FGSV-Nr. FGSV 002/140
Ort Stuttgart
Datum 13.03.2024
Titel 4-Stufen-ABM
Autoren Dr. Martin Snethlage
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Kurzfassung

Im Vergleich zu traditionellen aggregierten Nachfragemodellen weisen aktivitätsbasierte Modelle eine stark erhöhte Komplexität auf. Die Umstellung eines traditionellen Modellierers auf aktivitätenbasierte Modelle ist mit einem enormen Zeitaufwand verbunden. Zusätzliche Hindernisse sind die oft sehr langen Rechenzeiten sowie instabile Ergebnisse aufgrund des Simulationscharakters.

In diesem Beitrag wird eine Art schlankes ABM vorgestellt, das den Umstellungsaufwand minimiert, aber dennoch einen leistungsfähigen Einstieg in die ABM-Modellierung ermöglicht. Darüber hinaus eliminiert sie jegliches weiße Rauschen und ermöglicht es dem Modellierer, die Wirkung von Maßnahmen zu analysieren. Eine Implementierung dieses ABM-Typs beweist seine Praxistauglichkeit mit vergleichbaren Rechenzeiten wie bei aggregierten Modellen.

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1 Einführung

Aktivitäten- und Agentenbasierte Nachfragemodelle (ABM) rücken zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Im Vergleich zu traditionellen 4-Stufen-Modellen sind ABMs mit ihren genaueren Wahlmodellen und ihrer inneren Konsistenz viel näher an der Realität. Dennoch setzen sie sich im Vergleich zu 4-Stufen-Modellen nur sehr langsam durch und sind in einigen Ländern, wie z. B. in Deutschland, außerhalb der universitären Forschung so gut wie nicht vertreten. Während also die Forschung immer ausgedehntere, bessere, genauere und weitere Aspekte berücksichtigende Modelltypen entwickelt, hält ein wesentlicher Teil der Modellierer nicht Schritt und steht immer noch dort, wo er schon vor dem ABM-Boom gestanden hat: beim makroskopischen 4-Stufen Modell.

Gründe dafür sind die zahlreichen Herausforderungen, die ABMs mit sich bringen, u. a.:

  • Der methodische Abstand zwischen herkömmlichen Modellen und ABM ist mitunter riesig. In der Regel bedeutet die Modellierung von ABM also zunächst einen erheblichen Lernaufwand und damit eine Investition von Zeit und Ressourcen.
  • Es besteht eine große Unsicherheit hinsichtlich Aufwand und Datenbedarf.
  • Eine weitere Unsicherheit besteht über den Mehr-Nutzen, den ein ABM liefern kann.
  • Es mangelt an Standardisierung des Modelltyps ABM: jedes ABM ist ein Unikat.
  • Es fehlt komfortable Software, in der Regel sind Programmierkenntnisse erforderlich.

Ein wesentlicher Faktor ist also offenbar die fehlende Praxis der Modellersteller beim Thema ABM, womit sich die Katze in den Schwanz beißt: die fehlende Praxis verhindert den Wechsel zu ABM, was wiederum die fehlende Praxis begründet. Um diesem Problem zu begegnen ist also der einfache Übergang vom konventionellen 4-Stufen-Modell zu einem ABM von entscheidender Bedeutung.

Dieses Paper präsentiert also nicht ein weiteres ABM, welches das Mobilitätsgeschehen noch etwas genauer beschreiben kann als bisherige Modelle. Es beschreibt stattdessen einen aktivitätenbasierten Modelltyp, der sich in seinem Umfang und in seiner Mechanik eng an das 4-Stufen-Modell orientiert: Es verwendet die gleichen Teilmodelle, alle Modell-Parameter können wiederverwendet werden und es hat einen fast identischen Datenbedarf.

Der hier vorgestellte Modelltyp kann als räumlich und zeitlich disaggregiertes 4-Stufen-Modell beschrieben werden. Da ein wesentlicher Nutzen der ABM aus deren geringen Abstraktionsgrad entsteht, wird weitgehendst auf Abstraktion verzichtet oder diese zumindest geringgehalten: Aktivitätenausübungen und Trips haben einen konkreten zeitlichen Beginn, eine konkrete Dauer, einen konkreten Start- und Endpunkt. Außerdem werden Touren maximal konsistent und realitätsnah konstruiert.

Gegenüber einem typischen ABM, manchmal auch full ABM genannt, ist die Anzahl an Teilmodellen stark eingeschränkt: das 4-Stufen-ABM beinhaltet lediglich die Schritte Erzeugung, Ziel- und Moduswahl, wobei die Erzeugung analog zum 4-Stufen-Modell rein datenbasiert erfolgt (auf Grundlage erhobener Wegeketten) und nicht auf zahlreichen Teilmodellen basiert. 

Der Einsatzbereich verringert sich dadurch ein wenig gegenüber konventionellen ABM. Es scheint allerdings eine andere Perspektive angebrachter: betrachtet man das 4-Stufen-ABM aus der Sicht eines 4-Stufen-Modellierers, bedeutet es eine gewaltige Ausweitung des Einsatzbereiches (siehe dazu auch weiter unten).

2 Das 4-Stufen-ABM

2.1 Modellstruktur

Das 4-Stufen-ABM ist ein in dreierlei Hinsicht disaggregiertes 4-Stufen-Modell: räumlich, zeitlich und hinsichtlich der Wegekette.

Die räumliche Auflösung wird nicht durch Bezirke definiert, sondern durch sogenannte Standorte. Standorte können für einzelne Gebäude stehen, für Baublöcke, Siedlungen oder auch Stadtteile. Die Auflösung richtet sich letztlich nach den Anforderungen und der Datenlage. Dabei müssen nicht unbedingt alle Daten auf der feinsten Auflösung bekannt sein. So können für unterschiedliche Aktivitätentypen unterschiedliche Auflösungen gewählt werden. Es ist auch oft möglich, Strukturdaten mit gröberen Auflösungen mit Hilfe von Gebäudegrundrissen in feiner Auflösung zu disaggregieren. Falls eine hohe räumliche Auflösung für die betrachteten Fragestellungen gar nicht relevant ist, kann auch eine niedrige Auflösung verwendet werden, wie sie bei aggregierten Modellen üblich ist.

Die zeitliche Auflösung besteht in der Regel aus 5-8 Zeitscheiben.

Basis des Modells ist eine synthetische Bevölkerung, bei der die Personen, anders als bei traditionellen ABM, neben ihren individuellen Eigenschaften auch schon ein Tagesplan-Skelett besitzen. Ein solches Skelett ist ein detaillierter Tagesplan, bei dem genau diejenigen Daten fehlen, die mit dem Modell erst noch berechnet werden sollen: Ziele und Modi sowie die daraus resultierenden Fahr- und Startzeiten.

Basierend auf dem Tagesplanskelett erfolgt die miteinander verschränkte Ziel- und Moduswahl, deren Nutzen auf zeitlich differenzierten Kurzwegen zwischen Standorten basieren. Die Nutzen können auch Kenngrößen der entsprechenden Bezirksrelation beinhalten bzw. sogar ausschließlich aus solchen bestehen. Die hohe räumliche Auflösung sollte nur dann verwendet werden, wenn sie aus planerischer Sicht Vorteile bringt.

2.2 Erzeugung

Die Erzeugung einer synthetischen Bevölkerung ist vergleichbar mit der Gewichtung einer Haushaltsbefragung: Basis sind die Ergebnisse einer üblichen Haushaltsbefragung mit Wegetagebuch. Ähnlich wie bei aggregierten Nachfragemodellen muss die Haushaltsbefragung nicht aus dem Planungsgebiet stammen, sondern kann mit Hilfe sozio-ökonomischer Daten des Planungsgebiets entsprechend angepasst werden.

Die synthetische Bevölkerung wird derart aus Duplikaten der Befragungshaushalte gebildet, dass die sozio-ökonomischen Randverteilungen der erzeugten Bevölkerung mit denen im Planungsgebiet übereinstimmen. Im Unterschied zu herkömmlichen synthetischen Bevölkerungen werden hier allerdings neben den Haushalts- und Personenattributen auch die Tagesplan-Skelette dupliziert.

Ein Tagesplan-Skelett kann aus mehreren Touren bestehen. Zu jeder Tour sind die Wegekette bekannt, darüber hinaus die Dauern der Aktivitätenausübungen sowie die Startzeit der Hauptaktivität. Als Hauptaktivität wird die zentrale Aktivität gewählt, an der sich die Ziel- und Moduswahl der gesamten Tour orientiert. 

Die Idee der Hauptaktivität ist kein ganz neues Konstrukt: bei Tour-basierten Nachfragemodellen (z. B. Visem, siehe PTV GmbH 2023, [3]) muss je Wegekette eine Hauptaktivität gewählt werden, um so das sogenannte Rubberbanding zu ermöglichen. Dabei werden die Zwischenziele möglichst umwegarm in den Hinweg zur bzw. Rückweg von der Arbeit eingereiht.

Die räumliche Auflösung, in der die sozio-ökonomischen Daten verwendet werden, ist nicht vorgegeben, sie richtet sich nach der Datenlage und kann insbesondere auf unterschiedlichen Ebenen vorliegen. 

Für die Erzeugung einer synthetischen Bevölkerung gibt es zahlreiche Software. Der Autor dieses Papers empfiehlt die Verwendung von PopulationSim, einer open source Software eines US-amerikanischen Konsortiums1).

Die Erzeugung des 4-Stufen ABM entspricht einer disaggregierten Erzeugung eines aggregierten 4-Stufen-Modells: sie ist ein statistisches, rein datenbasiertes Modell. Sie liefert per Definition konsistente und realistische Tagespläne und berücksichtigt automatisch sämtliche innerfamiliären Zusammenhänge. Die Erzeugung auf Grundlage eines nutzenbasierten Entscheidungsmodells, wie sie bei typischen ABM Anwendung findet, ist ungleich komplexer und aufwendiger.

1) Die Software PopulationSim wird in den USA im Rahmen des ActivitySim Projects durch ein Konsortium aus Planungsorganisationen und Verkehrsministerien entwickelt, siehe auch activitysim.github.io.

2.3 Verschränkte Ziel- und Moduswahl

Die Ziel- und Modus-Wahlen für die Aktivitäten (eigentlich Aktivitätsausübungen und Trips) einer Tour erfolgen nacheinander, wobei eine Wahl immer auf den vorherigen Entscheidungen basiert. Dabei wird mit der sogenannten Hauptaktivität, also der zentralen Aktivität, begonnen. Anschließend werden nacheinander Ziel- und Modus der anschließenden (Neben-)Aktivitäten bestimmt.

Bei einer Wegekette wie Home - Shopping - Work - Sport - Home wird also zunächst das Ziel der Work-Aktivität gewählt. Bei jeder Wahl werden immer die Nutzen der gesamten (bisher schon berechneten) Wegekette berücksichtigt. (Bei Tour-basierten Modellen nennt man dieses Prinzip Rubberbanding.) Da im ersten Schritt lediglich die Home-Standorte bekannt sind, wird also die Wegekette Home - Work - Home betrachtet, wobei die Nutzen der Wege Home - Work sowie Work - Home in die Entscheidung eingehen.

Im nächsten Schritt wird der Shopping-Standort gewählt, es werden also die Wegekette Home - Shopping - Work - Home sowie die Trips Home - Shopping und Shopping - Work betrachtet.

Als letztes wird der Sport-Standort gewählt.

Bei jedem Schritt werden immer der Zielort sowie der Modus gewählt, die Entscheidungsmodelle sind genestete Logitmodelle (siehe Ben-Akiva 1985, [1]). Der Zielnutzen ergibt sich dabei also als LogSumme aus den Nutzen der Modi, die Modusnutzen basieren auf den Kurzwegen zu einem passenden Zeitbereich. Der gewählte Zeitbereich, zu dem die Kurzwege ausgewertet werden, ist dabei entweder der Zeitbereich, in den der Start oder in den das Ende des Trips fällt, abhängig davon, was bereits bekannt ist.

Im ersten Schritt ist die Startzeit der Arbeitsaktivität (08:10) bekannt. Sie ist identisch mit der Endzeit des Trips Home - Work und damit der relevante Zeitbereich für diesen Trip. Der Rückweg beginnt um 17:30 (Startzeit + Dauer), also ist diese Zeit relevant für den Trip Work - Home. 

Mit der Wahl eines Ziels und Modis sind automatisch auch die Start- bzw. Endzeiten der an die Aktivität angrenzenden Trips bekannt. Auf diese Weise können alle Ziele und Modi sukzessive ermittelt werden.

Die Wahl der Modi der Wege von und zu den Nebenaktivitäten wird vom Haupt-Modus (also der Modus, der im ersten Schritt zur Hauptaktivität gewählt wurde) eingeschränkt: ist dieser nicht austauschbar, so steht damit der Modus aller Trips bereits fest. Ist er austauschbar, so sind für alle Trips alle austauschbaren Modi wählbar. Der Zielnutzen, der ja aus der LogSumme über alle Modi gebildet wird, berücksichtigt immer nur die für die zugehörigen Trips wählbaren Modi.

2.3.1 Kritik

Das 4-Stufen-ABM ist so konzipiert, dass es möglichst einfach zu verstehen ist. Die Wahlentscheidungen sollen möglichst wirklichkeitsnah erfolgen, auf Vereinfachung und Abstraktion soll weitestgehend verzichtet werden. Das ist nicht an jeder Stelle gelungen.

Die verschränkte Ziel- und Moduswahl ist in Wirklichkeit hoch komplex. Die in diesem Paper dafür gefundene Modellstruktur ist einfacher und damit einhergehend nicht mehr ganz wirklichkeitsnah. Man kann vermuten, dass die Wahl der Ziele einer Tour, anders als im Modell, in Wirklichkeit nicht sukzessive erfolgt. Ein Mensch ist in der Lage, alle Ziele der Tour in einem gewissen Maße gleichzeitig zu berücksichtigen. In einem Modell müssen solche komplexen Entscheidungen allerdings immer getrennt voneinander erfolgen, da sonst allein die Anzahl möglicher Kombinationen und somit die Größe des Lösungsraums explodieren würde.

Trotz dieser Vereinfachung ist das Wahlmodell recht kompliziert und unterscheidet sich von seinem Gegenpart im aggregierten 4-Stufen-Modell. Der Autor denkt dennoch, dass hier der optimale Ausgleich zwischen Wirklichkeitsnähe und Einfachheit gefunden wurde.

2.4 Erweiterungsmöglichkeiten

Das 4-Stufen-ABM lässt sich auf zahlreiche Weise erweitern. Einige davon seien hier genannt.

2.4.1 Langfristige Ziele

Der Ziel- und Moduswahl kann die Wahl von langfristigen Zielen vorgeschaltet werden. Langfristige Ziele sind in der Regel wiederkehrende Pflichtaktivitäten wie Arbeit oder Schule. Sie werden einmal je Person gewählt und stehen damit bei entsprechenden Aktivitäten bereits als Ziel fest. Die Wahl erfolgt analog einer Zielwahl der Wegekette Home - Work - Home. 

Die bei makroskopischen Modellen übliche Zielkopplung wird durch aktivitätenspezifische Schattenpreise an den Standorten realisiert.

Die Wahl langfristiger Ziele hat große Vorteile gegenüber aggregierten Modellen: Die Zielkopplung erfolgt nicht auf Grundlage von Wegen (bei aggregierten Modellen werden z. B. Arbeitsplätze mit Arbeitswegen abgeglichen), sondern auf Grundlage der Personeneigenschaft „berufstätig“. Dadurch wird auch solchen Arbeitnehmern ein Arbeitsplatz zugerechnet, die (z. B. wegen Home-Office) keinen Arbeitsweg am Berichtstag gemacht haben. Außerdem kann bei eher kurzfristigen Szenarien (z. B. einer temporären Brückensperrung) der Arbeitsplatz konstant gehalten werden.

2.4.2 Beliebige Wahl-Reihenfolge

Bei der verschränkten Ziel- und Moduswahl erfolgt die Zielwahl zuerst, gefolgt von der Moduswahl. Diese Reihenfolge ist bei 4-Stufenmodellen zumindest in Deutschland üblich. In anderen Teilen der Welt wird es andersherum gehandhabt: zuerst erfolgt die Moduswahl, dann die Zielwahl.

Beide Varianten stellen eine Vereinfachung der Wirklichkeit dar. In Wirklichkeit wird die Wahl vermutlich gleichzeitig getroffen. Wie vorher schon einmal als Begründung angeführt ist es auch diesmal die hohe Komplexität, die eine direkte Modellierung nicht erlaubt und zu einem sukzessiven Wahlmodell führt.

Das 4-Stufen-ABM kann mit beliebiger Reihenfolge gerechnet werden. Man kann sich auch vorstellen, dass die Reihenfolge eine Tour-Eigenschaft ist und so von Tour zu Tour wechseln kann.

2.4.3 Zeitwahl

Wenn man im Nachfragemodell nicht nur Modusverlagerungen analysieren möchte, sondern auch Nachfrageverlagerungen zwischen Zeitbereichen, muss die Zeitwahl Teil des Wirkungsmodells sein. Die Abfahrtszeiten sowie die Startzeiten der Aktivitätenausübungen ergeben sich wegen der schon feststehenden Aktivitätendauern direkt aus der Startzeit der Hauptaktivität. Die Modellierung der Zeitwahl ist also gleichbedeutend mit der Modellierung der Startzeit der Hauptaktivität, welche die zeitliche Lage der gesamten Tour bestimmt.

Die Startzeitwahl der Hauptaktivität kann nahtlos in die bestehende Ziel- und Moduswahl eingefügt werden. Der Mechanismus orientiert sich an den entsprechenden genesteten 4-Stufen-Modellen, die vor allem in Großbritannien üblich sind (nested demand model). Das Wahlmodell ist ein dreistufiges genestetes Logit-Modell, bei dem die Stufen Zielwahl, Moduswahl sowie Zeitwahl in beliebiger Reihenfolge erfolgen.

2.4.4 Ober-Modus

Eine weitere Komplexität ist die Aufteilung der Moduswahl in zwei Schritten: die Wahl eines Obermodus (IV oder ÖV) gefolgt von der Wahl des konkreten Modus. Außerdem kann man sich vorstellen, dass beide Wahlen nicht direkt hintereinander erfolgen, sondern z. B. in der Reihenfolge Obermodus - Ziel - konkreter Modus.

Ein solches Wahlmodell fügt sich wieder über das Konzept der mehrfach genesteten Teilmodelle nahtlos in das bestehende System ein. Dabei bildet die Moduswahl selber eine zweistufige genestete Wahl mit entsprechenden LogSummen-Nutzen, die auch getrennt an jede Stelle in die bisherige genestete Struktur eingefügt werden können.

2.4.5 Stabilität

Während ein ABM herkömmlichen aggregierten Modellen auf zahlreichen Gebieten überlegen ist, hat es an einer Stelle eine klare Schwäche: es ist instabil, die Ergebnisse beinhalten immer auch ein gewisses Maß an weißem Rauschen. Die Unsicherheit ergibt sich aus dem Simulationscharakter: Jede Entscheidung entspricht einer Monte-Carlo-Simulation, die zufällig ist. Dies kann zu erheblichen Unsicherheiten führen: Paulsen 2018, [2], beobachteten "Fehler von bis zu 10 % [...] selbst für Verbindungen mit großem Volumen“.

Der Simulationsfehler ist mehrfach untersucht worden, darunter auch Vovsha 2008, [5]. Es wird eine Lösung mit festen Zufallszahlen diskutiert, aber dies ist eine rein technische Lösung, die sich auf einen sehr starren Rahmen stützt: Wenn sich irgendein Detail ändert, werden dieselben Zufallszahlen verwendet, aber für unterschiedliche Entscheidungen. Auf diese Weise kann keine Stabilität und schon gar keine Konsistenz erreicht werden.

In Snethlage 2023, [4], wird ein Ansatz vorgestellt, der den Simulationsfehler im gewissen Sinne vollständig eliminiert. Der Ansatz ist ideal geeignet für das 4-Stufen-ABM. Er wird im Folgenden beispielhaft für die Moduswahl vorgestellt.

Bei den herkömmlichen diskreten Wahlmodellen in ABM wird immer davon ausgegangen, dass der Nutzen ua einer Alternative a beschrieben wird durch die Summe aus einem systematischen (beobachtbaren) und einem zufälligen (nicht-beobachtbaren) Teil. Der systematische Teil des Nutzens va (häufig fälschlicherweise auch einfach nur Nutzen genannt) wird üblicherweise als Linearkombination verschiedener Kenngrößen berechnet, der zufällige Teil, häufig mit εa bezeichnet, wird als Gumbel-verteilte Zufallsvariable modelliert. Während va für jede Person (einer Nachfrageschicht) identisch ist, ist εa individuell unterschiedlich. εa kann als individuelle (nicht beobachtbare) Präferenz einer Person für bzw. gegen eine Alternative interpretiert werden.

Die Wahl fällt auf diejenige Alternative, deren Nutzen maximal ist. Da aber das Modell (bzw. der Modellierer) die individuellen Nutzen nicht kennt, werden aus den Verteilungsannahmen für εa Auswahlwahrscheinlichkeiten berechnet, mit denen dann eine Wahl als Monte-Carlo-Simulation realisiert wird.

Wird das 4-Stufen-ABM stabil gerechnet, so werden die εa schon im Zuge der Erstellung der synthetischen Bevölkerung erzeugt und jeder Person als individuelle Modus-Präferenzen zugewiesen. Die Präferenzen sind eine Eigenschaft der Person und ändern sich nicht (es sei denn, es sind gerade die Folgen einer solchen Änderung, die untersucht werden sollen).

Dies hat Folgen für die Durchführung der Wahl: Da die individuellen Präferenzen dem Modell nun bekannt sind, müssen keine Monte-Carlo-Simulationen mehr durchgeführt werden. Die Wahl fällt einfach auf die Alternative mit maximalem Nutzen.

Auf diese Weise ist der Zufall während des Wahl-Prozesses vollständig eliminiert. Anders als bei einfachen fixierten Zufallszahlen sind die Reaktionen des Modells auf Änderungen immer konsistent. Man kann auf diese Weise auch die Folgen minimaler Änderungen analysieren, sie werden nicht durch weißes Rauschen überlagert.

Der Zufall ist allerdings nicht vollständig verschwunden: er ist nun Teil der Erzeugung. Ein stabiles ABM ist ein Modell einer möglichen Ausprägung der Wirklichkeit. Erwünscht ist meistens jedoch eher die durchschnittliche Wirklichkeit, die nur durch Mittelwertbildung über mehrere Berechnungen mit verschiedenen individuellen Präferenzen angenähert werden kann. Dies ist ein allgemeines Problem bei Modellen mit konkreten Personen: im Gegensatz zu aggregierten Modellen agieren immer ganze Personen mit ganzzahligen Entscheidungen.

Man kann das Problem auch etwas entspannter sehen: bisher ist es allgemein anerkannte Praxis, die synthetische Bevölkerung nur genau einmal pro Modell zu erstellen. Obwohl auch eine synthetische Bevölkerung in einem gewissen Maße zufällig ist, wird im Allgemeinen nicht erwartet, dass Modellrechnungen mit unterschiedlichen Versionen der synthetischen Bevölkerung gerechnet werden. Übertragen auf die individuellen Präferenzen bedeutet dies, dass diese als Teil der synthetischen Bevölkerung auch nur in einer Version verwendet werden müssen.

3 Vergleich mit aggregiertem 4-Stufen-Modell

3.1 Datenbedarf

Der Datenbedarf für ein 4-Stufen-ABM ist dem eines aggregierten Modells sehr ähnlich. Für die Erzeugung benötigt man die Ergebnisse einer Haushaltsbefragung. Diese muss nicht unbedingt in der Planungsregion durchgeführt worden sein. Eine Erhebung in einer ähnlichen Gegend kann (analog zu einer Gewichtung) mit Hilfe von sozio-ökonomischen Daten der Planungsregion an diese angepasst werden.

Modellparameter (wie z. B. Nutzendefinitionen) können wie bei aggregierten Modellen gewonnen werden: entweder, sie werden auf Grundlage von Daten geschätzt oder sie werden bestehenden vergleichbaren Modellen entnommen.

Struktur- und Bevölkerungsdaten müssen auf Standortebene vorliegen. In der Regel werden dazu Daten gröberer Ebenen auf Grundlage von Gebäude-Grundrissen disaggregiert. Je mehr Informationen dabei über die Gebäude bekannt sind, also beispielsweise über die Nutzung oder die Gebäudehöhe, desto besser ist der resultierende Datensatz.

Kalibrierung und Validierung erfolgt im Wesentlichen in gleicher Weise wie bei aggregierten Modellen. Insbesondere ist es nicht erforderlich, dabei in großem Maßstab räumlich oder zeitlich genauer vorzugehen als bei aggregierten Modellen. Der wesentliche Vorteil der Disaggregierung im 4-Stufen-ABM ist ja weniger die kleinräumige Analyse als vielmehr die genaueren Kenngrößen, auf deren Basis Modus- und Ziel-Entscheidungen gefällt werden. Und diese sind in der Regel auch unkalibriert schon deutlich besser als bei aggregierten Modellen.

Da Kalibrierungen sowie Analysen auch bei ABM häufig auf Ebene von Verkehrsbezirken durchgeführt werden, ist für diesen Zweck eine Bezirkseinteilung notwendig. Diese richtet sich ausschließlich nach den Kalibrierungs- und Analysezielen.

3.2 Kenngrößen

Für die Berechnung der Kenngrößen ist, wie bei aggregierten Modellen, ein Netzmodell nötig. Im Unterschied zu herkömmlichen Modellen rückt der Langsamverkehr mehr in den Fokus, was eine genauere Modellierung der entsprechenden Netze erfordert. Dazu gehört auch, dass der fußläufige Zugang zum ÖV (also zu den Haltestellen) gewährleistet sein muss.

Allerdings bedeutet das nun nicht, dass unbedingt jeder Trampelpfad im Modell abgebildet sein muss. Die Referenz bildet nach wie vor das herkömmliche 4-Stufen-Modell, ein einigermaßen vollständiges Rad- und Fußwegenetz sollte also schon zu deutlich genaueren Ergebnissen führen.

Umlegungen, die notwendig sind, um kapazitätsabhängige Kenngrößen ableiten zu können (z. B. Fahrzeit im belasteten Netz), erfolgen wie gehabt in aggregierter Form. Für kapazitätsunabhängige Kenngrößen (in der Regel der Langsam- sowie öffentliche Verkehr) müssen allerdings keine Umlegungen gerechnet werden. Damit sind insbesondere keine ÖV-Anbindungen (für die Nachfrageberechnung) erforderlich, da die Anbindung an die Haltestellen über das Fußwegenetz erfolgt.

Zur Bestimmung dynamischer IV-Kenngrößen ist ausdrücklich keine dynamische Umlegung erforderlich. Der Autor dieses Papers hält sie im Gegenteil aufgrund ihrer geringen Stabilität und schwachen Konvergenz eher für ungeeignet. Es wird dagegen empfohlen, je Zeitbereich eine statische Umlegung zu verwenden. Verglichen mit den 24-Stunden-Umlegungen, die aggregierten Modellen zugrunde liegen, bedeutet dies immer noch eine enorme Verbesserung. Da moderne Gleichgewichtsumlegungen extrem schnell rechnen, ist nicht mit einer wesentlich erhöhten Rechenzeit zu rechnen.

3.3 Zusatzverkehre

Aggregierte Modelle enthalten häufig zahlreiche Nebenmodelle wie externer Verkehr, Touristenverkehr, Flughafenverkehr. Falls solche Modelle nicht disaggregiert modelliert werden sollen, ist dies uneingeschränkt möglich. Ihr Einfluss auf die disaggregierte Nachfrage erfolgt, wie bei aggregierten Modellen,über die Umlegung der gemeinsamen Nachfrage kapazitätsabhängiger Modi.

3.4 Implementierung und Beispiel

  • 220.000 Strecken
  • 3.000 Haltestellenbereiche
  • 540.000 Personen
  • 410.000 Aktivitätenstandorte
  • 6.000 Bezirke

3.4.2 Computer

  • Intel® Xeon® W-2155 CPU @ 3.30GHz
  • 256 GB RAM
  • 10 physische Kerne

3.4.3 Rechenzeit

Die Rechenzeit für eine Nachfrageberechnung (eine Iteration) beträgt 2:27 Stunden.

3.5 Vorteile und erweiterte Anwendungsmöglichkeiten

Von den vielen Vorteilen und erweiterten Anwendungsmöglichkeiten eines 4-Stufen-ABM gegenüber aggregierten 4-Stufen-Modellen seien hier nur einige stichwortartig genannt:

  • ein erheblich verringerter Aggregationsfehler
    • Der geringere Aggregationsfehler wird durch die räumliche und zeitliche Disaggregation erreicht. Die räumliche Disaggregation könnte in aggregierten Modellen auch durch eine feinere Bezirkseinteilung erreicht werden, die allerdings sehr stark limitiert ist: mit der derzeit erhältlichen Software sind schon Modelle mit 20000 Bezirken kaum noch händelbar, während ABM ohne weiteres mit mehr als 100000 Standorten arbeiten kann.
  • Berücksichtigung gegenläufiger Angebotsqualitäten im IV und ÖV
    • Während der Hauptverkehrszeit ist das ÖV-Angebot häufig besser als zu Schwachlastzeiten, während sich die Fahrzeiten im Pkw-Verkehr verschlechtern.
  • bessere Abbildung des Langsamverkehrs
    • Durch die räumlich höhere Auflösung können Fuß- und Radverkehr (sowie Scooter u.Ä.) genauer abgebildet werden. Dies ist insbesondere dann interessant, wenn die entsprechenden Modi im Fokus der Untersuchung stehen.
  • zeitliche differenzierte Maut
    • Eine zeitlich differenzierte Maut kann z. B. die viel-zitierte Morgen-Maut sein, bei der nur während der Morgenspitze für Einfahrten in das Mautgebiet eine Gebühr anfällt.
  • Parkraummanagement
    • Da die Dauern von Aktivitäten bekannt ist, können korrekte Parkgebühren in die Moduswahl einfließen
  • Hinzufügen oder ändern von ÖV-Haltestellen, ohne Anbindungen korrigieren zu müssen
    • Die Anbindung an ÖV-Haltestellen erfolgt über das Fußwegenetz, deshalb werden explizite ÖV-Anbindungen nicht verwendet. Beim Hinzufügen oder Ändern von Haltestellen muss lediglich beachtet werden, dass der Anschluss an das Fußwegenetz gewährleistet ist.
  • E-Mobilität: Aufladen im Tour-Zusammenhang
    • Durch den Tour-Zusammenhang kann festgestellt werden, ob zwischendurch eine Aufladung nötig ist.
  • COVID-19: ÖV-Meidung nur bei hoher Auslastung
    • Während der COVID-19-Pandemie mieden viele Menschen den ÖV, ein Teil davon allerdings nur während der Starklastzeiten. Zur Modellierung dieses Phänomens benötigt man eine zeitlich differenzierende Moduswahl.
  • Home-Office
    • Die Wahl langfristiger Ziele wie den Arbeitsplatz wird separat simuliert.
  • konstanter Arbeitsplatz bei Kurzfrist-Prognose
    • Die Wahl langfristiger Ziele wie den Arbeitsplatz wird separat simuliert und kann für bestimmte Szenarien einfach konstant gehalten werden.
  • individuelle Wirkung bei Kostenänderungen
    • Der Einfluss der Kenngrößen kann für jede Person individuell modelliert werden. Dies betrifft insbesondere den Einfluss von Kosten, der über einen individuellen Value-of-Time (Zeitwert) abgebildet werden kann.
  • Belastungsteppich (zeitliche ÖV-Gefäßfüllung)
    • Teil der Ergebnisstruktur ist je ÖV-Weg die Ein- und Ausstiegshaltestelle zusammen mit der Abfahrtszeit. Mit Hilfe einer Umlegung kann damit für jede Fahrzeugfahrt der Füllungsprozess genau simuliert werden.
  • vorgeschaltete Wahl des Mobilitätswerkzeugs (Pkw-Besitz, ÖV-Zeitkarte)
    • Die Wahl eines Mobilitätswerkzeugs kann durch die Berücksichtigung von zahlreichen Personenattributen sowie des Haushaltkontextes deutlich genauer modelliert werden als in aggregierten Modellen.
  • Analyse kleiner (nicht vordefinierter) Segmente (z. B. Alleinerziehende)
    • In aggregierten Modellen ist jede Analyse durch die Definition der Personengruppen beschränkt. Bei einem ABM können Analysen hinsichtlich jedes Personen- bzw. Haushaltsattributs durchgeführt werden.

4 Beispiele

Mit zwei einfachen Beispielen soll angedeutet werden, welche Möglichkeiten ein 4-Stufen ABM bietet.

4.1 City-Maut

Im ersten Beispiel wurde eine einfache City-Maut modelliert. Während der Zeiten mit hoher Belastung (7:30 – 8:30 sowie 16:00 – 17:00) wird eine Pkw-Maut (2 Euro) im Stadtgebiet erhoben.

Bild 1: Anzahl der Pkw-Fahrten (Abfahrten) im Stadtgebiet

Bild 2: Verteilung der Aktivitätenausübungen an einer nur über Pkw zu erreichenden Einkaufsmöglichkeit mit (dunkel) und ohne (hell) Erhebung einer City-Maut

Obwohl die Maut nur während der beiden Spitzen erhoben wird, entfaltet sie ihre Wirkung weit darüber hinaus.

4.2 Haltestelle verschieben

In diesem Beispiel wird eine Haltestelle um 135m verlegt. Im folgenden Bild ist die Haltestelle vorher (großes H-Zeichen) und nachher (großer blauer Punkt) zu sehen.

Bild 3: Veränderung der Anzahl an ÖV-Wegen, die an einem Standort starten. Rote Dreiecke bezeichnen dabei Standorte mit weniger, grüne solche mit mehr ÖV-Wegen.

Durch die Verlegung ist der Fußweg zur Haltestelle verlängert, die Reisezeit mit dem ÖV-Modus ist länger und damit unattraktiver geworden.

Mit der Attraktivität des ÖV-Modus sinkt auch dessen Nutzung, vor allem bei Standorten in der unmittelbaren Nähe der Haltestelle. An einigen wenigen Standorten starten allerdings sogar etwas mehr ÖV-Wege als vor der Verlegung: dies sind alternative Ziele, die relativ gesehen durch die Verlegung attraktiver geworden sind.

5 Fazit

Wie eingangs erwähnt, dient das 4-Stufen-ABM im Wesentlichen dem sanften Übergang vom traditionellen 4-Stufen-Modell zu aktivitätenbasierten Modellen. Dies scheint gelungen:

  • Der Modelltyp führt zu einer besseren Abbildung von aktuell im Fokus stehenden Maßnahmen/Szenarien.
  • Der Modelltyp ist recht leicht verständlich, die Mechanik ist plausibel und bildet die Wirklichkeit ziemlich direkt ab.
  • Der Aufwand und Datenbedarf sowie die Mechanik unterscheiden sich vom bisher üblichen 4- Stufen-Modell nicht sonderlich. Insbesondere sind aufwendige Erhebungen und Parameterschätzungen nicht unbedingt notwendig.

Auf der anderen Seite sind einige u. U. wichtige Anforderungen nicht erfüllt:

  • Ergebnisse können nicht in jeder beliebigen Feinheit analysiert werden. Es wird auf eine entsprechend tief gehende Kalibrierung zu Gunsten eines überschaubaren Aufwands verzichtet.
  • Es sind nicht alle mobilitätsrelevanten Aspekte abgebildet. Ausschlaggebend dafür ist ein eher mäßig großer Nutzen der nicht abgebildeten Aspekte, dem nicht nur erhebliche Aufwandskosten gegenüberstehen. Ein Modell, das alle erdenklichen Aspekte berücksichtigt, wird schnell intransparent und damit schwer wartbar.

6 Literatur

[1]      M. E. Ben-Akiva, S. R. Lerman (1985). Discrete Choice Analysis: Theory and Application to Travel Demand. MIT Press, Cambridge MA.

[2]      M. Paulsen, T. K. Rasmussen, O. A. Nielsen (2018). Output variability caused by random seeds in a multi-agent transport simulation model. Procedia Computer Science 130, S. 850-857.

[3]      PTV GmbH (2023). PTV Visum 2023 Manual. PTV GmbH Karlsruhe.

[4]      M. Snethlage (2023). Stable ABM - Elimination of the Simulation Error. ETC 2023, Milano, 6.-8. September 2023.

[5]      P. Vovsha, R. Donnelly, S. Gupta (2008). Network Equilibrium with Activity-Based Microsimulation Models: The New York Experience. Transportation Research Record: Journal of the Transportation Research Board. https://doi.org/10.3141/2054-12