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1 Intention
Mathematische Optimierungsmodelle haben in der Regel den Anspruch, ein Problem bezüglich eines oder mehrerer objektiv messbarer Kriterien zu lösen und die Optimalität der Lösung nachzuweisen. In der Betriebspraxis gibt es dagegen zusätzliche, nicht in Zahlen zu fassende Randbedingungen. Dies können politische Forderungen und Konstellationen, infrastrukturelle Gegebenheiten, betriebliche Vereinbarungen oder gewachsene Strukturen sein. Die Realisierbarkeit und Akzeptanz eines neuen Liniennetzes hängt in vielen Fällen entscheidend von diesen „weichen“ Faktoren ab.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich daher mit der Frage, in wie weit die aus der Betriebspraxis stammenden Randbedingungen während der Optimierung berücksichtigt werden können ohne den Grundgedanken – eine optimale Lösung zu bestimmen – zu sehr zu beschneiden. Ebenfalls diskutiert werden soll die Frage, auf welche Art und Weise dies „weichen“ Faktoren in ein mathematisches Modell integriert werden können.
Die Grundlage für die vorliegenden Ausführungen ist das von Univ.-Prof. Dr. rer. nat. habil. Karl Nachtigall (TU Dresden, Professur für Verkehrsströmungslehre) entwickelte Liniennetzoptimierungsmodell und die Umsetzung im Programmsystem LINOP, welches derzeit in einem mit bundesmitteln geförderten Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit der PTV AG (Softwareprodukt VISUM) für den Praxiseinsatz fit gemacht wird. Es handelt sich hierbei um ein lineares Modell mit simultaner Verkehrsumlegung.
2 Beschreibung des Optimierungsmodells von Nachtigall
Für eine bessere Nachvollziehbarkeit der im Abschnitt 4 vorgestellten Änderungen wird an dieser Stelle das Modell von Nachtigall zunächst prägnant vorgestellt.
2.1 Programmstruktur
Bei der hier genutzten Methode der rechnergestützten Liniennetzoptimierung kommen die Verkehrsplanungssoftware VISUM der PTV AG sowie das an der TU Dresden, Professur für Verkehrsströmungslehre von Univ.-Prof. Dr. rer. nat. habil. Karl Nachtigall entwickelte Liniennetzoptimierungstool LINOP zum Einsatz [1]. Beide Programme sind über eine auf Textdateien basierende Schnittstelle miteinander verknüpft [2]. Langfristig ist die Integration von LINOP in VISUM und die dortige Verankerung als zusätzliche Programmfunktion angestrebt.
Bild 1: Übersicht Programmstruktur
VISUM dient im hier vorgestellten Zusammenhang der anwenderfreundlichen Eingabe der Verkehrsinfrastruktur, also beispielsweise von Kreuzungen, Haltestellen oder Linienverläufen. Basierend auf diesem Netzmodell und weiteren Eingangsgrößen wie Raumstrukturdaten und Verkehrsnachfragedaten können in VISUM Verkehrsstrommatrizen erzeugt und kalibriert werden.
Nach dem Import der Verkehrsinfrastruktur und der Verkehrsstromdaten berechnet LINOP ein – bezüglich der Bewertung durch die Fahrgäste – optimales Liniennetz. Die Optimierung des Liniennetzes erfolgt auf Basis eines linearen Modells mit simultaner Verkehrsumlegung.
Es ist möglich, das optimierte Liniennetz wieder in VISUM einzulesen und darauf aufbauend die Verkehrsströme neu zu berechnen und diese auf dem optimierten Netz erneut umzulegen. Dabei können Effekte wie Veränderungen der Fahrgastströme, des Modal-Splits oder der mittleren Reisezeit ermittelt und analysiert werden. Diese Rückkopplung ist so lange zu wiederholen, bis sich ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage eingestellt hat.
2.2 Infrastrukturmodell in LINOP
Beim Import der in VISUM angelegten Daten werden nur bestimmte, für die Optimierung relevante, Netzobjekte aus VISUM übernommen und teilweise angepasst. Die Knoten werden unverändert übernommen und die in VISUM gerichteten Strecken durch ungerichtete Kanten in LINOP ersetzt. Haltepunkte, potentielle Endstellen (auch als „Zugbildungsbahnhöfe“ (ZBB) bezeichnet) und Abbiegebeziehungen werden in LINOP als Knoteneigenschaft hinterlegt.
Eine Linie in VISUM ist im Wesentlichen eine Aneinanderreihung von Knoten, in LINOP wird diese jedoch als Kantenfolge gespeichert. Dies ist nötig, da in LINOP zwischen zwei Knoten mehrere Kanten existieren dürfen und die Beschreibung einer Linie durch eine Knotenfolge daher nicht mehr eindeutig wäre.
2.3 Berechnungsablauf
Dem in LINOP implementierten Optimierungsalgorithmus können mehrere Prozesse vor- und nachgelagert werden (vgl. Abbildung 2). Von den bereits implementierten Prozessen sind für diese Arbeit vor allem die vorgelagerten Berechnungsschritte von Bedeutung.
Um die Rechenzeit zu verkürzen und größere Netze optimieren zu können, wird das Problem im Präprozess soweit wie möglich vereinfacht. Dies geschieht durch eine Aufteilung des Verkehrsaufkommens auf die verschiedenen Verkehrsmittel und Tageszeiten, eine Reduktion des Netzmodells auf wesentliche Elemente sowie die Erzeugung aller potentiellen Linien.
Bild 2: Berechnungsablauf in LINOP
Zur Erzeugung der potentiellen Linien werden alle möglichen Verbindungen zwischen je zwei ZBBs berechnet, die einen bestimmten, vom Benutzer vorzugebenden Umwegfaktor nicht überschreiten. Dieser Berechnungsschritt wird von LINOP automatisch und vom Anwender nicht beeinflussbar durchgeführt.
2.4 Zielfunktion
Beim von Nachtigall entwickelten Linienplanungsmodell wird ein bezüglich der Bewertung durch die Fahrgäste optimales Liniennetz berechnet [3]. Dabei werden betriebliche und finanzielle Randbedingungen berücksichtigt.
Formel (1) siehe PDF.
Zunächst erfolgt eine Bewertung aller von den Fahrgästen zurückgelegten Teilwege mit einem Bewertungsfaktor ωQZ(A,B),L, der im weiteren Verlauf als „Reiseverbindungsqualität“ bezeichnet wird. In der Zielfunktion (1) wird die Anzahl der Fahrgäste ωQZ(A,B),L , die diesen Weg nutzen, mit diesem Faktor gewichtet und das Produkt schließlich über alle Teilwege von A nach B auf jeder Quelle-Ziel-Relation von Q nach Z mit jeder Linie L aufsummiert. Die entstehende Summe wird schließlich maximiert, so dass ein Liniennetzplan entsteht, auf dem die maximal mögliche Anzahl an Fahrgästen über den für sie am besten bewerteten Weg verkehren.
Zu beachten ist, dass mit dieser Zielfunktion die Reisequalität der Fahrgäste maximiert wird, eine gleichzeitige Minimierung der Kosten aber nicht stattfindet, da das Budget nur durch eine Nebenbedingung begrenzt wird. Das Modell wird das Budget also immer vollständig ausnutzen, solange dadurch Verbesserungen für die Fahrgäste erreichbar sind. Aus Praxissicht wäre daher ein Abbruchkriterium wünschenswert, welches sicherstellt, das zusätzliches Budget nur dann verwendet wird, wenn damit auch ein entsprechender Nutzen erzielt werden kann. Einen großen Einfluss auf die Zielfunktion hat die Reiseverbindungsqualität ωQZ(A,B),L, die daher an dieser Stelle näher erläutert wird. Die Reiseverbindungsqualität bildet die komplexe Reisezeit, die die wesentlichen von der Liniennetzplanung direkt beeinflussbaren Bewertungskriterien aus Sicht der Fahrgäste beinhaltet, ab, ohne die Linearität des Problems zu verletzen.
Die Reiseverbindungsqualität ist die Differenz aus der für einen Fahrgast gerade noch zumutbaren Beförderungszeit, berechnet als Produkt aus kürzestem Weg und einem vorzugebenden Umwegfaktor sowie den wesentlichen, von der Liniennetzplanung direkt beeinflussbaren Teilen der komplexen Reisezeit. Es ergibt sich:
Formel (2) siehe PDF.
Bild 3: Bewertungsfunktion in LINOP
Abbildung 3 zeigt den typischen Verlauf der Bewertung in Abhängigkeit von der tatsächlichen Beförderungszeit. Der Schnittpunkt mit der Abszisse ist der Punkt, an dem eine Verbindung so unattraktiv für die Fahrgäste wird, dass diese Verbindung nicht mehr genutzt wird. Um aus der Reiseverbindungsqualität ωQZWegQ-A-B-Z den in der Zielfunktion benötigten, auf ein Teilstück des Weges bezogenen Bewertungsfaktor ωQZ(A,B,L) zu erhalten, kann diese nach (3) auch für jedes Wegstück separat angegeben werden.
Formel (3) siehe PDF. Die Beförderungszeiten für jedes Teilstück und für den gesamten kürzesten Weg sowie die Anzahl der Umstiege werden während der Optimierung berechnet, die Werte für die Parameter pmax und tÜW sind vor der Optimierung zu schätzen und vorzugeben. Über diese Parameter kann die Struktur des optimierten Liniennetzes beeinflusst werden: Hohe Umwegfaktoren und geringe Umsteigestrafen fördern die Entstehung eines Achsennetzes, während niedrige Umwegfaktoren und hohe Umsteigestrafen zu Verästelungsnetzen führen.
2.5 Nebenbedingungen
Zwei wesentliche im Modell von Nachtigall implementierte Nebenbedingungen sind die Kapazitäts- und die Budgetrestriktion. Durch die Kapazitätsrestriktion
Formel (4) siehe PDF.
wird sichergestellt, dass alle Fahrgäste auf einer Kante durch die dort verkehrenden Linien auch befördert werden können. Das heißt, die Summe aller Fahrgäste muss immer kleiner sein als die auf dieser Kante bereitgestellte Kapazität. Dabei ist von einer konstanten Kapazität je Verkehrsmittel auszugehen, was einer Einheitsflotte entspricht. Eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Gefäßgrößen ist durch diese Nebenbedingung nicht möglich.
Die Budgetrestriktion
Formel (5) siehe PDF.
begrenzt das Einfügen neuer bzw. die Taktverdichtung bestehender Linien, indem jeder Linie ein Kostenfaktor zugeordnet wird, der mit der Frequenzvariablen multipliziert wird. Die Summe dieses Produkts über alle Linien muss kleiner sein als ein vorzugebendes Budget. Für die Optimierung sollten die Größenordnungen von Budget und Fahrgastströmen zueinander passen. Führt man die Optimierung mit deutlich zu wenig Budget durch, werden Linien wahllos eingelegt, solange diese voll ausgelastet sind. Eine Optimierung mit deutlich zu viel Budget führt dagegen zum Einlegen sinnloser Linien, da das Budget so lange genutzt wird, wie Verbesserungen für die Fahrgäste erzielt werden können.
Als Kostenfaktor wird in LINOP die Beförderungszeit der jeweiligen Linie in Hin- und Rückrichtung genutzt. Diese relativ einfache Abschätzung ist zunächst gut geeignet, um die Kosten eines Liniennetzplanes zu bestimmen, eine Berücksichtigung von Kosten für Wendezeiten oder von Sprungkosten bei der Benutzung weiterer Fahrzeuge kann jedoch nicht erfolgen.
3 Bewertung erster Berechnungsergebnisse
Das Modell von Nachtigall und dessen Umsetzung im Programm LINOP werden am Beispiel des Stadtverkehrsnetzes von Tübingen getestet [4].
Tabelle 1: Kennzahlen Stadtverkehr Tübingen (2008)
Aus Sicht der Betriebspraxis bilden erste Berechnungsergebnisse die heutigen Verkehrsströme und infrastrukturellen Randbedingungen gut ab. Ein sinnvoller Einsatz scheint vor allem in der langfristigen Planung, zur Ideengewinnung oder bei der Variantenuntersuchung möglich zu sein. Für eine direkte Umsetzung in der Betriebspraxis muss das Modell sind jedoch an einigen Stellen erweitert bzw. angepasst werden:
- Einbahnstraßen und somit in Hin- und Rückrichtung unterschiedliche Linien werden nur unzureichend abgebildet. Aufgrund der Tübinger Straßeninfrastruktur mit zahlreichen Einbahnstraßen in der Innenstadt ist dies jedoch sehr unbefriedigend.
- Durch die Maximierung des Fahrgastnutzens wird das Einfügen neuer Linien der Taktverdichtung bestehender Linien vorgezogen. Als Ergebnis wird man also eher Verästelungs- als Achsennetze erhalten. Unter anderem bedingt durch den demographischen Wandel sind die Verkehrsunternehmen jedoch gezwungen, nicht nur verkehrlich sinnvolle, sondern auch für (vor allem ältere) Fahrgäste transparente Netzstrukturen zu schaffen. Das Erzeugen von achsenbasierten Netzen kann also durchaus eine Zielstellung sein, die das Modell berücksichtigen können sollte.
- Aufgrund der Straßengeometrie einerseits und der stadtstrukturell bedingten stark unterschiedlichen Verkehrsströme andererseits werden im Stadtverkehr Tübingen zielgerichtet vier Gefäßgrößen (Busse mit 10, 12, 18 und 20 Metern Länge) eingesetzt. Die möglichen und sinnvollen Einsatzgebiete dieser Fahrzeugtypen müssen bei der Optimierung berücksichtigt werden.
- Die Art der potentiellen Linien hat entscheidenden Einfluss auf die Performance und das Ergebnis der Optimierung. Aus Sicht der Betriebspraxis wäre eine größere Einflussnahme auf die potentiellen Linien wünschenswert, um die eingangs erwähnten „weichen“ Randbedingungen besser abbilden zu können.
Die Berücksichtigung dieser Punkte ist eine zwingende Voraussetzung für die unmittelbare Anwendung des Linienoptimierungsmodells in der Betriebspraxis.
4 Ansätze zur Weiterentwicklung des Modells von Nachtigall
4.1 Modellierung von Einbahnstraßen
In VISUM sind Einbahnstraßen durch Sperren von Kanten für alle Verkehrssysteme in eine Richtung darstellbar. Prinzipiell sind richtungsabhängige Eigenschaften von Kanten auch in LINOP möglich, auch wenn diese zurzeit noch nicht vollständig implementiert sind. Der Linienweg einer Linie darf in VISUM in Hin- und Rückrichtung voneinander abweichen, so dass Einbahnstraßen bei der Modellierung kein Problem darstellen. In LINOP dagegen müssen Linien in beide Richtungen identisch sein, damit sichergestellt ist, dass es zu jeder Linie in Hinrichtung auch eine entsprechende Rückrichtung gibt. Systematische Fehler bei der Berechnung können bei der Verwendung von Einbahnstraßen aber nicht ausgeschlossen werden.
Bild 4: Abbildung von Einbahnstraßen in VISUM und LINOP
Dies soll an einem Beispiel erläutert werden: Es seien die Knoten C und D in Abbildung 4 Einrichtungshaltestellen mit sehr großem Fahrgastaufkommen. Dies führt während der Optimierung in LINOP dazu, dass zwei Linien (A-E-C-F-B und A-E-D-F-B) erzeugt werden, um das Fahrgastaufkommen an beiden Haltestellen abzudecken. In VISUM werden beide Linien dann aber korrekt auf das Streckennetz und somit auf identischen Wegen umgelegt (Hinrichtung A-E-C-F-B, Rückrichtung B-F-D-E-A). In LINOP sind zur Erschließung also zwei Linien nötig, obwohl in der Realität eine Linie ausreichend wäre, was dazu führt, dass LINOP mehr Budget als erforderlich verwendet.
Bild 5: Vorschlag zur veränderten Abbildung von Einbahnstraßen
Dieses Problem kann man umgehen, indem der Infrastrukturgraf beim Übertragen von VISUM zu LINOP derart verändert wird, dass alle Knoten innerhalb eines bestimmten Bereichs an einer „Perlschnur“ aufgereiht und Kanten grundsätzlich in beide Richtung befahrbar sind (vgl. Abbildung 5). Die Beförderungszeiten unveränderter Teilstrecken (schwarze Zahlen) können übernommen und die Beförderungszeiten unterbrochener Teilstrecken (rote Zahlen) nach einem vorzugebenden Schema aufgeteilt werden. Um Rundungsdifferenzen zu vermeiden, empfiehlt es sich, die gesamte Beförderungszeit einer Teilstrecke zuzuschlagen und andere Teilstrecken mit null Minuten Beförderungszeit zu bewerten.
Bild 6: Probleme bei der vereinfachten Darstellung von Einbahnstraßen
Dieser Vorschlag löst das Problem zwar für überschaubare Beispiele, bei komplexeren Fällen stößt dieses Verfahren aber an seine Grenzen. Legt man im oben beschriebenen Netz beispielsweise eine neue Teilstrecke von C nach D mit zwei Minuten Beförderungszeit ein, lässt sich dies in der Perlschnur nicht mehr darstellen, da zwischen diesen Knoten zwei Kanten mit unterschiedlichen Beförderungszeiten existieren (Abbildung 6). In der Optimierung würde immer die Kante mit dem kürzesten Aufwand gewählt, auch wenn dies in der Realität nicht möglich ist. Schwierig wird auch die Abgrenzung des Problemraums bei komplexen Netzstrukturen. Dieser Vorschlag soll daher nur als Ansatz für weitere Untersuchungen und nicht als vollständiger Lösungsvorschlag betrachtet werden.
4.2 Erzeugung von Achsennetzen durch eine veränderte Kostenstruktur
Durch die in LINOP implementierte Budgetrestriktion (5) wird das Einfügen neuer Linien gegenüber der Taktverdichtung bestehender Linien gleichgestellt, da die Kosten nur von der Fahrplanleistung abhängig sind und neue Linien keine zusätzlichen Kosten verursachen. Solange die Linien nicht vollständig ausgelastet sind, wird der Algorithmus neue Linien einfügen und somit Verästelungsnetze erzeugen, da auf diese Weise mehr Fahrgäste auf direktem Weg fahren und Umsteigestrafen eingespart werden können. Aspekte wie die Begreifbarkeit des Netzes oder die Ableitbarkeit eines Fahrplans werden dabei nicht berücksichtigt, sind aus Sicht der Praxis aber durchaus erstrebenswert und daher auch Zielstellung dieser Arbeit. Stärker achsenbasierte Netze sind auch aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll, da die Verlustzeiten an den Endpunkten mit zunehmender Bedienhäufigkeit abnehmen.
Die Kosten in der Budgetrestriktion sollten also auch von frequenzabhängigen Verlustzeiten abhängig sein. Hierfür bietet sich die Formel zur Berechnung der benötigten Fahrzeugzahl an, da in dieser einerseits die Wendezeiten und andererseits durch die Aufrundungsfunktion die Verlustzeiten enthalten sind. Als Nebenbedingung formuliert ergibt sich (6).
Formel (6) siehe PDF.
Aus Praxissicht ist diese Nebenbedingung sehr gut geeignet, da Sprungkosten durch zusätzliche Fahrzeuge berücksichtigt und Taktverdichtungen gegenüber dem Einfügen neuer Linien bevorzugt werden. Außerdem haben die enthaltenen Werte eine praxisrelevante Aussagekraft und sind somit leicht ermittelbar. Aus mathematischer Sicht ist die in der Nebenbedingung enthaltene Aufrundungsfunktion aber problematisch, da diese wegen der Sprünge in der Funktion (vgl. Abbildung 7) nicht in das lineare Modell integrierbar ist, sondern durch eine stetige Funktion angenähert werden muss.
Bild 7: Möglicher Verlauf einer frequenzabhängigen Budgetrestriktion
Mathematisch exakt wäre die Darstellung durch eine Fourier-Reihe. Diese geht aber nicht durch den Koordinatenursprung, was dazu führt, dass auch nicht verkehrende Linien Kosten verursachen. Außerdem führen die enthaltenen Winkelfunktionen zu ähnlichen Problemen wie die Aufrundungsfunktion. Möglich wäre auch die Abbildung durch disjunktive Nebenbedingungen, was ebenfalls zu komplizierteren Optimierungsproblemen führt.
Um zu vermeiden, dass LINOP bei gleichem Fahrzeugeinsatz eine Linie mit einer höheren Frequenz bedient als nötig (in Abbildung 7 z.B. mit xL = 5 statt 3), muss die bisherige Budgetrestriktion als weitere Nebenbedingung im Modell enthalten bleiben.
Die hier vorgeschlagene Nebenbedingung ist also unter der Voraussetzung einer sinnvollen Abbildung durch eine Ersatzfunktion in der Lage, das gewünschte Ziel der stärkeren Bevorzugung von Achsennetzen zu erreichen. Durch Vorgabe einer hohen Fahrzeugzahl als Grenze ist diese Nebenbedingung auch „abschaltbar“, so dass es bei Bedarf weiterhin möglich ist, Verästelungsnetze zu erzeugen.
4.3 Berücksichtigung von Gefäßgrößen
Durch die in LINOP implementierten konstanten Kapazitäten je Verkehrssystem können unterschiedliche Gefäßgrößen nicht berücksichtigt werden. Um streckenabhängige Restriktionen des Fahrzeugeinsatzes beispielsweise aus straßengeometrischen Gründen sowie möglichst gleichmäßige Auslastungen zu erreichen, wäre dies aus Praxissicht aber wünschenswert.
Die Berücksichtigung von Gefäßgrößen kann theoretisch im Präprozess, während der Optimierung oder in einem Postprozess erfolgen. Eine Implementierung im Präprozess bedeutet, dass jeder Fahrzeugtyp als eigenes Verkehrssystem betrachtet wird und die Fahrgäste beim System-Split auf die verschiedenen Gefäßgrößen aufzuteilen sind. Dies hat zur Folge, dass alle Fahrgäste auf eine Gefäßgröße festgelegt sind und ausschließlich diese benutzen, auch wenn es bessere Alternativen mit anderen Fahrzeugtypen gibt. Sollte es keine Verbindungen mit dem „richtigen“ Fahrzeugtyp geben, würden die entsprechenden Fahrgäste den ÖPNV nicht nutzen. Die daraus resultierenden, voneinander unabhängigen Netze können entweder separat optimiert werden, was die Suboptimalität der Lösung zur Folge hätte, oder synchron bearbeitet werden, was die Problemkomplexität jedoch stark erhöhen würde.
Besonders gute Ergebnisse könnten bei einer Berücksichtigung von variablen Gefäßgrößen während der Optimierung erzielt werden, da auf diese Weise sowohl Streckenrestriktionen beachtet als auch gleichmäßige Auslastungen erreicht werden können. Die Problemkomplexität nimmt bei einer linearen Abbildung des Problems durch die zusätzlich benötigten Dimensionen für die Fahrzeugtypen und den Umsteigemöglichkeiten zwischen diesen Dimensionen (rote Kanten) aber stark zu (siehe Abbildung 8), was dazu führt, dass dieser Vorschlag nur für überschaubare Teilnetze realisierbar ist.
Bild 8: Mehrdimensionalität bei linearer Berücksichtigung variabler Gefäßgrößen
Eine auch für größere Netze umsetzbare Herangehensweise ist die nachträgliche Anpassung der Gefäßgrößen im Postprozess. Dazu sind basierend auf der maximalen Auslastung einer Linie die mindestens erforderlichen Fahrzeuggrößen zu bestimmen. Da sich die Gefäßgrößen allerdings immer an der maximalen Auslastung orientieren, auch wenn diese nur auf kurzen Abschnitten gegeben ist, und Streckenrestriktionen nur schlecht berücksichtigt werden können, ist dieser Ansatz nur eine Näherungslösung. Sinnvoll erscheint eine Anwendung allerdings zusammen mit der Vorgabe potentieller Linien, da auf diese Weise Linien mit extrem ungleichmäßiger Auslastung verboten werden können.
Tabelle 2: Bewertung der Vorschläge für die Berücksichtigung von Fahrzeuggrößen
In Tabelle 2 wird jeder der drei Vorschläge bezüglich der Kriterien Implementationsaufwand, Programmkomplexität und Abbildungsgüte der Realität bewertet. Empfehlenswert für kleine Probleme ist trotz des hohen Implementationsaufwands die Umsetzung des zweiten Vorschlags, da die Realität am besten wiedergegeben wird. Für größere Probleme eignet sich der dritte Vorschlag aufgrund der geringen Auswirkungen auf die Programmkomplexität besser, obwohl dieser die Realität nicht exakt widerspiegeln kann.
4.4 Anpassung der Menge potentieller Linien
Aus den in Abschnitt 3 erläuterten Ergebnissen ist die große Bedeutung der potentiellen Linien für die Liniennetzplanung ableitbar. In LINOP werden diese automatisch durch Vorgabe der ZBBs und eines maximalen Umwegfaktors berechnet. Der Benutzer hat – außer durch die Vorgabe einer Mindestfahrzeit – keinen Einfluss auf die Art der potentiellen Linien. Es ist somit nicht sichergestellt, dass nur betrieblich realisierbare, verkehrlich sinnvolle und politisch konsensfähige Linien in der Lösung enthalten sind. Aus Sicht der Verkehrspraxis ist also dringend eine Möglichkeit zu schaffen, die einen direkten Einfluss auf die Erzeugung und Auswahl der potentiellen Linien ermöglicht.
Prinzipiell ist es bereits jetzt möglich, externe Linien vorzugeben und in LINOP einzulesen. Statt die potentiellen Linien automatisch zu berechnen, können diese auch vom Anwender, beispielsweise in VISUM eingegeben werden. Vor allem bei großen Netzen ist dies aber sehr aufwändig und daher nicht zweckmäßig, es sei denn, man möchte nur wenige, bestimmte Linienvarianten variabel vorgeben.
4.4.1 Lösungsansatz 1: Vorgabe von Linienästen
Um die Menge potentieller Linien einzugrenzen, wäre daher die Vorgabemöglichkeit von Linienästen in VISUM wünschenswert, die in der Schnittstelle, d.h. im Präprozess, zu neuen Linien verknüpft werden können. Um die Verknüpfungen auf sinnvolle Kombinationen zu beschränken, ist jeder Knoten mit einem zusätzlichen Attribut „virtueller ZBB“ zu versehen. In Kombination mit der „realen“ ZBB-Eigenschaft sind die Knoten dann in vier Gruppen klassifizierbar (siehe Tabelle 3).
Tabelle 3: Klassifizierung der Knoten nach realen und virtuellen Zugbildungsbahnhöfen
Die Effekte dieser Klassifizierung werden anhand von Abbildung 9 erläutert. Im linken Bereich der Grafik sind die fünf einzugebenden Linienäste dargestellt. Da E kein virtueller ZBB ist, wird die Strecke D-E-F zu einem Linienast zusammengefasst. Die daraus entstehenden sieben potentiellen Linien sind im rechten Bild enthalten. Bei diesem überschaubaren Beispiel ist der Eingabeaufwand nahezu identisch, bei komplexen Netzen wächst die Zahl der entstehenden Linien aber deutlich schneller als die der einzugebenden Linienäste. Da in F keine Linienäste miteinander verknüpft werden dürfen, gibt es dort keine durchfahrenden Linien. Auf diese Weise kann die Zahl der potentiellen Linien bereits deutlich reduziert werden. Eine weitere Einschränkung ist durch die Verwendung von Verknüpfungsregeln in der Form von crossbits oder der bereits im VISUM-Modell enthaltenen Abbiegebeziehungen erreichbar. Durch ein Abbiegeverbot von A nach B im Knoten C könnte die blaue Linie beispielsweise ausgeschlossen werden.
Bild 9: Erzeugung potentieller Linien mit virtuellen Zugbildungsbahnhöfen
Der Vorteil an diesem Verfahren ist die zwar aufwändige, aber gegenüber der Eingabe vollständiger Linien deutlich vereinfachte Eingabe der potentiellen Linien bei einer sehr guten Abbildung der realen Verhältnisse. Um die Komplexität des Programms nicht zu vergrößern, sollte die Erzeugung der potentiellen Linien unbedingt im Präprozess, also vor der eigentlichen Optimierung durchgeführt werden.
4.4.2 Lösungsansatz 2: Filterung der Menge potentieller Linien
Eine weitere Herangehensweise ist die Filterung der automatisch berechneten, potentiellen Linien. Die einfachste Art eines Filters ist die Möglichkeit, bestimmte Linien zwingend in die Lösung aufzunehmen oder diese zu verbieten. Sinnvoll wäre dies bei einer Optimierung von Teilnetzen, bei der übergeordnete Linien unverändert bleiben sollen. Außerdem wäre es möglich, ein Liniennetz zunächst mit allen potentiellen Linien zu berechnen und iterativ so lange unerwünschte Linien zu verbieten, bis eine Lösung entsteht, die ausschließlich realisierbare Linien enthält. Auch komplexere Regeln wie beispielsweise
- Linien, die in einem bestimmten Radius um eine bestimmte Haltestelle verkehren, müssen diese auch bedienen
- Knoten dürfen nur in einer Richtung als ZBB genutzt werden
- Bestimmte Haltestellen dürfen nicht bzw. müssen zwingend verknüpft werden
sind denkbar. Der Vorteil dieser Herangehensweise ist die nutzerabhängige Einschränkung des Lösungsraums sowie die Abbildbarkeit sehr vieler Randbedingungen. Zu berücksichtigen ist aber, dass der Implementationsaufwand mit der Zahl möglicher Regeln und der Eingabeaufwand mit der Anzahl der Regeln steigen. Aus Anwendersicht wäre daher eine möglichst einfache Eingabemöglichkeit, wie zum Beispiel durch eine Eingabemaske in VISUM, wünschenswert.
4.4.3 Vergleich der Lösungsansätze
Beide Ansätze sind bei der Bewertung sehr ähnlich. Die Implementation findet immer im Präprozess statt, wodurch die Programmkomplexität kaum steigt, da die Berechnung während der eigentlichen Optimierung nicht verändert wird. Die Realitätsnähe ist bei beiden Varianten abhängig vom Detaillierungsgrad der Eingabedaten. Die beste Anpassung kann durch eine Kombination beider Verfahren erreicht werden. Aufgrund der Bedeutung der potentiellen Linien für die Ergebnisqualität wird die gemeinsame Umsetzung beider Vorschläge trotz des höheren Implementationsaufwands dringend empfohlen.
5 Fazit
Das Modell von Nachtigall bildet die Verkehrsströme und die Infrastruktur bereits detailliert ab. Durch die implementierte Rückkopplung zwischen der Liniennetzoptimierung in LINOP und der Nachfrageberechnung in VISUM können Effekte eines veränderten Angebots in Form eines neuen Liniennetzes auf die Nachfrage untersucht werden.
Die hier vorgestellten Änderungen ergänzen das bestehende Modell, so dass neben den mathematisch optimalen Lösungen auch solche Lösungen berechnet werden können, die weitere „weiche“ betriebliche Randbedingungen wie politische Forderungen, infrastrukturelle Gegebenheiten, betriebliche Vereinbarungen oder gewachsene Strukturen berücksichtigen und dabei der Optimalität sehr nahe kommen. Dies sorgt für eine bessere Akzeptanz der berechneten Lösungen und somit eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine Umsetzung. Alle Veränderungen am Modell werden optional und abschaltbar vorgenommen, das heißt, die zusätzlichen Randbedingungen können berücksichtigt werden, müssen es aber nicht. Dadurch ist es möglich, die mathematisch optimale Lösung mit einer betrieblich realisierbaren Lösung zu vergleichen und beispielsweise die Kosten politischer Forderungen zu bestimmen.
6 Literatur
[1] JEROSCH, K.-F. (2006). Evaluierung und Weiterentwicklung eines Modells zur Liniennetzoptimierung, Diplomarbeit, TU Dresden
[2] PRIEM, D. (2008). Verbindung der Verkehrsplanungstools VISUM und LINOP mittels geeigneter Schnittstellen, Diplomarbeit, TU Dresden
[3] NACHTIGALL, K.; JEROSCH, K.-F. (2008). Simultaneous Network Line Planning and Traffic Assignment, Dresden
[4] MÜLLER, T. (2010). Entwickeln neuer Liniennetze für den Stadtverkehr einer großen Mittelstadt anlässlich veränderter Verkehrsführungen, Diplomarbeit, TU Dresden |