereich zeigt somit die höchsten Dichtewerte innerhalb der entsprechenden Kategorisierung des Netzelements. Im zweiten Schritt wird der Basis-Gefahrenscore durch die „proaktiven“ Datenquellen ergänzt. Der Basis-Gefahrenscore kann aktuell um bis zu drei Gefahrenlevel erhöht werden, wobei der Gesamt-Gefahrenscore weiterhin auf fünf Gefahrenlevel begrenzt ist. Eine Stelle mit einem Basis-Gefahrenlevel von 5 kann demnach nicht noch gefährlicher werden, da sich die Gefahr bereits durch eine Häufung an Unfällen gezeigt hat. Aufgrund der unterschiedlichen Eigenschaften der Meldungs- und Impulsdaten, wurden zwei unterschiedliche Ansätze für die Bewertung der Daten und Einflussnahme auf den Basis-Gefahrenscore gewählt. Die Erhöhung des Gefahrenlevels durch Gefahrenmeldungen orientiert sich an der geschätzten Validität einer Meldung. Diese Validität wird automatisiert anhand eines aus dem Regressionsmodell (siehe Kap. 2.1) abgeleiteten Aktivitätslevels bewertet. Zur Einstufung in die Gefahrenlevel wurden feste Grenzwerte definiert. Dabei wird der Basis-Gefahrenscore erst dann durch die Meldungsdaten beeinflusst, wenn ein Mindest-Aktivitätslevel – also z.B. mehrere Unterstützer – an dem Straßenabschnitt vorliegt. Gleichzeitig dienen die Meldungen als weitere Datengrundlage zur Ermittlung der Gefahrenart und der gefährdeten Verkehrsteilnehmenden. Für die Bewertung der Impulsdaten hingegen wird die für die Unfalldaten angewandte netzwerk-basierte Kerndichteschätzung herangezogen. Auch hier werden die punktuellen Bremsereignisse gewichtet und in eine kontinuierliche Dichtefunktion überführt. Zusätzlich werden die Ergebnisse auf die Anzahl der erfassten Fahrten an diesem Abschnitt normiert. Stellen mit signifikanter Abweichung erhalten anhand ihres Dichtewertes ein entsprechendes Gefahrenlevel. Die Berechnungsergebnisse zeigen allerdings auch, dass sie stets im Kontext mit den relevanten Einflussfaktoren der Straßeninfrastruktur interpretiert werden müssen. Daher wird die Berechnungsmethodik im laufenden Forschungsprojekt HarMobi weiter optimiert, bevor sie einen automatisierten Einfluss auf den Basis-Gefahrenscore nehmen. Die vorgenannte zweistufige Sicherheitsbewertung kombiniert somit eine reaktive und eine proaktive Perspektive, um die aktuelle Verkehrssicherheitsarbeit weiter zu verbessern. Ein wichtiger Aspekt des Gefahrenscores ist, dass der Score regelmäßig für alle städtischen und ländlichen Straßennetze berechnet wird. Die digitale, deutschlandweite Gefahrenscore-Karte ist in Auszügen auf dem Portal gefahrenstellen.de öffentlich einsehbar sind. Bild 2 zeigt beispielhaft einen Gefahrenscore-Kartenausschnitt aus dem Bonner Stadtgebiet. Die hellgelben Abschnitte zeigen Stellen, an denen sich entweder mehrere Unfälle ereignet haben oder Gefahrenmeldungen auf eine erhöhte Gefahr hinweisen. Bei den roten Abschnitten ist der Basis-Gefahrenscore aufgrund mehrerer Unfälle bereits erhöht und kann je nach Meldungslage (siehe blaue Pins auf Karte) einen „proaktiven“ Anteil enthalten. Die genauen Anteile und Einzeldaten können in einem Experten-Portal eingesehen werden, das von Akteuren der Verkehrssicherheitsarbeit wie kommunale Verwaltungen, Polizei, Wissenschaft, Ingenieurbüros, Navigationsanbieter und Automobilhersteller genutzt sowie in andere Systeme integriert werden kann. Bild 2: Kartenausschnitt der deutschlandweiten Gefahrenscore-Karte: Die eingefärbten Straßenabschnitte zeigen das Ergebnis des Gesamt-Gefahrenscores. 2.3 Frühindikator als Kennwert zur proaktiven Ermittlung von GefahrenstellenBei einer exemplarischen Gegenüberstellung der polizeilich ermittelten Unfallhäufungsstellen im Raum Aachen und der Gefahrenscore-Karte zeigte sich, dass an allen offiziellen Unfallhäufungsstellen auch ein erhöhtes Gefahrenlevel berechnet wurde. Somit spiegeln sich die besonders gefährlichen Bereiche der Straßenverkehrsinfrastruktur auch im Gefahrenscore entsprechend wider. Mit dem Gefahrenscore werden allerdings auch weitere Bereiche hervorgehoben, die vor allem für die proaktive Verkehrssicherheitsarbeit eine große Rolle spielen. Bild 3: Gegenüberstellung von Unfallhäufungsstellen (Kreise) mit den Gefahrenlevel (eingefärbte Straßenabschnitte) in Aachen. Kartenbasis: OpenStreetMap. In Bild 3 sind beispielhaft die Gefahrenlevel für das Aachener Stadtgebiet den Unfallhäufungsstellen gegenübergestellt. Die Unfallhäufungsstellen sind als Kreise dargestellt. Es ist zu sehen, dass Unfallhäufungsstellen nur einen Teil der als gefährlich identifizierten Straßenabschnitte und Knotenpunkte abdecken. Zusätzlich variiert das Gefahrenlevel an den Unfallhäufungen. Somit wird nicht nur zwischen dem Vorhandensein einer gefährlichen Stelle und der Abwesenheit einer gefährlichen Stelle differenziert. Auf diese Weise können mit dem Gefahrenscore weitere und differenziertere Informationen über die Verkehrssicherheit ermittelt und dargestellt werden. Weiterhin werden über die automatisierte Berechnung eines „Frühindikators“ Gefahrenstellen hervorgehoben, an denen sich bislang keine oder nur wenige Unfälle ereignet haben, aber schon hohe Auffälligkeiten in den Gefahrenmeldungen, den Impulsdaten und/oder bei Sachschädenunfällen vorhanden ist. Dieser methodische Ansatz wird anhand des folgenden Beispiels erläutert. Bild 4 zeigt eine vorfahrtberechtigte Rad- und Fußgängerquerung einer Zufahrt auf eine Schnellstraße im Straßennetz der Stadt Aachen. An dieser Zufahrt ereigneten sich im Zeitraum 2008 bis 2020 zwei Einbiegen/Kreuzen-Unfälle zwischen Rad- und Kfz-Verkehr, sodass diese Stelle nicht als Unfallhäufung gilt. An dieser Stelle gibt es jedoch eine aktive Gefahrenmeldung mit mehreren Interaktionen und Kommentaren, die auf Defizite in der Gestaltung des Straßenraums hinweisen; u. a. auf schlechte Sichtverhältnisse zwischen dem Kfz-Verkehr und kreuzendem Radverkehr sowie auf zu schnell beschleunigende Fahrzeuge. Zudem zeigen die Impulsdaten einen stark erhöhten Anteil an scharfen Bremsungen im Vergleich zu anderen Streckenabschnitten in Aachen. Da also sowohl die Interaktionen zur Gefahrenmeldung als auch die Impulsdaten auf eine hohe Gefahr hindeuten, obwohl sich bisher wenige Unfälle ereignet haben, schlägt der Frühindikator hier aus. Bild 4: Beispielhafte Gefahrenstelle, die durch die Auswertung von Meldungen von Verkehrsteilnehmenden sowie Impulsdaten als gefährlich identifiziert wurde. Luftbild [11]. Zur genaueren Bestimmung der Verkehrssicherheit wurde daher das Konfliktgeschehen anhand einer dreiwöchigen Videoaufzeichnung analysiert. Die Ergebnisse zeigten mehrere sicherheitskritische Konflikte zwischen kreuzendem Fuß- bzw. Rad- und Kfz-Verkehr, die die Meldungen der Verkehrsteilnehmenden und die Bremsdaten bestätigen. Bei diesen Situationen wurde ein Unfall entweder durch abrupte Verhaltensänderung eines der Verkehrsteilnehmenden verhindert (z. B. starkes Bremsen) oder ist durch knappe Vorbeifahrt gerade nicht entstanden. Abschließend sollen auch die Unterschiede zwischen den Gefahrenmeldungen und scharfen Bremsungen aufgezeigt werden. Bild 5 stellt die Gefahrenbereiche anhand von a) Gefahrenmeldungen sowie b) von scharfen Bremsungen in Aachen dar. Es zeigt sich, dass Gefahrenmeldungen insbesondere im zentrumsnahen Bereich abgegeben werden, wohingegen sich scharfe Bremsungen eher außerhalb des Zentrums häufen. Eine Erklärung könnte im Konfliktpotenzial liegen, das zentrumsnah aufgrund der höheren Anteile verschiedener Mobilitätsformen auf der begrenzten Verkehrsfläche höher ist. Dieses Konfliktpotenzial könnte möglicherweise durch Gefahrenmeldungen besser erfasst werden als durch Pkw-Impulsdaten, weil Gefahrenmeldungen für alle Mobilitätsformen abgegeben werden können. Außerdem könnte es sein, dass Gefahren von vulnerablen Verkehrsteilnehmenden stärker wahrgenommen werden als von motorisierten Verkehrsteilnehmenden. Das zeigt sich auch in den Daten von gefahrenstellen.de: 87 % aller Meldungen weisen auf Gefahren für den Radverkehr hin, 54 % weisen auf Gefahren für den Fußverkehr hin. Gefahren für Pkw werden allerdings nur in 41 % aller Meldungen angegeben. Bild 5: Gefahrenbereiche in Aachen: a) Häufungen von Gefahrenmeldungen. b) Häufungen von scharfen Bremsungen (normiert auf die Anzahl der Fahrten je Abschnitt). Das vorgenannte Beispiel zeigt, wie einerseits über die Zusammenführung von Unfall-, Meldungs- und Pkw-Brems-Daten eine gefährliche Stelle identifiziert werden kann. Andererseits zeigt sie auch das Potential, weitere Sensordaten möglichst von allen Arten der Verkehrsbeteiligung sowie Umgebungsinformationen zur Infrastruktur heranzuziehen, um auch ohne aufwändige Kamerabeobachtung automatisiert das Konfliktgeschehen näher beschreiben zu können. Der Aspekt „Wie Verkehrsdaten das Miteinander verschiedener Verkehrsteilnehmer und eine sichere Verkehrsinfrastruktur fördern können“ wird im Rahmen des Forschungsprojekts Harmonizing Mobility (HarMobi) erforscht. 3 Zielstellung und methodischer Ansatz von HarMobiDas Forschungsprojekt HarMobi möchte eine Methodik zur kosteneffizienten flächendeckenden Erfassung von Gefahren- und Konfliktursachen im Straßenverkehr erarbeiten, um zur bedarfsgerechten Entwicklung einer sicheren Verkehrsinfrastruktur beizutragen. Hierfür werden verschiedene verkehrsbezogene sowie für die Verkehrssicherheit relevante Daten erschlossen. Insbesondere Sensordaten aus der Ego-Perspektive der verschiedenen Verkehrsteilnehmer stehen im Fokus des Projektes. HarMobi baut somit auf dem Ansatz der Impulsdaten aus FeGiS+ auf und erweitert diesen: Mit Bezug auf das sich ändernde Mobilitätsverhalten werden nun Sensordaten aus verschiedenen Gruppen von Verkehrsteilnehmenden erfasst, darunter Kfz (einschließlich Pkw, Lkw, Busse), Fahrräder (einschließlich Pedelecs) und E-Scooter. Diese Daten bieten eine neue Grundlage, um das Konfliktgeschehen im Straßenverkehr ganzheitlich zu bewerten. Eine Neuheit in HarMobi liegt darin, dass die erfassten Daten der verschiedenen Gruppen von Verkehrsteilnehmenden nicht nur isoliert betrachtet werden. Stattdessen werden sie gemeinsam und in Verbindung mit Daten zur Verkehrsinfrastruktur analysiert, um Konflikte und ihre Ursachen abzuleiten. Bei der Entwicklung dieser Methodik konzentriert sich HarMobi zunächst auf die Region Aachen, um eine ausreichend große Datengrundlage zu erzeugen. Im späteren Projektverlauf wird die Übertragbarkeit der Methodik auf andere Regionen überprüft. Die Ermittlung von Konflikten und ihren Ursachen beruht auf einem mehrstufigen Prozess. Zunächst werden kinematische Daten und zugehörige Positionsdaten zu kritischen Fahrmanövern für jede Verkehrsteilnehmergruppe gesammelt. Dies geschieht auf zwei Arten. Einerseits werden mithilfe von Smartphone-Apps und eigenständigen Sensorboxen selbst Daten erfasst. Hierbei werden sowohl grenzwertbasierte Ansätze (vgl. auch Kap 2.1) verwendet, die beispielsweise scharfe Bremsungen von Pkw mit hoher Genauigkeit erkennen können, als auch im weiteren Projektverlauf maschinelle Lernverfahren zur Event- Klassifizierung eingesetzt. Dieser Schritt erfolgt separat für die Daten der verschiedenen Mobilitätsarten. Andererseits werden über Kooperationspartner weitere kinematische Daten zur Verfügung gestellt, deren Erhebungsmethodik den oben beschriebenen Ansätzen ähnelt. Durch die räumliche Überlagerung dieser klassifizierten kritischen Fahrmanöver werden im Anschluss die Konflikte zwischen den Verkehrsteilnehmergruppen ermittelt. Beispielhaft soll dies anhand der in Bild 6 dargestellten Situation erläutert werden: Aus den Fahrrad- Sensordaten wurden ein Ausweichmanöver und aus den Pkw-Sensordaten eine scharfe Bremsung während einer Rechtskurve ermittelt. Werden solche Manöver gehäuft detektiert, kann diese Konfliktsituation auch ohne Videobeobachtung rekonstruiert werden. Bild 6: Ableitung einer Konfliktsituation anhand der Sensordaten der verschiedenen Gruppen von Verkehrsteilnehmenden. Zur Evaluation der entwickelten Methodik werden Videobeobachtungen an verschiedenen Standorten in der Region Aachen durchgeführt. Diese Videoanalysen ähneln dem in Kap 2.3 beschriebenen Vorgehen. Durch den Abgleich der so ermittelten Konflikte mit Daten zur Verkehrsinfrastruktur wird schließlich ein Modell entwickelt, das Zusammenhänge zwischen der Gestaltung der Infrastruktur und ihrer sicherheitstechnischen Wirkung beurteilt. 4 FazitIn diesem Beitrag wurden Methoden zur proaktiven Erkennung und Bewertung von Gefahrenstellen im Straßenverkehr vorgestellt. Es wurde gezeigt, wie Crowdsourcing-Daten und sicherheitskritische Fahrmanöver, sogenannte Impulsdaten, wichtige Indizien für die Bewertung eines Straßenabschnitts liefern und zur Aufdeckung der Dunkelziffer insbesondere bei Radfahrunfällen beitragen. Schon jetzt können über diese Daten Beinahe- Unfallhäufungsstellen angezeigt werden, die durch Usermeldungen oder Impulsdaten auffällig sind. Die Ergebnisse aus dem HarMobi-Projekt sollen diese Erkenntnisse zum einen weiter präzisieren. Zum anderen sollen sie insbesondere Verkehrsplanerinnen und Verkehrsplaner unterstützen, die geeigneten Maßnahmen zur Entschärfung von Gefahrenstellen auszuwählen, indem die entwickelten Modelle die Zusammenhänge zwischen der Gestaltung der Infrastruktur und dem Konfliktgeschehen verdeutlichen. Diese verbesserten Sicherheitsanalysen sollen es ermöglichen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, bevor es zu einer Vielzahl von Unfällen kommt. Hierdurch sollen vor allem vulnerable Verkehrsteilnehmende besser geschützt werden, die aufgrund der hohen Dunkelziffer in Sicherheitsanalysen bisher unterrepräsentiert sind. 5 Literatur
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