FGSV-Nr. FGSV 002/140
Ort Stuttgart
Datum 13.03.2024
Titel Verfahren zur Quantifizierung von Mobilitätsoptionen
Autoren Univ.-Prof. Dr.-Ing. Carsten Sommer, Franziska Henkel
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Kurzfassung

Mobilität stellt eine Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe dar. In der Verkehrsplanung wird die Erreichbarkeit als gängiges und weit verbreitetes Maß genutzt, um die Teilhabechancen einer Person oder Personengruppe zu ermitteln. Häufig beziehen sich die Erreichbarkeitsindikatoren jedoch lediglich auf objektive Merkmale, wie die Qualität des Verkehrsangebots auf Basis der Raum- und Siedlungsstruktur. In diesem Beitrag wird ein Verfahren entwickelt, welches die Mobilitätsoptionen von Personen quantifiziert, um so über die objektive Erreichbarkeit hinaus auch individuelle Merkmale der Personen zu berücksichtigen. Um die Mobilitätsoptionen zu quantifizieren, wird ein Verfahren mit fünf Schritten entwickelt. Werden alle Schritte durchlaufen, wird ein Mobilitätsoptionenindex (MOX) berechnet, der einen Wert zwischen 0 und 10 annimmt. Mithilfe einer exemplarischen Anwendung des Verfahrens wird nachgewiesen, dass subjektiv empfundene Erreichbarkeitsprobleme der Personen negativ mit den berechneten Mobilitätsoptionen korrelieren. Je höher die Mobilitätsoptionen demnach sind, desto geringer sind die empfundenen Erreichbarkeitsprobleme. Mithilfe des Verfahrens können die Mobilitätsoptionen von unterschiedlichen Personen und Personengruppen analysiert und verglichen werden. Die Ergebnisse zeigen beispielsweise, dass armutsgefährdete Personen signifikant weniger Mobilitätsoptionen aufweisen als die nicht armutsgefährdete Personen.

 

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1 Einführung und methodische Grundlagen

Mobilität ist unabdingbar, um aushäusige Aktivitäten wie bspw. Arbeiten, Einkaufen oder Bildung realisieren zu können. Aufgrund der räumlichen Distanzen zwischen den Orten, an denen Menschen ihre Aktivitäten nachgehen, stellt die Mobilität eine Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe dar [1]. Somit kann durch Einschränkungen in der Mobilität der Zugang zu verschiedenen Bereichen der Daseinsvorsorge eingeschränkt werden und das wiederum zu mobilitätsbezogener sozialer Exklusion beitragen [2,3].

Die Gewährleistung der Daseinsvorsorge wird in Deutschland häufig aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) abgeleitet [4,5]. Die Sicherung der Daseinsvorsorge in der Raumplanung ist im Raumordnungsgesetz (ROG) verankert. Laut §1 Abs. 2 des ROG sollen in allen Teilräumen Deutschlands gleichwertige Lebensverhältnisse geschaffen werden. Hierunter sind nach dem ROG §2 Abs. 2 Nr.1 ausgeglichene soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse zu verstehen. Das beinhaltet vor allem die Versorgung mit Dienstleistungen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, insbesondere die Erreichbarkeit von Einrichtungen und Angeboten der Grundversorgung für alle Bevölkerungsgruppen (ROG §2 Abs. 2 Nr. 3) [4,6]. Auch bei den 17 globalen Zielen für Nachhaltigkeit (SDG) wird unter dem 11. Ziel „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ das Unterziel formuliert, bis 2023 den Zugang zu sicheren, bezahlbaren, zugänglichen und nachhaltigen Verkehrssystemen für alle zu ermöglichen [7].

Auswertungen der Studie Mobilität in Deutschland (MiD) 2017 zeigen jedoch, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen Zugang zu ihren Zielgelegenheiten haben. Menschen mit einem geringeren ökonomischen Status besitzen bspw. seltener ein Rad und seltener ein Auto und legen häufiger Wege zu Fuß zurück als Personen mit höherem ökonomischen Status. Die durchschnittliche Wegehäufigkeit steigt ebenfalls mit steigendem ökonomischen Status [8]. Ziel einer integrierten Verkehrsplanung ist es unter anderem Gerechtigkeit im Verkehr herzustellen, worunter auch die soziale Inklusion aller Bevölkerungsgruppen unabhängig von bspw. körperlichen Einschränkungen, geringem Einkommen oder zeitlichen Restriktionen zählt [9]. Mobilitätsbedingte Teilhaberestriktionen werden aus verkehrswissenschaftlicher Sicht vor allem durch das Zusammenwirken von drei Elementen bestimmt: Siedlungsstruktur, Verkehrsangebot und Merkmale des Individuums (bspw. Verfügbarkeiten von Verkehrsmitteln, Fähigkeiten) [10,11]. In der Verkehrsplanung wird die Erreichbarkeit als gängiges und weit verbreitetes Maß genutzt, um die Teilhabechancen von Personen zu ermitteln [12]. Die Bewertung der Erreichbarkeit basiert hierbei auf den erreichbaren Zielgelegenheiten und wird entsprechend häufig mit der Reisezeit zu Zielgelegenheiten ausgedrückt. Die Erreichbarkeit beschreibt dabei den Zugang zu Zielgelegenheiten und bewertet damit die Qualität des Verkehrsangebots auf Basis der vorhandenen Raum- und Siedlungsstruktur. Häufig wird der Begriff in der Verkehrsplanung damit im Sinne „objektiver“ bzw. „räumlicher“ Erreichbarkeit verstanden. Merkmale des Individuums werden bei der Bewertung der Erreichbarkeit in der Regel nicht beachtet [12].

Mobilität wird nach den FGSV-Begriffsbestimmungen als Oberbegriff für Mobilitätsoptionen und Mobilitätsverhalten definiert. Mobilitätsoptionen stellen hierbei die Möglichkeit einer Person zur Ortsveränderung dar, wohingegen das Mobilitätsverhalten die realisierten Ortsveränderungen einer Person mit ihren räumlichen, zeitlichen, modalen und wegezweckspezifischen Ausprägungen beschreibt [13]. Das Mobilitätsverhalten wird demnach von den Mobilitätsoptionen einer Person determiniert [8]. Je mehr Mobilitätsoptionen einer Person zur Verfügung stehen, desto freier kann diese ihr Mobilitätsverhalten selbst bestimmen und verwirklichen. Eine reduzierte Verkehrsteilnahme und damit bspw. eine geringere Mobilitätsrate ist nicht zwingend ein Indiz für mobilitätsbezogene soziale Exklusion, sofern das von der betroffenen Person aufgrund subjektiver Präferenzen gewollt ist [14]. Für eine Analyse der sozialen Teilhabe ist daher eine Betrachtung der Mobilitätsoptionen zielführender als eine Betrachtung des Mobilitätsverhaltens.

In diesem Beitrag wird ein Verfahren vorgestellt, das die Mobilitätsoptionen einer Person quantifiziert. Bei der Quantifizierung der Mobilitätsoptionen werden neben objektiven Merkmalen auch individuelle Merkmale einer Person berücksichtigt. Das Verfahren kann sowohl für Einzelpersonen (z. B. Teilnehmende einer Befragung) als auch für Personengruppen in einem Untersuchungsgebiet angewendet werden. Mithilfe des neu entwickelten Verfahrens sollen Defizite bisheriger Verkehrsplanungen aufgezeigt und behoben werden, die bei einer ausschließlichen Anwendung der objektiven Erreichbarkeit auftreten. Das Verfahren ermöglicht eine Analyse und einen Vergleich der Mobilitätsoptionen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen im Ist-Zustand. Daneben kann das Verfahren zur Bewertung von Maßnahmen bzw. Planfällen vor dem Hintergrund der sozialen Teilhabe genutzt werden.

Auf Basis einer umfangreichen Literaturanalyse wurden zunächst die wesentlichen Einflussfaktoren auf die Mobilitätsoptionen einer Person herausgearbeitet. Diese Einflussfaktoren waren anschließend eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung des Verfahrens. Da der Begriff der Mobilitätsoptionen in Deutschland noch ein relativ neuer ist, wurde bei der Identifikation der Einflussgrößen auf ähnliche und verwandte Konzepte wie bspw. Erreichbarkeit oder Mobilitätsarmut zurückgegriffen [9,11,13,15]. In Bild 1 sind die identifizierten Einflussgrößen auf die Mobilitätoptionen dargestellt und nach Merkmalen der objektiven Erreichbarkeit und Merkmale des Individuums unterteilt.

Bild 1: Einflussgrößen auf die Mobilitätsoptionen einer Person

Zu den Merkmalen der objektiven Erreichbarkeit zählen die Raum- und Siedlungsstruktur, das Verkehrsangebot sowie extern definierte Zeitordnungen außerhalb des Verkehrssystems. Die Raum- und Siedlungsstruktur stellt die räumliche Verteilung von Zielgelegenheiten wie Arbeitsplätzen, Geschäften und Wohnstandorten dar. Das Verkehrsangebot umfasst die für die Ortsveränderung von Personen und/oder Gütern zur Verfügung gestellte Verkehrsinfrastruktur und die angebotenen Verkehrsdienstleistungen [13]. Die Zeitordnungen sind festgelegte Zeiten, auf die das Individuum keinen unmittelbaren Einfluss nehmen kann. Das können z. B. Öffnungszeiten von Zielgelegenheiten wie Arztpraxen oder (vom Arbeitgeber definierte) Arbeitszeiten sein.

Die Merkmale des Individuums umfassen die Ressourcen, Fähigkeiten sowie die soziale Rolle und die Einstellungen der Person. Unter Ressourcen werden sowohl materielle als auch monetäre Ressourcen verstanden. Materielle Ressourcen können bspw. der Pkw- oder Fahrradbesitz darstellen. Unter den Fähigkeiten einer Person werden ihre sensorischen, motorischen, sozialen, emotionalen und kognitiven Möglichkeiten verstanden. Bspw. hat eine Person die Fähigkeit Laufen oder Fahrradfahren zu können. Die soziale Rolle einer Person beschreibt die Rolle, die diese in der Gesellschaft einnimmt und beinhaltet Rollenzuschreibungen und -erwartungen [16]. Die Sozialisation und Identifikation mit einer sozialen Rolle hängt vor allem mit der Übernahme von (typischen) Verhaltensweisen, Meinungen und Werthaltungen einer Gruppe zusammen [17,18]. Die soziale Rolle hat daher einen engen Zusammenhang mit den Einstellungen einer Person und beeinflussen ebenfalls den Mobilitätsbedarf sowie das Mobilitätsverhalten. So haben aufgrund von Rollenzuschreibungen und -verteilungen Personen, die Sorgearbeit übernehmen, ein anderes Mobilitätsverhalten als Personen, die keine Sorgearbeit übernehmen. Hinter der sozialen Rolle verbergen sich Aspekte wie Betreuung oder Arbeitsteilung, die die Mobilität beeinflussen [16]. Die Einstellung eines Individuums ist eine psychische Tendenz, die dadurch zum Ausdruck kommt, dass man ein bestimmtes Objekt mit einem gewissen Grad an Zuneigung oder Ablehnung bewertet [19]. Z. B. kann eine Person ein Verkehrsmittel wie den Pkw wegen ihres Umweltbewusstseins ablehnen, obwohl diese die Ressourcen und die Fähigkeiten zur Pkw-Nutzung besitzt.

Die Einflussgrößen hängen miteinander zusammen und können sich gegenseitig beeinflussen. Wenn eine Person bspw. kein Fahrrad fahren kann (Fähigkeiten), wird diese sehr wahrscheinlich kein Fahrrad besitzen (Ressourcen).

2 Ablauf und wesentliche Charakteristika des Verfahrens

2.1 Überblick

Das Verfahren zur Quantifizierung von Mobilitätsoptionen untergliedert sich in fünf Berechnungsschritte. Werden alle Schritte des Verfahrens durchlaufen, wird ein Mobilitätsoptionenindex (MOX) berechnet, der die Mobilitätsoptionen einer Person quantifiziert. Unter dem Begriff Index wird das Zusammenfassen mehrerer Einzelindikatoren verstanden, die gemeinsam eine neue Variable bilden [20]. Daneben können auch Auswertungen einzelner Berechnungsschritte bereits als Indikatoren für die Mobilitätsoptionen von Personen oder Personengruppen dienen. Eingebettet ist das Verfahren in normative Vorgaben der Daseinsvorsorge. Diese Vorgaben werden in Kapitel 2.2 dargestellt.

2.2 Normative Vorgaben der Daseinsvorsorge

Auf Basis des ROG ist es zu gewährleisten, dass Einrichtungen der Daseinsvorsorge für alle in Deutschland lebenden Personen erreichbar sind. Die Einrichtungen der Daseinsvorsorge, die in diesem Beitrag berücksichtigt werden, sind in Tabelle 2 dargestellt.

Ein wichtiges Instrument der Raumordnung und der räumlichen Organisation der Daseinsvorsorge stellt das Zentrale-Orte-Konzept dar. In einem zentralen Ort werden unterschiedliche Einrichtungen und Infrastruktur räumlich geballt. In Deutschland wird zwischen drei hierarchisch angeordneten zentralen Orten unterschieden: Grund-, Mittel- und Oberzentren [21]. Im Rahmen der Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) wurden folgende Richtwerte für die Erreichbarkeit von zentralen Orten festgelegt:

Tabelle 1: Zielgrößen für die Erreichbarkeit zentraler Orte auf Basis der MKRO [21,22]

Als zumutbare Reisezeit zum Erreichen der Zielgelegenheiten der Daseinsvorsorge werden im Rahmen dieses Beitrags die Zielwerte der MKRO entsprechend des zugeordneten zentralen Ortes herangezogen. Die unterschiedlichen Zielgelegenheiten werden dazu je einem Bedarfstyp (z. B. alltäglicher Bedarf) und damit einem zentralen Ort zugeordnet (siehe Tabelle 2). Die MKRO unterscheidet zwischen den Zielwerten mit dem MIV und Zielwerten mit dem ÖV. Mit dem MIV wird bei allen zentralen Orten eine geringere zumutbare Reisezeit angesetzt als mit dem ÖV. Im Rahmen dieses Beitrags werden dieselben zumutbaren Reisezeiten für alle Verkehrsmodi gewählt. Zum einen wird das dadurch begründet, dass für alle Bevölkerungsgruppen gleichwertige Lebensverhältnisse geschaffen werden sollen, unabhängig davon, welche Verkehrsmittel diesen zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite steht diese Unterscheidung, die eine Bevorrechtigung des MIV gegenüber dem ÖV bedeutet, im Widerspruch zur Einhaltung der definierten Klima- und Umweltschutzziele in Deutschland.

Für die Berechnung der Mobilitätsoptionen vor dem Hintergrund der Daseinsvorsorge bzw. sozialen Teilhabe ist es notwendig, die Anzahl an erreichbaren Zielgelegenheiten für jede Einrichtung zu definieren. Je nach Bedarfstyp wird einerseits eine Mindestanzahl an erreichbaren Zielgelegenheiten – so genannte akzeptable Anzahl – und andererseits eine optimale Anzahl festgelegt (siehe Tabelle 2). So gilt beispielsweise für jede Einrichtung des alltäglichen Bedarfes (Bäckerei, KiTa etc.), dass jeweils mindestens zwei und im optimalen Fall vier Einrichtungen in 20 Minuten erreicht werden sollen.

Tabelle 2: Berücksichtigte Einrichtungen der Daseinsvorsorge mit zumutbarer Reisezeit und akzeptabler und optimaler Anzahl erreichbarer Einrichtungen

Arbeitsplätze gelten nicht als klassische Einrichtung der Daseinsvorsorge und können deshalb nicht grundlegend einem zentralen Ort zugewiesen werden. Laut dem Sozialgesetzbuch (SGB) ist im Regelfall für einen Arbeitslosen eine tägliche Pendelzeit (Hin- und Rückweg) zu einer potenziellen Arbeitsstelle von unter 2,5 Stunden zumutbar (§ 140 Absatz 4 SGB III). Die maximal zumutbare Reisezeit für eine Strecke liegt somit bei 75 Minuten. Da die MKRO bei der Festlegung der Zielwerte der zumutbaren Reisezeiten je zentralem Ort allerdings maximal 60 Minuten ansetzt (bei Oberzentren), wird auch zur Erreichung der Arbeitsplätze eine zumutbare Reisezeit von 60 Minuten zugrunde gelegt. Zudem können Reisezeiten über 60 Minuten generell mit einer geringen Erreichbarkeitsqualität konstatiert werden [22–24].

Der ÖV hat die Gemeinwohlaufgabe zu erfüllen, der Bevölkerung mit einer ausreichenden Verkehrsbedienung den Zugang zu den Einrichtungen der Daseinsvorsorge in einer angemessenen Reisezeit zu garantieren [25]. Bei einer gerade noch ausreichenden ÖV-Angebotsqualität (Stufe der Angebotsqualität D) wird mit dem ÖV eine Luftlinienentfernung von 20 km in einer Stunde zurückgelegt [22]. Die akzeptable Anzahl an erreichbaren Arbeitsplätzen besteht darauf aufbauend aus der Summe der Arbeitsplätze, die in einem Kreis mit 20 km Luftlinienradius um den Wohnort einer Person liegen. Bei einem Luftlinienradius von 20 km ergibt sich eine Kreisfläche von 1.257 km².

Da das entwickelte Verfahren deutschlandweit anwendbar und der berechnete Index deutschlandweit vergleichbar sein soll, soll auch für die akzeptable Anzahl an Arbeitsplätzen ein Wert ermittelt werden, der deutschlandweit angesetzt werden kann. Daher wird ein Wert festgelegt, der unabhängig von der Raumstruktur des Wohnortes ist. Dieser Festlegung liegt das Ziel der Raumordnung zugrunde, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Räumen Deutschlands zu schaffen (ROG §1 Abs. 2).

Es wird daher die vereinfachte Annahme getroffen, dass alle Arbeitsplätze in Deutschland räumlich gleichverteilt sind. Die Gesamtanzahl an Arbeitsplätzen wird über die in Deutschland gemeldete Anzahl an Erwerbstägigen (Oktober 2023: ca. 45,8 Mio, Personen) und die Anzahl offener Arbeitsstellen (2023: ca. 0,8 Mio. Arbeitsstellen) ermittelt. Die Summe ergibt näherungsweise eine Anzahl von 46,6 Mio. Arbeitsplätzen in Deutschland [26,27]. Bei einer angenommenen räumlichen Gleichverteilung der Arbeitsplätze in Deutschland mit einer Gesamtfläche von 357.592 km² [28], ergeben sich 130 Arbeitsplätze je km². Wird eine mindestens erreichbare Kreisfläche von 1.257 km² für jede Person zugrunde gelegt, ergeben sich bei 130 Arbeitsplätzen je km² insgesamt 163.777 zu erreichende Arbeitsplätze. Diese Anzahl wird als akzeptable Anzahl an zu erreichende Arbeitsplätze angesetzt. Analog zu den (weiteren) Einrichtungen der Daseinsvorsorge wird die doppelte Anzahl als optimale Anzahl (327.555 Arbeitsplätze) angesetzt.

2.3 Schritt 1: Analyse des Bedarfs an Zielgelegenheiten

Ortsveränderungen sind in unterschiedlicher Weise zweckgebunden und nur in seltenen Fällen Selbstzweck (bspw. bei Spaziergängen). Häufig lässt sich der Wegezweck über die Aktivität am Zielort definieren, z. B. Arbeiten oder Einkaufen. Die ausgeübten Aktivitäten lassen sich als Formen gesellschaftlicher und sozialer Teilhabe interpretieren [12].

Da sich „gewünschte“ Mobilität und damit auch nicht realisierte Wege empirisch – wenn überhaupt – nur sehr schwer valide bestimmen lassen [12], wird der Mobilitätsbedarf aus erhobenen Aktivitätenhäufigkeiten abgeleitet. Ziel ist es, den Mobilitätsbedarf als Relevanz von unterschiedlichen Zielgelegenheiten für eine Person bzw. Personengruppe abzubilden. Wird eine Zielgelegenheit sehr häufig aufgesucht, ist die Relevanz höher, als wenn eine Zielgelegenheit selten oder gar nicht aufgesucht wird.

Um repräsentative Werte für Deutschland zu erhalten und somit die Anwendbarkeit des Verfahrens ohne vorangestellte Erhebung bzw. Auswertungen für ein bestimmtes Untersuchungsgebiet zu ermöglichen, wird in diesem Beitrag die Relevanz der Zielgelegenheiten auf Basis des Wegedatensatzes der MiD 2017 deutschlandweit abgeleitet. Hierzu werden geeignete Personengruppen gebildet, die eine möglichst ähnliche Relevanz an Zielgelegenheiten aufweisen. Theoretisch wäre es aber auch möglich, die Relevanz personenscharf abzubilden, was jedoch den Aufwand bei der Anwendung des Verfahrens um ein Vielfaches erhöhen würde. Um geeignete Merkmale zur Gruppierung zu identifizieren, wurde mithilfe von Regressionsanalysen nachgewiesen, dass insbesondere die Kombination aus der Haupttätigkeit (soziale Rolle) und dem Alter der Person eine im Vergleich hohe Varianzaufklärung bei der Aktivitätenhäufigkeit aufweist [29]. Demnach werden die Personengruppen auf Basis der Haupttätigkeit und des Alters gebildet.

Um die Relevanz der Zielgelegenheiten zu berechnen, wird der prozentuale Anteil der Wege zu der jeweiligen Zielgelegenheit bezogen auf alle Wege berechnet. Die berechneten Anteile bilden die Relevanz der Zielgelegenheit für die entsprechende Personengruppe ab. Zielgelegenheiten, die von der Personengruppe häufig aufgesucht werden, werden dementsprechend mit einer hohen Relevanz und Zielgelegenheiten, die von der Personengruppe kaum bis gar nicht aufgesucht werden, bekommen demnach eine sehr niedrige Relevanz. Bei einer Vollzeit berufstätigen Person < 25 J. liegt die Relevanz (rPG,Typ) der Erreichung des Arbeitsplatzes bspw. bei 61 %, das Erreichen einer Drogerie bei ca. 6 % und das Erreichen einer Schule bei 0 %.

Aus den durchgeführten Aktivitäten wird somit auf den Mobilitätsbedarf geschlossen. Dieser Ansatz birgt die Gefahr eines Zirkelschlusses, da das Mobilitätsverhalten durch verschiedene Komponenten wie z. B. durch die räumliche Erreichbarkeit von Zielgelegenheiten beeinflusst wird und demnach nicht jede Person alle „gewünschten“ Aktivitäten durchführen kann. Bei diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass alle „gewünschten“ Aktivitäten auch durchgeführt werden. Einige Studien zeigen allerdings, dass nicht jeder Mobilitätsbedarf von Personen auch umgesetzt wird. Nicht erfüllte Mobilitätsbedarfe (engl. unmet travel needs) wurden bisher vor allem bei älteren Menschen untersucht [30]. Unter anderem in den Bereichen Gesundheit, Kosten und geografische Lage können Barrieren für die Umsetzung der Mobilitätsbedarfe existieren. Um nicht erfüllte Mobilitätsbedarfe möglichst auszuschließen, basiert die dargestellte Auswertung der Relevanzen der Zielgelegenheiten nur auf Personen, die keine gesundheitliche Beeinträchtigung haben, mindestens einen hohen ökonomischen Status aufweisen und nicht im peripheren ländlichen Raum wohnen.

2.4 Schritt 2: Bestimmung der Anzahl erreichbarer Zielgelegenheiten

Im zweiten Schritt des Verfahrens wird die Anzahl erreichbarer Zielgelegenheiten bestimmt. Hierzu wird als Grundlage die in Kapitel 2.2 bestimmte zumutbare maximale Reisezeit je Zielgelegenheit verwendet. Alle Zielgelegenheiten, die in der maximal zumutbaren Reisezeit erreicht werden können, fließen in die Berechnung mit ein. Die Reisezeiten werden je Verkehrsmodus bestimmt, da sich die Reisezeiten zwischen unterschiedlichen Verkehrsmodi deutlich unterscheiden können. Für die Bestimmung der Anzahl erreichbarer Zielgelegenheiten je Zielgelegenheitstyp und Verkehrsmodus bestehen unterschiedliche Möglichkeiten.

Zum einen können geographische Informationssysteme (GIS) wie QGIS oder ArcGIS verwendet werden. Als Datengrundlage für die Zielgelegenheiten (Points of Interest (POI)) können die frei verfügbaren Vektordaten von OpenStreetMap (OSM) herangezogen werden. Die OSM-Daten sind für Deutschland flächendeckend in hoher Auflösung verfügbar und bilden sehr häufig die Grundlage für Untersuchungen, die auf routingbasierten Fragestellungen basieren [31,32]. Zur Durchführung des Routings für unterschiedliche Verkehrsmodi existieren diverse Routing-Schnittstellen wie zum Beispiel Here API oder Google Routing API. Mithilfe der Schnittstellen werden Isochronen mit festgelegter Reisezeit für Bevölkerungsschwerpunkte der Untersuchungsgebiete berechnet und als Polygon ausgegeben [33]. Durch die anschließende Verschneidung der Isochronen-Polygone mit den POI werden erreichbare Zielgelegenheiten in der vorgegebenen Reisezeit je Verkehrsmodus bestimmt.

Daneben können die Anzahl erreichbarer Zielgelegenheiten auch von kommerziellen Anbietern übernommen werden. Beispielsweise bietet die kostenpflichtige Software ArcGis das Tool bzw. Toolset „Zusammenfassen in der Nähe“ an, welches auf Basis angebender Reisezeiten die Anzahl erreichbarer Zielgelegenheiten je Zielgelegenheitstyp ausgibt. Das Tool nutzt dabei eigene routingfähige Netzwerke, um die Reisezeit zu Zielgelegenheiten je Verkehrsmodus zu bestimmen. Jede Berechnung muss dabei mit sogenannten Credits (Währung in der Software) bezahlt werden [34]. Existiert für das betrachtete Untersuchungsgebiet ein Verkehrsnachfragemodell, kann dieses ebenfalls für die Reisezeitberechnung zu den unterschiedlichen Zielgelegenheitstypen in den zumutbaren Reisezeiten verwendet werden. Für die exemplarische Anwendung des Verfahrens im Rahmen dieses Beitrags (siehe Kapitel 3) wurde das bestehende Verkehrsnachfragemodell VIS-H20 der Region Hannover verwendet.

Mithilfe eines reisezeitabhängigen Gewichtungsfaktors soll jedoch die Akzeptanz einer kürzeren bzw. längeren Reisezeit berücksichtigt werden: Je länger die Reisezeit ist, desto unattraktiver sind die erreichbaren Zielgelegenheiten bei identischer Qualität der Zielgelegenheit. Um einen reisezeitspezifischen Gewichtungsfaktor herzuleiten, wird neben der zumutbaren Reisezeit auch eine so genannte optimale Reisezeit je Zielgelegenheit (topt,Typ) bestimmt, innerhalb dieser die erreichten Zielgelegenheiten mit dem (maximalen) Gewichtungsfaktor von 1 eingehen. Zwischen der optimalen und der maximal zumutbaren Reisezeit nimmt der Gewichtungsfaktor stetig linear ab, sodass weiter entfernte Zielgelegenheiten nur zu einem kleineren Teil in die Berechnung eingehen. Mithilfe dieser Funktion wird keine harte Grenze zwischen der zumutbaren und nicht zumutbaren Reisezeit gezogen (Fuzzyfizierung). Bei Überschreitung der optimalen Reisezeit werden die erreichbaren Zielgelegenheiten mit zunehmender Reisezeit diskontiert, sodass weiter entferntere Zielgelegenheiten mit einer geringeren Gewichtung in die Berechnung eingehen [35]. Die Funktion des reisezeitabhängigen Gewichtungsfaktors g ist qualitativ in Bild 2 abgebildet.

Bild 2: Funktion reisezeitspezifischer Gewichtungsfaktor abhängig von topt und tmax

Ist die Reisezeit zu der Zielgelegenheit geringer als die optimale Reisezeit (topt), wird der Gewichtungsfaktor 1 berücksichtigt. Ist die Reisezeit größer als die maximal zumutbare, wird der Gewichtungsfaktor 0 herangezogen. Liegt die Reisezeit zwischen beiden Grenzen, wird der Gewichtungsfaktor mithilfe einer linearen Funktion modelliert. Somit berechnet sich der Gewichtungsfaktor jeder erreichbaren Zielgelegenheit eines Typs wie folgt:

Formel in der PDF

Je Zielgelegenheits-Typ und je Verkehrsmodus wird die reisezeitabhängige Summe erreich-barer Zielgelegenheiten gebildet:

Formel in der PDF

Der reisezeitspezifische Gewichtungsfaktor ist damit abhängig vom Verkehrsangebot, der Raum- und Siedlungsstruktur und dem Typ der Zielgelegenheit.

2.5 Schritt 3: Bewertung der erreichbaren Zielgelegenheiten

Um die gewichtete Anzahl jedes Zielgelegenheits-Typs (gAnzPOITYP,m) über alle Zielgelegenheits-Typen aggregieren zu können, müssen diese zuvor normiert werden. Die Normierung der gewichteten Anzahl wird mithilfe der in Bild 3 dargestellten Funktion durchgeführt, die von der so genannten akzeptablen und optimalen Anzahl der Zielgelegenheiten abhängt (siehe Kapitel 2.2).

Wird die akzeptable Anzahl an Zielgelegenheiten des entsprechenden Typs erreicht, werden 5 Punkte vergeben. Wird die optimale Anzahl erreicht, werden 10 Punkte vergeben. Zwischen den Werten 0, AkzTyp und OptTyp wird stückweise quadratisch interpoliert. So wird ein Wendepunkt in (AkzTyp | 5) erzeugt. Die Steigung der Funktion ist somit in x= AkzTyp am größten. Bei einer erreichbaren Anzahl nahe der akzeptablen Anzahl verändert sich somit der normierte Wert am stärksten.

Zwischen AkzTyp und OptTyp wird eine Sättigungsfunktion imitiert, die sich mit einer geringer werdenden Steigung dem Grenzwert 10 nähert. Hierbei wird das erste Gossen‘sche Gesetz (auch Sättigungsgesetz) berücksichtigt, welches Gossen 1854 in „Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln“ beschreibt [36]. Dieses Gesetz besagt, dass der Nutzen des Konsums einer zusätzlichen Einheit eines Gutes mit jeder weiteren konsumierten Einheit abnimmt [36,37]. Übertragen auf die Anzahl erreichbarer Zielgelegenheiten eines Typs bedeutet das, dass der Grenznutzen sinkt, je mehr Zielgelegenheiten eines Typs erreicht werden können. Der Nutzenzuwachs einer weiteren erreichbaren Zielgelegenheit wird demnach immer geringer, bis eine Sättigung eintritt [37].

Bild 3: Funktion zur Bestimmung der normierten Anzahl erreichbarer Zielgelegenheiten

Formel in der PDF

2.6 Schritt 4: Berücksichtigung des Einkommenswiderstands

Da das Einkommen unter den Ressourcen einer Person eine besondere Rolle spielt, wird dieses gesondert betrachtet. Das Einkommen kann als monetäre Ressource andere individuelle Restriktionen ausgleichen. So kann bspw. ein Taxi bezahlt werden, wenn kein Führerschein vorhanden ist. Andererseits werden laufende Kosten bei verfügbaren Verkehrsmitteln fällig. Bspw. muss die Tankfüllung bezahlt werden, um Wege mit dem Pkw zurücklegen zu können oder eine Fahrkarte erworben werden, um den ÖV zu nutzen.

Es wird die Annahme getroffen, dass bei jeder aushäusigen Aktivität ein monetärer Widerstand unabhängig vom Verkehrsmittel existiert. Selbst wenn Wege zu Fuß zurückgelegt werden, werden geeignetes Schuhwerk und andere Hilfsmittel wie bspw. ein Wagen zum Transport des Einkaufs benötigt. Darüber hinaus sollen über den Einkommenswiderstand auch Wege zu aushäusigen Aktivitäten berücksichtigt werden, die über die Alltagsmobilität hinausgehen. Damit sind bspw. Taxi-Fahrten gemeint, die nur im Ausnahmefall durchgeführt werden, weil eine Zielgelegenheit nicht mit dem ÖV zu erreichen ist.

Um einen Einkommenswiderstand in Abhängigkeit des Einkommens herzuleiten, werden die Ausgaben für den Gegenstand „Verkehr“ in der Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) sowie die Anzahl aushäusiger Aktivitäten auf Basis der MiD 2017 betrachtet. Die EVS ist eine regelmäßig durchgeführte Haushaltsbefragung der amtlichen Statistik in Deutschland und erhebt u. a. Informationen zu Einnahmen und Ausgaben, Wohnverhältnissen und Geld- und Sachvermögen [38]. Die hier verwendeten Werte stammen aus den Ergebnissen zu den Einkommen, Einnahmen und Ausgaben privater Haushalte.

Die Ausgaben für Verkehr auf Grundlage der EVS sowie die Anzahl von aushäusig durchgeführten Aktivitäten auf Grundlage der MiD wurden auf Basis der Klassen der Haushaltsnettoeinkommen zusammengeführt. In Tabelle 3 ist die Verschneidung der Daten dargestellt. Fehlende Angaben wurden linear interpoliert (kursiv dargestellt).

Tabelle 3: Verschneidung der Verkehrsausgaben (Basis EVS 2018) und Anzahl aushäusiger Aktivitäten (Basis MiD 2017) [38]

Bild 4 zeigt die Ausgaben pro aushäusige Aktivität und den Anteil der Ausgaben pro aushäusige Aktivität am Einkommen. Die Verkehrsausgaben pro aushäusiger Aktivität steigen erwartungsgemäß tendenziell mit steigender Einkommensklasse z. B. durch die Nutzung teurerer Verkehrsmittel. Der Anteil der Verkehrsausgaben pro aushäusiger Aktivität am Einkommen sinkt jedoch mit steigender Einkommensklasse. Die monetäre Belastung, aushäusige Aktivitäten durchzuführen, sinkt somit bei finanziell besser gestellten Haushalten. Einkommensarme Haushalte müssen demnach einen viel größeren Anteil am Gesamtbudget für Mobilität aufbringen als Haushalte mit einem höheren Einkommen [39,40]. Hierbei werden ausschließlich die Kosten betrachtet, die aufgebracht werden müssen, um die Aktivitäten zu erreichen. Kosten für die Durchführung einer Aktivität, bspw. für den Eintritt zu einem Freizeitevent, werden nicht betrachtet und können vor allem bei kostenpflichtigen Angeboten eine zusätzliche Barriere darstellen.

Bild 4: Verkehrsausgaben pro aushäusige Aktivität abhängig vom monatlichen Haushaltsnettoeinkommen

Der dargestellte Zusammenhang wird in eine Einkommenswiderstandsfunktion überführt, die besagt, dass bei steigendem Haushaltsnettoeinkommen der Widerstand, eine aushäusige Aktivität durchzuführen, sinkt.

Nach der EVS beträgt das bundesweite mittlere Haushaltseinkommen 3.661 € im Jahr 2018 [38]. Bei diesem Haushaltseinkommen soll der Widerstandsfaktor 1 annehmen, weshalb der Anteil der Ausgaben pro Weg auf diesen Wert normiert wird. Bei höherem Einkommen soll der Widerstand geringer und bei niedrigerem Einkommen höher werden. Um eine stetige Einkommenswiderstandsfunktion abzuleiten, wird eine Kurvenanpassung mithilfe eines Regressionsmodells durchgeführt. Bei der exponentiellen Regression zwischen dem normierten Anteil der Ausgaben pro Weg (unabhängige Variable) und dem Nettohaushaltseinkommen (abhängige Variable) zeigt sich ein hoch signifikantes Ergebnis (p < 0,001). Die exponentielle Regressionsfunktion ist in Bild 5 dargestellt.

Bild 5: Anteilige Verkehrsausgaben aushäusiger Aktivitäten und die resultierende Einkommenswiderstandsfunktion

Für die Einkommenswiderstandsfunktion abhängig vom Haushaltseinkommen ergibt sich mit einem Bestimmtheitsmaß von R2 = 0,9 folgende Funktion:

w(H) = 2,2415e-0,0002H

w(H): Einkommenswiderstand bei Haushaltseinkommen H
H: Haushaltseinkommen [€]

Die Einkommenswiderstandsfunktion ist monoton fallend mit einer waagrechten Asymptote. Die (negative) Steigung der Funktion nimmt mit steigendem Einkommen ab, sodass sich bei höheren Einkommen der Einkommenswiderstand nur noch wenig verringert.

2.7 Schritt 5: Berechnung des Mobilitätsoptionenindex

Unter Berücksichtigung der zuvor berechneten Variablen wird mit folgender Funktion der Index der Mobilitätsoptionen für eine Person berechnet:

Formel in der PDF

Der Wertebereich des Index liegt bei 0 bis 10.

3 Exemplarische Anwendung des Verfahrens

Mithilfe einer im Forschungsprojekt Social2Mobility durchgeführten Haushaltsbefragung in der Stadt Ronnenberg (Kleinstadt in der Region Hannover) wird das Verfahren exemplarisch angewendet. Social2Mobility wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und hat insgesamt eine Laufzeit von 5 Jahren. Die Erhebung wurde im Herbst 2020 durchgeführt und die Grundgesamtheit bestand aus allen Haushalten mit Kindern in der Stadt Ronnenberg. Teilgenommen haben an der Erhebung 1.031 Personen (Ausschöpfung von 11 %).

In Bild 6 ist die relative Häufigkeit des berechneten Mobilitätsoptionenindex dargestellt. Mit 57 % kommt ein sehr hoher MOX zwischen 9 und 10 Punkten mit Abstand am häufigsten vor.

Bild 6: Verteilung der relativen Häufigkeit des MOX der Personen in Haushalten mit Kindern in Ronnenberg

Die Haushaltsbefragung hat gezeigt, dass der Großteil der befragten Haushalte mit Kindern einen Pkw zur Verfügung hat. Seit den 1950er Jahren hat sich das Prinzip der autogerechten Stadt durchgesetzt. Städte wurden häufig für die Nutzung eines Pkw geplant und konzipiert [41]. Demnach ist es naheliegend und nachvollziehbar, dass Menschen mit einem privaten Pkw hohe Mobilitätsoptionen aufweisen. Gleichzeitig wird hier der hohe Stellenwert des privaten Pkw nachvollziehbar, sodass auch Menschen mit geringem Einkommen für den Besitz eines Pkw lieber in anderen Bereichen des Lebens sparen. Dennoch liegt der MOX von ca. 30 % der Personen aus Haushalten mit Kindern unter 7.

Personen mit einem Pkw haben zwar tendenziell einen höheren MOX, allerdings haben Plausibilitätsprüfungen ergeben, dass auch Personen ohne einen privaten Pkw einen MOX von 10 erreichen. Ein privater Pkw ist somit nicht zwingend erforderlich, um ausreichend Mobilitätsoptionen zu haben.

Das Ergebnis des Verfahrens ist stark abhängig von den normativ bestimmten Vorgaben der Daseinsvorsorge (siehe Kapitel 2.2). Wird das Verfahren für eine Bewertung bzw. Analyse der Mobilitätsoptionen einer Gruppe angewendet und nicht nur bspw. für vergleichende Analysen genutzt, sollte mit Spannweiten in den normativen Vorgaben gerechnet werden. Die berechneten Mobilitätsoptionen würden dann ebenfalls mithilfe einer Spannweite angegeben werden.

In der Haushaltsbefragung wurden ebenfalls die subjektiv empfundenen Erreichbarkeitsprobleme der Personen abgefragt. Wird diese Variable dem MOX gegenübergestellt zeigt sich, dass diese negativ miteinander korrelieren. Daraus folgt, je höher der Mobilitätsoptionenindex der Person ist, desto geringer sind die subjektiv empfunden Erreichbarkeitsprobleme. Dieses Ergebnis unterstützt die Validität des neu entwickelten Index.

In Bild 7 ist der durchschnittliche MOX unterschiedlicher Personengruppen untergliedert nach Armutsgefährdung dargestellt. Eine Person gilt als armutsgefährdet, wenn das Äquivalenzeinkommen ihres Haushalts unter 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen in der Region Hannover liegt. Mithilfe des Mann-Whitney-U-Tests konnte nachgewiesen werden, dass sich die Mittelwerte (Ränge) bei den Erwerbstätigen in Teilzeit (p < 0,001), Erwerbstätige in Vollzeit (p < 0,000) und Nicht-Erwerbstätigen (p < 0,000) hoch signifikant unterscheiden. Dass armutsgefährdete Personen weniger Mobilitätsoptionen zur Verfügung haben, schlägt sich ebenfalls im Mobilitätsverhalten der Personen nieder. Auswertungen der MiD 2017 zeigen, je niedriger der ökonomische Status eines Haushaltes ist, desto weniger sind die Menschen mobil [8,39].

Bild 7: Durchschnittlicher MOX unterschiedlicher Personengruppen untergliedert nach Armutsgefährdung

Mithilfe des Verfahrens können Mobilitätsoptionen unterschiedlicher Gruppen berechnet und miteinander verglichen werden. Neben der Armutsgefährdung als eine soziale Kategorie können die Mobilitätsoptionen und damit die mobilitätsbezogenen Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe ebenfalls zwischen unterschiedlichen Geschlechtern, Personen mit und ohne Migrationshintergrund usw. genauer analysiert und verglichen werden.

4 Fazit

Kann eine Person nicht ausreichend mobil sein, kann das zur mobilitätsbezogenen sozialen Exklusion führen. In der Verkehrsplanung wird die Erreichbarkeit als gängiges und weit verbreitetes Maß genutzt, um die Teilhabechancen einer Person oder von Personengruppen zu ermitteln. Häufig bezieht sich die Erreichbarkeit lediglich auf objektive Merkmale wie die Qualität des Verkehrsangebots auf Basis der Raum- und Siedlungsstruktur sowie extern definierter Zeitordnungen. Merkmale des Individuums werden bei der Bewertung der Erreichbarkeit in der Regel nicht beachtet.

Mobilitätsoptionen werden als Möglichkeit einer Person zur Ortsveränderung verstanden. Um diese zu quantifizieren, wurde ein Verfahren entwickelt. Werden alle Schritte des Verfahrens durchlaufen, wird ein Mobilitätsoptionenindex berechnet. Der Mobilitätsoptionenindex (MOX) nimmt einen Wert zwischen 0 und 10 an und berücksichtigt sowohl Einflussfaktoren der objektiven Erreichbarkeit als auch individuelle Merkmale einer Person. Der MOX wurde exemplarisch für Personen aus Haushalten mit Kindern in Ronnenberg berechnet. Es konnte nachgewiesen werden, dass subjektiv empfundenen Erreichbarkeitsprobleme der Personen negativ mit den berechneten Mobilitätsoptionen korrelieren. Je höher die Mobilitätsoptionen demnach sind, desto geringer waren die empfunden Erreichbarkeitsprobleme. Mithilfe des Verfahrens können die Mobilitätsoptionen von unterschiedlichen Personen und Personengruppen analysiert und verglichen werden. Die Ergebnisse zeigen bspw., dass armutsgefährdete Personen signifikant weniger Mobilitätsoptionen aufweisen als die nicht armutsgefährdete Personen.

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