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1 Problemstellung
Praktisch überall werden die Verkehrsflächen für den nicht schienengebundenen Fahrzeugverkehr außerhalb von Knotenpunkten in Fahrstreifen unterteilt, die ein geregeltes Nebeneinander der Fahrzeuge im fließenden Verkehr sicherstellen sollen. Die Akzeptanz dieser Ordnung in Fahrstreifen ist allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt; während sie z.B. in Deutschland und den USA hoch ist, wird sie in vielen europäischen Staaten schon recht pragmatisch gehandhabt, und in Ländern wie Indien oder Ägypten ist sie im städtischen Verkehr die Ausnahme. Simulationsmodelle für den Kfz-Verkehr haben sich bislang meist auf eine Einteilung in Fahrstreifen verlassen, da sie es erlaubt, Längs- und Querverhalten der Fahrzeuge weitgehend getrennt zu behandeln, und da sich das Längsverhalten auf die Interaktion mit einem oder wenigen klar definierten vorausfahrenden Fahrzeugen beschränken lässt. Ein Großteil der Fahrzeug-Folge-Modelle beschäftigt sich in der Tat nur mit der Reaktion eines Fahrzeugs auf das Fahrverhalten eines führenden Fahrzeugs.
Oft geht die fehlende Bindung an Fahrstreifen mit einer breiten Mischung von Fahrzeugen einher. Prototypisch hierfür ist der indische Straßenverkehr, wo sich Pkw, Lkw und Busse die Fahrbahn mit Autorickshaws, leichten Motorrädern, Fahrrädern, Ochsenkarren und Fußgängern teilen, wobei eine Entmischung, z.B. nach möglichen Geschwindigkeiten der Fahrzeuge, kaum stattfindet. Eine solche Situation wird oft als heterogener Verkehr bezeichnet. Dieser Begriff bezieht sich eigentlich nur auf den Fahrzeugmix, wird aber in der Literatur häufig auch mit fehlender Fahrstreifenorientierung identifiziert. Entsprechend finden sich viele Arbeiten zur Modellierung nicht fahrstreifengebundenen Verkehrs unter dem Titel heterogener Verkehr. Heterogener Verkehr stellt weitere Anforderungen an Simulationsmodelle, indem nämlich viele Modellteile fahrzeugtypspezifisch formuliert und Interaktionen zwischen Fahrzeugen von den Typen beider Fahrzeuge abhängig gemacht werden müssen.
2 Stand der Technik
Sollen mikroskopische Verkehrsfluss-Modelle auch in Ländern eingesetzt werden, in denen eine schwache oder gar keine Fahrstreifendisziplin zu finden ist, sind die klassischen Modelle nicht mehr ausreichend. Andererseits ist eine Unterstützung des Planungsprozesses durch Werkzeuge wie die Verkehrssimulation in Ländern wie Indien wünschenswert und sinnvoll, da dort ein ungleich dynamischeres Verkehrswachstum zu bewältigen und gleichzeitig weniger Planungserfahrung vorhanden ist. Simulation kann hier in großem Umfang helfen, Planungsfehler zu vermeiden. Die Anwendung von Modellen des nicht fahrstreifengebundenen Verkehrs ist aber nicht auf Schwellenländer begrenzt, sie können auch in Deutschland die Simulationspraxis bereichern, zum Beispiel wenn man Zweiradverkehr oder verkehrsberuhigte Bereiche abbilden will.
Bislang stammen die meisten Arbeiten zum Thema aus Ländern, in denen die entsprechenden Verkehrsverhältnisse vorherrschen. Die kommerziellen Simulationswerkzeuge, die derzeit alle aus Europa oder den USA kommen, haben bis vor kurzem die Problematik noch ignoriert. Ebenso ist das Interesse der westlichen Verkehrsfluss-Forscher gering.
Die Modellierungsansätze können in zwei Gruppen unterteilt werden: kontinuierliche und zellbasierte. Bei den zellbasierten Modellen wird die Fahrbahn in ein Raster eingeteilt, dessen Zellen nicht größer sind als das kleinste Fahrzeug, das abgebildet werden soll. Fahrzeuge nehmen je nach ihrer Größe eine bestimmte Menge von Zellen in Anspruch. Diese Art der Darstellung ist entfernt verwandt mit den auch für fahrstreifengebundenen Verkehr verwendeten Zellularautomaten. Für jedes Fahrzeug muss dann bestimmt werden, welche anderen Fahrzeuge für sein Verhalten relevant sind, und schließlich wird seine Beschleunigung in Längs- und Querrichtung berechnet. Ein Beispiel eines zellbasierten Modells ist die Arbeit von OKETCH (2001, [1]). Kontinuierliche Modelle verzichten auf eine Diskretisierung des Raums und nehmen dafür einen höheren internen Organisationsaufwand in Kauf. Ein prominenter Vertreter dieser Familie ist das Modell HETEROSIM, das am Indian Institute of Tech- nology Madras entwickelt wurde (ARASAN 2005, [2]). Die Herausforderungen an die Modellierung des Verhaltens unterscheiden sich nicht wesentlich von den zellbasierten Modellen, auch hier muss für jedes Fahrzeug die Menge der Interaktionspartner bestimmt und die Be- schleunigung berechnet werden.
Sowohl Arasan als auch Oketch modellieren das Fahrverhalten unter der Annahme eines dominanten vorausfahrenden Fahrzeugs und der Möglichkeit, dieses zu überholen, wobei seitliche Sicherheitsabstände angenommen werden. Über die Querdynamik, also mit welcher Querbeschleunigung das Fahrzeug sich zur Seite bewegt, macht Arasan keine detaillierten Angaben. Ebenso wird nicht offengelegt, ob und wie sich ein Fahrzeug über die ganze Fahrbahnbreite orientiert, d.h. ob es entscheiden kann, sich auch ohne konkrete Überholmöglichkeit quer zu bewegen. HETEROSIM modelliert nur den Verkehr auf einem Streckenabschnitt, vermeidet also das Problem des Einordnens vor einem Knotenpunkt.
3 Lösungsansatz
Im vorgelegten Paper wird beschrieben, wie ein Modell für nicht fahrstreifengebundenes Fahren in das kommerzielle Simulationswerkzeug VISSIM eingebaut wurde. Das fahrstreifengebundene Fahren wird in VISSIM durch Wiedemanns psycho-physisches Fahrzeugfolgemodell und ein regelbasiertes Fahrstreifenwechselmodell abgebildet. Für das Längsverhalten können mehrere Vorderfahrzeuge berücksichtigt werden, wobei die realisierte Beschleunigung des reagierenden Fahrzeugs das Minimum der Beschleunigungen ist, die sich aus den Interaktionen mit jedem einzelnen Vorderfahrzeug ergeben.
Die Heterogenität der Fahrzeugflotte war auch schon im Ausgangszustand recht gut abbildbar, da sowohl Fahrzeugtypen mit ihren technischen Eigenschaften wie Abmessungen und Bremsvermögen als auch Fahrertypen mit ihren Eigenschaften wie Beschleunigungsfreude und Sicherheitsbedürfnis frei definierbar waren.
Für das nicht fahrstreifengebundene Fahren musste zunächst die Abbildung der Infrastruktur erweitert werden, so dass Fahrzeuge nicht nur eine kontinuierliche Längsposition, sondern auch eine kontinuierliche Querposition einnehmen können. Vorarbeiten dazu wurden schon früher im Rahmen eines Modells für Fahrradfahrer erledigt (FALKENBERG 2003, [3]). Um das Aufstellverhalten von Zweirädern zum Beispiel vor Signalanlagen besser abbilden zu können, wurde außer der üblichen Abstraktion der Fahrzeugform als Rechteck auch eine Abstraktion als Raute zugelassen.
Da die seitliche Position und damit der seitliche Abstand der Fahrzeuge nicht mehr durch Fahrstreifen diskretisiert wird, mussten analog zu den Sicherheitsabständen nach vorne seitliche Sicherheitsabstände definiert werden. Aufgrund des vermuteten Einflusses der Fahrzeugtypen kann dieser seitliche Abstand pro Fahrzeugtyp-Paar angegeben werden. Außerdem wurde eine lineare Abhängigkeit des seitlichen Sicherheitsabstands von der gefahrenen Geschwindigkeit angenommen. Diese Modellierungsannahmen sind noch nicht ausreichend durch empirische Daten belegt, erscheinen aber plausibel und hinreichend flexibel.
Das Fahrverhalten folgt einer relativ einfachen Logik. Ein Fahrzeug beobachtet längs stromabwärts eine vorgebbare Anzahl von Fahrzeugen, mindestens jedoch alle Fahrzeuge bis zu einer vorgebbaren Entfernung. Bei dichtem Fahrradverkehr auf einer breiten Fahrbahn kann das eine erhebliche Anzahl sein, was die Rechenzeit des Verfahrens im Vergleich zu fahrstreifengebundenem Verkehr spürbar erhöht. Auf alle diese Fahrzeuge wird im oben dargestellten Sinn reagiert, d.h. das Modell berechnet eine Längsbeschleunigung, die eine Kollision mit allen Fahrzeugen verhindert. Dabei werden Fahrzeuge nicht berücksichtigt, an denen unter Berücksichtigung des seitlichen Sicherheitsabstands vorbei gefahren werden kann.
Zur Bestimmung des Querverhaltens wird die Fahrbahn nun in virtuelle Fahrstreifen für die aktuelle Situation eingeteilt, indem rechts und links jedes vorausfahrenden Fahrzeugs (zuzüglich des seitlichen Sicherheitsabstands) eine Linie gezogen wird. Für jeden dieser virtuellen Fahrstreifen wird die Kollisionszeit berechnet, d.h. wie lange das Fahrzeug an der entsprechenden Querposition der Fahrbahn in Längsrichtung fahren könnte. Das Fahrzeug wählt die höchste Kollisionszeit aus und beginnt eine Seitwärtsbewegung zur entsprechenden Querposition. In der untenstehenden Abbildung ist die Einteilung der virtuellen Fahrstreifen illustriert.
Bild 1: Einteilung der Fahrbahn in momentane, virtuelle Fahrstreifen
Im Zulauf auf Kreuzungen ordnen sich Fahrzeuge entsprechend ihres Abbiegewunsches rechts oder links ein. Bei fahrstreifengebundenem Verkehr geschieht das durch die Wahl der geeigneten Fahrstreifen und Anwendung eines Fahrstreifenwechselmodells. Wenn keine Fahrstreifen vorhanden sind, muss ein Ersatz für dieses Verhalten geschaffen werden. Im vorgestellten Modell werden dazu in der Nähe des Knotens Beschränkungen des seitlichen Vorbeifahrens eingeführt, die verhindern, dass ein Fahrzeug, das am nächsten Knoten rechts abbiegen will, links an einem Fahrzeug vorbeifährt, das nicht rechts abbiegen will. Zusätzlich bevorzugen die Fahrzeuge bei freier Fahrt die Fahrbahnseite ihres Abbiege- wunschs. Dieses einfache Verfahren bewirkt schon eine deutliche Sortierung der Abbieger.
4 Anwendungen
4.1 BRT-Korridor in Delhi
Die erste kommerzielle Anwendung des oben beschriebenen Modells fand in Delhi, Indien, statt. Die Delhi Integrated Multi-Modal Transit System Agentur (DIMTS) betreibt in Delhi ein Bus-Rapid-Transit-System. Nach Problemen bei der Einführung des ersten Teilabschnitts, die durch Planungsfehler verursacht worden waren, wurde der zweite Teilabschnitt vor der Einführung simuliert. Die Simulationsstudie wurde von Planern der Behörde mit Unterstützung eines britischen Consultingunternehmens durchgeführt. Eine Kalibrierung des Modells im engeren Sinn fand nicht statt; stattdessen wurde im Wesentlichen visuell inspiziert, ob die Simulation plausibel war. Trotzdem konnte aus dieser Anwendung der Simulation Nutzen für das Projekt gezogen werden, weil allein diese Überprüfung schon mehrere Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten geben konnte. Man mag diese nicht ganz abgesicherte Anwendung von Simulation kritisch betrachten, aber in einem Umfeld, für das es bislang noch gar keine angemessenen Simulationswerkzeuge gab, ist auch eine solche eher qualitative Unterstützung des Planungsprozesses willkommen. Zudem wurden die Simulation und eine daraus generierte Visualisierung im politischen Diskussionsprozess eingesetzt. Die folgende Abbildung zeigt eine Ansicht aus dieser Visualisierung.
Bild 2: Simulation einer Kreuzung im Verlauf des BRT-Korridors in Delhi
4.2 Khairatabad-Kreuzung in Hyderabad
Eine weitere Anwendung fand das Modell in einer verkehrstechnischen Studie in Hyderabad. Hier wurde eine großflächige fünfarmige Kreuzung mit hoher Auslastung modelliert.
Bild 3: Realfoto der modellierten Kreuzung und Blick von oben auf die Simulation
Es stellte sich heraus, dass die Reproduktion des Fahrzeugdurchsatzes aus den einzelnen Armen nicht einfach ist. Eine visuelle Inspektion zeigt, dass sich die realen Fahrer in der Ausnutzung von Lücken geschickter anstellen als die simulierten Fahrer. Es besteht hier also Verbesserungspotential, das durch eine bessere Modellierung des taktischen Fahrverhaltens genutzt werden könnte. Die in der Simulation erreichten Fahrzeugdurchsätze sind in der folgenden Abbildung den real gemessenen gegenübergestellt.
Bild 4: Gemessene und simulierte Fahrzeugdurchsätze pro Arm der Kreuzung
4.3 Reisezeiten an signalisierten Knoten
Am IIT Bombay wurde untersucht, ob sich mit dem beschriebenen Modell auch die Reisezeiten über eine signalisierte Kreuzung reproduzieren lassen (MATHEW 2010, [4]). Dazu wurden zunächst mittels Videotechnik Reisezeiten in der Realität im Umfeld eines Signals gemessen. Gewählt wurde ein einfaches Szenario, in dem nur Fahrzeuge im Geradeaus- Strom betrachtet wurden. Für Fahrzeuge, die am Signal halten mussten, wurde die Reisezeit bis zum Halten und die Reisezeit ab Weiterfahrt erfasst. Es sollte damit vor allem überprüft werden, ob sich die Aufstell- und Anfahrvorgänge quantitativ gut abbilden lassen. Die folgende Abbildung zeigt, dass Parametereinstellungen gefunden wurden, für die zumindest in diesem einfachen Szenario die Reisezeiten realistisch abgebildet werden.
Bild 5: Reisezeit über eine signalisierte Kreuzung; Vergleich Messung und Simulation
5 Forschungsbedarf
Wie aus der obigen Beschreibung des Modells und seiner Anwendungen ersichtlich ist, fehlt noch eine gute empirische Basis zur Kalibrierung der Modellparameter. In den beschriebenen Anwendungen wurde eine Validierung im Wesentlichen nach visueller Plausibilität und nach Verkehrsdurchsatz durchgeführt. Neben einer Erhebung der Fahrzeugcharakteristika müssen auch die Längs- und Querabstände in verschiedenen Situationen beobachtet werden. Dazu sind wahrscheinlich Videoanalysen am geeignetsten. Erste solche Arbeiten wurden am IIT Bombay bereits durchgeführt. Unabhängig von der Erhebung solcher Parameter ist auch zu überprüfen, ob das angenommene Fahrverhalten qualitativ realistisch ist, oder ob komplexere, taktische Verhaltenselemente aufgenommen werden müssen.
6 Literatur
[1] Oketch, T. 2001, A Model for Heterogeneous Traffic Flows including Non-Motorized Vehicles, Schriftenreihe des Instituts für Verkehrswesen der Universität Karlsruhe, Heft 59.
[2] Arasan, V. T.; Koshy, R. Z. 2005. ‘Methodology for modeling highly heterogeneous traffic flow’, Journal of Transportation Engineering – ASCE 131(7): 544–551.
[3] Falkenberg, G. , Vortisch, P. 2003. Bemessung von Radverkehrsanlagen unter verkehrstechnischen Gesichtspunkten. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heft V 103, Bergisch Gladbach
[4] Mathew, T., Radhakrishnan, P. 2010. ‘Calibration of Microsimulation Models for Nonlane-Based Heterogeneous Traffic at Signalized Intersections’, Journal of Urban Planning and Development, ASCE, 136, 59 |