FGSV-Nr. FGSV 001/25
Ort Stuttgart
Datum 30.09.2014
Titel Die Zuverlässigkeit des Systems Straße und die Bewertung des Verkehrsablaufs
Autoren Univ.-Prof. Dr.-Ing. Werner Brilon
Kategorien Kongress
Einleitung

Das einleitende Referat der Vortragsreihe soll das Motto des Kongresses „zuverlässiger Verkehr auf unseren Straßen“ erläutern. Unter der Zuverlässigkeit wird die Wahrscheinlichkeit verstanden, mit der die Verkehrsteilnehmer pünktlich ihr Ziel erreichen. Statt die Wahrscheinlichkeit direkt zu ermitteln, werden verschiedene Maßzahlen für die Zuverlässigkeit verwendet, z. B. die Summe aller Zeitverluste über das Jahr. Dabei sollen Einflüsse der variablen Kapazität, von Unfällen und Fahrzeugpannen sowie von Baustellen und Überlastungen berücksichtigt werden. Zur Verbesserung der Zuverlässigkeit bieten sich neben der baulichen Erweiterung des Straßennetzes verschiedene betriebliche und organisatorische Maßnahmen an wie: Zufahrtsteuerung, Überwachung zulässiger Geschwindigkeiten, verlässliche Verkehrsinformationen, Baustellenmanagement oder das Management von Unfällen und Pannen. Unter dem Ziel der Zuverlässigkeit lassen sich die Maßnahmen der verschiedenen am Verkehrsgeschehen beteiligten Stellen koordiniert und abgewogen bündeln.

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Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.

1 Einleitung

Der Vortrag soll zwei Themen abdecken:

  • Stand des „Handbuchs für die Bemessung von Straßen“ (HBS 2015):
    Das HBS ist in seiner abschließenden Fassung fertiggestellt. Es ist zu erwarten, dass es in der ersten Hälfte 2015 erscheint.
  • Erläuterungen des Kongressthemas „zuverlässiger Verkehr auf unseren Straßen“

Das Thema der Zuverlässigkeit des Verkehrs wird in der nahen Zukunft des Verkehrswesens eine beherrschende Bedeutung erlangen. Unsere bisherigen Methoden und Kennwerte für die Beurteilung der Qualität des Verkehrsablaufs genügen nicht mehr den Anforderungen, denen wir uns heute und in Zukunft stellen müssen.

Heute – und dafür steht auch noch das HBS 2015 – beurteilen wir die Verkehrsqualität nur für eine einzelne Stunde. Wir kümmern uns nicht um die restlichen 8759 anderen Stunden eines Jahres. Wir blenden dabei auch alle Störungen aus, wie sie regelmäßig von Unfällen, Fahrzeugpannen, Baustellen oder Witterungseinflüssen ausgehen. Darüber hinaus wird die Kapazität der Straßenverkehrsanlagen jeweils als ein fester konstanter Wert betrachtet, was unrealistisch ist. Diese drei Vereinfachungen führen dazu, dass die konventionellen Methoden für die Beurteilung der Verkehrsqualität auf Straßen das Verkehrsgeschehen nicht wirklich repräsentieren. Vor allem versagen diese Methoden, wenn es darum geht, auch Überlastungen des Verkehrssystems in die Überlegungen einzubeziehen.

Bei der konventionellen Betrachtungsweise – etwa nach dem HBS – werden vergleichsweise geringe Unterschiede von Parametern, die den Verkehrsablauf charakterisieren, zur Einstufung der Verkehrsqualität herangezogen. So bedeutet auf einer Autobahn der Unterschied zwischen den Qualitätsstufe C und D im äußersten Fall einen Abfall der Fahrtgeschwindigkeit von 117 km/h auf 106 km/h, was über eine Strecke von 100 km eine um 5 Minuten längere Fahrtzeit bedeutet. Solche geringen Unterschiede sind für die Verkehrsteilnehmer aber weitgehend unerheblich. Entscheidend sind große und unvorhersehbare Zeitverluste in Größenordnungen von – je nach Fahrtweite – 30 Minuten oder mehreren Stunden. Es stellt sich also für die Verkehrsteilnehmer bei jeder Fahrt die Frage: erreiche ich mein Ziel etwa zu der vernünftigerweise erwartbaren Ankunftszeit oder erleide ich erhebliche Verspätungen? Erhebliche Verspätungen sind das eigentliche Problem für die Verkehrsteilnehmer, weil dadurch vielfach der Zweck der Fahrt verfehlt wird. Solche erheblichen Verspätungen treten teilweise alltäglich auf, wenn Straßen in den Spitzenstunden wegen Überlastungen täglich verstopfen. Dann werden die Verkehrsteilnehmer diese Verspätungen weitgehend in ihre Fahrtplanung einbeziehen. Viele dieser erheblichen Verspätungen entstehen aber in unvorhersehbarer Weise durch Verkehrsstaus.

Verkehrsstaus bilden sich durch eine Überlastung (Verkehrsnachfrage ist größer als die Kapazität), durch Unfälle oder Fahrzeugpannen und durch Baustellen. Diese drei Gruppen von Ursachen sind erfahrungsgemäß – grob gesprochen – zu etwa gleichen Teilen für die Staubbindung auf Autobahnen verantwortlich. Daneben treten extreme Witterungsverhältnisse (insbesondere im Winter) und – glücklicherweise selten aber mit zunehmender Tendenz – Schäden an der Infrastruktur der Straßen. Alle diese Ursachen können erhebliche Verspätungen für die Verkehrsteilnehmer nach sich ziehen und ihre Folgen sind deswegen die wirklich wesentlichen Merkmale der Qualität des Verkehrsablaufs.

Alle diese Ursachen treten – aus der Sicht der Betroffenen – unvorhersehbar, also zufällig auf. Und meistens haben die Betroffenen wenig Möglichkeiten, die entstehenden Verspätungen durch Modifizierung der Fahrtroute zu vermeiden oder zu verringern. Es besteht also bei allen Fahrten ein Risiko, dass durch Störungen im Verkehrsablauf der eigentliche Zweck der Fahrt beeinträchtigt oder nicht erreicht wird. Die Qualität des Verkehrsablaufs wird durch dieses Risiko zutreffender charakterisiert als durch geringe Unterschiede in der Fahrtgeschwindigkeit oder bei den Wartezeiten an Knotenpunkten.

Dieses Risiko – oder besser gesagt der Kehrwert davon – wird durch den Begriff „Zuverlässigkeit“ gekennzeichnet. Zuverlässigkeit (englisch: reliability) sollte also das eigentliche Ziel bei der Gestaltung der Verkehrssysteme sein. Dieses Ziel wird, ohne es unter diesem Begriff zu nennen, seit langem im Handeln der zuständigen Stellen verfolgt. Woran es fehlt, ist vielfach eine abgestimmte und koordinierte Vorgehensweise der verschiedenen an Verkehrsgeschehen beteiligten Stellen. Insbesondere in den USA ist das Thema „reliability“ in den letzten Jahren in den Fokus der Verkehrspolitik gerückt, was zu einer Fülle entsprechend ausgerichteter Forschungsarbeiten mit großzügiger Finanzierung geführt hat und sich inzwischen auch in der Aktualisierung der einschlägigen Regelwerke niederschlägt.

2 Definition der Zuverlässigkeit

Bevor man sich weiter mit dem Thema befasst, sollte man Messzahlen kennen, mit denen die Zuverlässigkeit beschrieben werden kann. Dabei kann man von der trivialen Feststellung ausgehend: der Verkehrsablauf ist dann zu 100 % zuverlässig, wenn alle Verkehrsteilnehmer ihr Ziel innerhalb einer Zeitdauer erreichen, die sie zu Recht erwarten können. Diese zunächst als unbestimmt erscheinende Beschreibung kann man so einengen: erwartet werden kann zumindest die Verkehrsqualität, die bei regulären Betrieb unter voller Auslastung besteht, also zum Beispiel für frei befahrbare Autobahnen eine Fahrtgeschwindigkeit (früher als Reisegeschwindigkeit bezeichnet) von 80 bis 90 km/h. Konsequenterweise kann man dann definieren: Zuverlässigkeit ist die Wahrscheinlichkeit einer pünktlichen Ankunft.

Aber es geht nicht allein darum, ob der Verkehrsteilnehmer pünktlich ankommt oder nicht. Wesentlich ist auch das Ausmaß der erlittenen Verspätungen. Deswegen kommt aus der internationalen Fachliteratur eine Fülle von denkbaren Messzahlen auf uns zu (Bild 1).

Für Autobahnen werden auch als wesentliche Parameter vorgeschlagen:

  • Summe aller Zeitverluste der Kraftfahrer (gegenüber der Fahrt bei voller Auslastung) über ein ganzes Jahr,
  • Wert dieser Zeitverluste in Euro/Jahr,
  • Anzahl der von Staus betroffenen Fahrer,
  • Anzahl der Staus pro Jahr

und andere.

Bild 1: Maßzahlen aus der amerikanischen Fachliteratur zur Kennzeichnung der Zuverlässigkeit

3 Konventionelle Beurteilung der Qualität des Verkehrsablaufs

Die bis heute gültigen Regelwerke der Verkehrstechnik, zum Beispiel das HBS 2001, aber auch die zukünftige Version HBS 2015, wählen eine Stunde des Jahres aus, um für die dann gegebene Verkehrsnachfrage das Leistungsvermögen der Verkehrsanlage nachzuweisen. In Zukunft (HBS 2015) wird dies die so genannte „50-te Stunde“ sein, also die Verkehrsnachfrage, die in 50 Stunden des Jahres erreicht oder überschritten wird. Dabei bleibt es ohne Beachtung, wie schlecht der Verkehr in den höher belasteten 49 Stunden funktioniert und wie gut der Verkehr in den 8710 schwächer belasteten Stunden abläuft. Für diese eine Stunde wird die Verkehrsnachfrage qb (in Kfz/h), genannt  „Bemessungsverkehrsstärke“, der Kapazität c gegenübergestellt. Das Bild 2 veranschaulicht dies für eine Autobahn. Wenn der Auslastungsgrad x (= qb/c) geringer als 0,9 ist, so wird die Qualitätsstufe D eingehalten und damit sind die üblichen Anforderungen an die Verkehrsqualität erfüllt. Dabei werden ideale Randbedingungen vorausgesetzt wie: trocken und hell, kein Unfall und keine Baustelle. Sollte sich eine Überlastung ergeben, das heißt x > 1, dann kapituliert die konventionelle Methodik, denn dafür gibt es keinerlei Aussage.

Bild 2: Mittlere Fahrtgeschwindigkeit in Abhängigkeit von der Verkehrsstärke für eine dreistreifige Autobahn nach HBS 2015 mit Eintragung der Qualitätsstufen QSV (für einen Schwerverkehrsanteil ≤ 5 %)

Diese konventionelle Herangehensweise reicht für eine einfache und vorläufige Analyse aus. Aber sie deckt in keiner Weise die wirklichen Anforderungen an Qualitätsbeurteilungen aus der Sicht der Verkehrsteilnehmer ab. Die interessieren sich für die Chancen, pünktlich am Ziel anzukommen und dies unter Einbeziehung aller denkbaren, auch der problematischen Einflussfaktoren.

4 Variable Kapazität

Die konventionelle Betrachtungsweise unterstellt, dass die Kapazität einer Straße, also die maximal mögliche Verkehrsstärke, einen konstanten Wert hat (im Bild 1 dargestellt durch das rechte Ende der Kurven für den fließenden Verkehr). Die Realität auf Autobahnen lehrt uns aber, dass dies eine unzureichende Vereinfachung ist.

Stattdessen kann der Übergang vom fließenden Verkehr in Stauzustände – auch auf ein und derselben Strecke – bei unterschiedlichen Verkehrsstärken stattfinden. Dies sollen die roten Pfeile im Bild 3 andeuten. Der Übergang vom fließenden Verkehr in den Stau – meist als „Zusammenbruch des Verkehrsflusses“ bezeichnet – geht in den meisten Fällen zunächst in einen Zwischenzustand über (hier als „synchronisiert“ bezeichnet, weil alle Autos etwa gleich schnell fahren). Hierbei werden noch hohe Verkehrsstärken abgewickelt, wenngleich auch bei mäßiger Geschwindigkeit. Von diesem Zwischenzustand kann der Verkehrsfluss weiter zusammenbrechen und in einen Stau mit Stop-and-go oder in Stillstand übergehen. Auch die Erholung aus dem Stau verläuft – in der zeitlichen Abfolge gesehen – meistens durch den synchronisierten Verkehr. Die möglichen Verkehrsstärken im synchronisierten Verkehr liegen meist deutlich unter den Verkehrsstärken vor dem Zusammenbruch ( = „capacity drop“). Auch die Erholung zurück in den fließenden Verkehr geschieht durchweg bei geringeren Verkehrsstärken als der Zusammenbruch („Hysterese“-Phänomen). Deswegen sollte die Verkehrssteuerung stets alle Möglichkeiten ausschöpfen, um einen Zusammenbruch zu vermeiden, denn als Folge des „capacity drop“ und der Hysterese kann sich ein einmal zusammengebrochener Verkehrsstrom nur dann in fließenden Verkehr zurück verwandeln, wenn die Nachfrage deutlich zurückgegangen ist.

Die Variabilität der Kapazität vor einem Zusammenbruch ist in der jüngeren Zeit relativ gründlich analysiert worden. Das Bild 4 zeigt als Beispiel ein Ergebnis derartiger Analysen. Die grüne Punktewolke stellt ein q-v-Diagramm für eine Autobahn dar, das durch die blaue Kurve repräsentiert wird. Die rote Kurve zeigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Fluss des Verkehrs bei der jeweiligen Verkehrsstärke zusammenbricht. Der auf der rechten Seite hervorgehobene Punkt weist die größte auf der Strecke beobachtete Verkehrsstärke auf. Nach dieser Rechnung bestand hier eine Wahrscheinlichkeit von 0,82 dafür, dass der Verkehr in diesem 5-Minuten-Intervall zusammenbricht.

Das Bild 5 zeigt in einem anderen Beispiel diese Wahrscheinlichkeit im Vergleich zwischen nasser und trockener Fahrbahn. Das Beispiel verdeutlicht, dass auf der analysierten Strecke bei einer Verkehrsstärke von 6000 Kfz/h der Verkehr mit 15 % Wahrscheinlichkeit zusammenbricht, wenn es trocken ist. Bei Nässe beträgt dagegen bei gleicher Verkehrsstärke die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs 50 %.

Neben einer derartigen Beeinflussung der Verteilungsfunktion durch die äußeren Umstände zeigen sich auch erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen, durchaus gleichartigen Strecken. Man muss also festhalten, dass jede einzelne Strecke einer Autobahn ein „Individuum“ darstellt und dass zusätzlich die Kapazität zeitlichen Veränderungen unterliegt. Die Repräsentation durch standardisierte Funktionen (Bild 2) hat deswegen nur den Charakter einer Näherung.

Bild 3: Schematische Darstellung der Dynamik in einem q-v-Diagramm des Verkehrsflusses auf einer Autobahn

Bild 4: q-v-Diagramm (5-Minuten-Intervalle) für eine Autobahn im Vergleich mit der Verteilungsfunktion der Kapazität

Bild 5: Verteilungsfunktion der Kapazität im Vergleich zwischen trockener und nasser Fahrbahnoberfläche

Die zufälligen Schwankungen der Kapazität können bei einer Analyse der Zuverlässigkeit nicht unberücksichtigt bleiben. Als eine mögliche Vorgehensweise ist die Ganzjahresanalyse vorgeschlagen worden. Hierbei wird die Variabilität der Kapazität über ein ganzes Jahr der Variabilität der Nachfrage gegenübergestellt (Bild 6).

Bild 6: Vergleich der zeitlich variablen Nachfrage und der zufällig variablen Kapazität über eine Woche als Ausschnitt aus einer Ganglinie über ein Jahr

Dabei werden berücksichtigt:

  • typische Ganglinien der Verkehrsnachfrage einschließlich der zufälligen Schwankungen,
  • zufällige Variabilität der Kapazität,
  • übliche Witterungsbedingungen (das heißt trocken oder nass, aber ohne Extremwetter),
  • Unfälle und Fahrzeugpannen mit ihren Folgen für den Verkehrsfluss (anhand von Erfahrungswerten über Art und Dauer der Sperrung einzelner Fahrstreifen),
  • Baustellen.

Alle variablen Größen werden in einer Monte-Carlo-Simulation für ein ganzes Jahr (eingeteilt in 5-Minuten-Intervalle) stochastisch erzeugt. Zur Berücksichtigung der Streubreite der einzelnen Parameter werden Erfahrungen verwendet, wie sie in der einschlägigen Fachliteratur dokumentiert sind.

Bild 7: Grafische Veranschaulichung der Bildung und Auflösung eines Staus als Folge einer 5 Minuten dauernden Vollsperrung (schwarze Fläche), berechnet nach einem Kontinuumsmodell

Daraus werden durch Vergleich der Nachfrage und der Kapazität für alle Zeitintervalle und alle Streckenabschnitte die Störungswirkungen auftretender Staus geschätzt. Dabei muss auch die Fortpflanzung der Staus innerhalb des Streckennetzes berücksichtigt werden. Für diese Schätzung kommen verschieden aufwändige Verfahren in Betracht: Die Möglichkeiten reichen von einem simplen deterministischen Warteschlangenmodell bis hin zu einer Modellierung nach einem Kontinuums-Modell (Bild 7). Diese Methoden lassen sich so effizient anwenden, dass für einen mehrere Kilometer langen Abschnitt einer Autobahn eine mehrfache Wiederholung der Rechnung für ein ganzes Jahr auf einem handelsüblichen Computer in kurzer Zeit möglich ist. Mit einer mikroskopischen Simulation wäre dies nicht zu leisten.

Im Ergebnis liefert eine solche Ganzjahresanalyse die Maßzahlen nach Bild 1, aber auch Resultate wie

  • Dauer der Störungen,
  • Anzahl betroffener Fahrzeuge,
  • Summe aller Verlustzeiten,
  • ökonomischer Wert aller Verlustzeiten.

Diese Parameter eignen sich auch als Eingangsgrößen für eine Wirtschaftlichkeitsrechnung, mit der die Wirkungen verschiedenartiger Maßnahmen gemeinsam bewertet werden können.

5 Maßnahmen

Bis hierher hören sich die Ausführungen sehr akademisch an. Was aber kann zur Verbesserung der Zuverlässigkeit des Verkehrs auf den Straßen – hier vornehmlich auf den Autobahnen – unternommen werden? Es ist klar, dass hierzu ein breites Bündel von Maßnahmen zur Verfügung steht, von denen hier nur einige genannt werden.

5.1 Erhöhung der Kapazität

Die wirkungsvollste Maßnahme zu Gunsten einer höheren Zuverlässigkeit ist die bauliche Erweiterungen der Straßeninfrastruktur mit der dadurch geschaffenen höheren Kapazität. Dabei sind flächenhaft geplante Maßnahmen (wie der pauschale Ausbau zwischen A und B von 4 auf 6 Fahrstreifen) nicht immer die beste Lösung. Insbesondere in den Ballungsgebieten ist es wichtig, Engpässe zu identifizieren und gezielt diese Engpässe auszubauen.

Bei der Erweiterung bestehender Autobahnen ist es im Sinne der Zuverlässigkeit besser, einen längeren durchgehenden Netzabschnitt in kurzer Zeit auszubauen, als die verfügbaren Mittel über das ganze Land zu streuen, um dadurch fortwährend in allen Landesteilen gleichermaßen Aktivitäten unter Beweis zu stellen. Abschreckendes Beispiel kann die BAB A 1 zwischen Leverkusen und Dortmund sein, die seit mehr als 30 Jahren von 4 auf 6 Fahrstreifen ausgeweitet wird, ohne dass sie bisher durchgehend 6-streifig befahrbar ist. Solange auf einzelnen Streckenabschnitten weiterhin Engpässe durch Baumaßnahmen bestehen und somit die Strecke nicht durchgehend mit ihrer Erweiterung betriebsbereit ist, entfalten die zwischenzeitlich getätigten Investitionen nicht ihre volle Wirkung. Vorbildlich sind hier die PPP-Maßnahmen, bei denen in kürzester Zeit großräumige Streckenabschnitte im Autobahnnetz wirkungsvoll erweitert werden.

Ein besonders effizientes und kurzfristig umsetzbares Instrumentarium zur Kapazitätsausweitung und damit zur Vermeidung von Staus ist die temporäre Standstreifenfreigabe.

Es geht aber nicht nur um eine erhebliche Ausweitung der Kapazität. Es ist vielfach aufgezeigt worden, dass bereits die Verringerung in der Streuung der Kapazität – also eine Homogenisierung des Verkehrsflusses – durchgreifende Erhöhungen der Zuverlässigkeit bewirkt. Solche Begrenzungen der Varianz von Kapazitäten können zum Beispiel erreicht werden durch

  • gut gesteuerte Verkehrsbeeinflussungsanlagen mit variabler Geschwindigkeitssteuerung: Auch wenn dadurch die Kapazität im Mittel nicht angehoben wird, so vermindern Sie doch die Varianz der Kapazität. Dies bewirkt eine geringere Anzahl von Staus. So sind an einem Beispiel auf der BAB A 9 Verringerungen der Verlustzeiten um 40 % – über das Jahr hinweg betrachtet – aufgezeigt worden.

Bild 8: Temporäre Standstreifenfreigabe (Quelle: Hessen Mobil)

Bild 9: Anzeige von Fahrtzeiten (Quelle: Hessen Mobil)

  • Zufahrtsteuerung: bei einer Untersuchung in Nordrhein-Westfalen wurden die Staus als Folge der Zufahrtsteuerung ca. 50 % reduziert und die mittleren Geschwindigkeiten angehoben.
  • Section Control: Von der wirkungsvollen Überwachung sinnvoller Geschwindigkeitsbeschränkungen kann eine Vergleichmäßigung des Verkehrsflusses und damit eine Erhöhung
    der Zuverlässigkeit erwartet werden.

Bild 10: Zufahrt-Steuerung (Quelle: Straßen-NRW)

  • Anzeige von Reisezeiten: Die Anzeige der aktuellen zu erwartenden Fahrtzeiten bis zu markanten Punkten des Autobahnnetzes wurde in hoch belasteten Abschnitten erstmals im Raum Paris ausprobiert. Dieser Service hat dort zu einer erheblichen Beruhigung des Verkehrsflusses beigetragen. Diese Methode hat sich dort so stark bewährt, dass Fahrtzeiten
    fast überall auf den hoch belasteten Abschnitten der Autobahnen in Frankreich angezeigt werden. In Deutschland macht man davon nur zögerlich Gebrauch. Es hat sich aber gezeigt, dass solche Anzeigen, wenn sie verlässlich sind, zu einer entspannteren Fahrweise und damit zu einem gleichmäßigen Verkehrsfluss führen und dass somit ein Beitrag zur Erhöhung der Zuverlässigkeit geleistet werden kann.

Die hier genannten Maßnahmen wirken sich dann besonders auf die Zuverlässigkeit aus, wenn die betroffene Autobahnstrecke häufig bis zum Rand des Leistungsvermögens ausgelastet ist. Diese Maßnahmen sind zugleich geeignet, die Verkehrssicherheit zu verbessern.

5.2 Abbau von Spitzen in der Verkehrsnachfrage

Die Zuverlässigkeit des Verkehrssystems könnte nachdrücklich verbessert werden, wenn es gelingen würde, die Verkehrsnachfrage gezielt in den Spitzenzeiten abzubauen. Dem dient das gesamte Spektrum von organisatorischen und erzieherischen Maßnahmen, das vielfach unter dem Begriff des Verkehrsnachfrage-Management zusammengefasst wird. Hier geht es darum, durch Beratung und zielgerichtete Information diejenigen Verkehrsteilnehmer, die problemlos auch zu anderen Zeiten reisen könnten, von einer Fahrt in den Spitzenzeiten abzuhalten. Zu diesen Maßnahmen gehören auch Fahrgemeinschaften und deren gezielte Organisation, zum Beispiel auf der Ebene großer Betriebe.

Ein ähnliches Ziel verfolgen auch alle Informationen über die aktuelle Verkehrssituationen durch Rundfunk, Navigationssysteme, Internet oder andere Medien. Als Ergebnis dieser Informationen wird im Falle von Verkehrsstörungen eine Verlagerung von Fahrten auf andere Zeiten oder auf aktuell unkritische Routen erhofft. Die Qualität dieser Informationen, soweit sie öffentlich zugänglich sind, ist bisher eher schlecht. Es ist fragwürdig, inwieweit es richtig ist, dieses Steuerungsinstrument dem Wettbewerb von großen Konzernen zu überlassen. Ein stärkeres Engagement der Straßenbetreiber mit dem Ziel einer allgemein und frei zugänglichen, unverfälschten und verlässlichen Informationen über die Verkehrslage könnte erheblich zur Verbesserung der Zuverlässigkeit der Straßen beitragen. Die wirkungsvollste Maßnahme zum Abbau von Spitzen der Verkehrsnachfrage wäre zweifellos eine zeitabhängige Maut, bei der in Spitzenzeiten eine höhere Gebühr zu entrichten wäre als in den Schwachlastzeiten. Für eine solche Maßnahme fehlt aber bisher der Wille der politisch Verantwortlichen.

Zur Begrenzung der Spitzennachfrage in kritischen Abschnitten des Autobahnnetzes eignen sich auch:

  • Sperrung von Anschlussstellen zu Spitzenzeiten.
  • Fortsetzung einer restriktiven Politik bei der Genehmigung zusätzlicher Anschlussstellen: Jede neue Anschlussstelle bringt zusätzlichen örtlichen Verkehr auf die Fernstraßen. Der örtliche Verkehr ist aber durch kurzfristige Nachfragespitzen gekennzeichnet, während der Fernverkehr eher ausgeglichene Ganglinien der Nachfrage aufweist. Der örtliche Verkehr kann somit einerseits durch die größere Verkehrsstärke und andererseits durch kurze Nachfragespitzen den durchgehenden Verkehr zum Zusammenbruch bringen und so länger anhaltende Staus auslösen.
  • Stauräume im Autobahnnetz: Es kann sinnvoll sein, den Verkehrsfluss im Zulauf zu Engpässen gezielt so zu begrenzen, dass die Kapazität des Engpasses nur zu ca. 90 % ausgelastet ist. Dies wird im Ausland zum Beispiel an Mautstationen oder durch die Steuerung der Zufahrt zu wichtigen Tunnelstrecken gezielt angewendet. Im Ergebnis ist es für alle Verkehrsteilnehmer, auch diejenigen, die vor einer derartigen Mautstelle warten müssen, vorteilhafter als Folge des begrenzten Zuflusses den Verkehr auf dem Engpass im Fluss zu halten, als einen Zusammenbruch innerhalb der kritischen Streckenabschnitte zu riskieren.

5.3 Baustellenmanagement

Baustellen sind im Autobahnnetz eine ständige und systematische Ursache von Staus. Hier können die Folgen der Bauarbeiten auf den Verkehrsfluss verringert werden:

  • durch die zeitliche Verkürzung der Arbeiten (zum Beispiel durch vertragliche Vereinbarung von Bauzeiten mit Bonus-/Malus-Systemen),
  • durch eine optimierte Einpassung von Tagesbaustellen in die Ganglinien der Verkehrsstärken auf der Strecke,
  • durch die Gestaltung der provisorischen Verkehrsführung.

Gerade der letzte Punkt verdient mehr Aufmerksamkeit. So kann durch ausreichend breite Fahrstreifen oder durch den Bau von Provisorien für die Zeit der Arbeiten, aber auch durch den Bauablauf die Kapazität während der Bauzeit entscheidend verbessert werden. Es sollte bei der Einrichtung von Baustellen längerer Dauer auf Autobahnen verpflichtend werden, dass zuvor verschiedene Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Kapazität entwickelt und durch Wirtschaftlichkeitsrechnungen (unter Einbeziehung der Kosten für die Verkehrsteilnehmer) die günstigste Lösung gefunden wird.

In Verbindung mit den Baumaßnahmen muss auch auf die Notwendigkeit einer hohen Bauqualität hingewiesen werden. Zu fordern sind dauerhafte Bauweisen sowie eine qualitätsorientierte Bauausführung, z. B. durch intensive Bauüberwachung und Einbeziehung von Qualitätskriterien bei der Vergabe der Arbeiten. Hierdurch entstehende Mehrkosten rentieren sich aus volkswirtschaftlicher Sicht, weil durch Dauerhaftigkeit und gute Qualität zukünftige Baustellen und damit Staus vermieden werden.

5.4 Verkehrssicherheit und Störungsmanagement

Zunächst ist klar, dass alle Maßnahmen, durch die Unfälle vermieden werden, auch der Zuverlässigkeit dienen, weil so unfallbedingte Störungen des Verkehrsablaufs unterbleiben.
Wenn aber ein Unfall geschieht, wird meistens ein Teil der Straße oder die gesamte Strecke für den fließenden Verkehr unpassierbar. Die Zeiten dieser Störungen sollten im Interesse der Zuverlässigkeit so gering wie möglich gehalten werden. Dem dienen:

  • Standstreifen: Die Standstreifen werden vielfach mit dem Ziel der Verkehrssicherheit verknüpft. Sie mögen in diesem Sinn einen begrenzten Nutzen haben. Die größte Wirkung entfalten sie aber als hilfsweise nutzbarer Verkehrsraum bei Blockaden der Fahrstreifen (Unfälle, Tagesbaustellen) und zur Schaffung eines Fahrwegs für die Einsatzkräfte. Dadurch sind Standstreifen für die Zuverlässigkeit von größter Bedeutung. Diese Bedeutung wird bei der Planung oder der Erneuerung von Autobahnen zu wenig beachtet.
  • Hohe Präsenz der Polizei und der Rettungsdienste: Vor allem die in mehreren Bundesländern in der Vergangenheit erfolgte Konzentration der Polizeikräfte auf weniger Stationen ist geeignet, die Zeiten bis zur Ankunft der Sicherheitskräfte am Unfallort zu verlängern. Dadurch verlängert sich zwangsläufig auch die Dauer der Störung durch die Unfallsituation.
  • Alle Einsatzkräfte sollten veranlasst werden, vor Ort gemeinsam eine Strategie zu verfolgen, die eine schnelle Beseitigung der Unfallfahrzeuge und der Schäden an der Straße zum Ziel hat. Dieses Ziel sollte gegenüber der Feststellung der Unfallverursacher ein hohes Gewicht haben – insbesondere bei leichteren Unfällen.
  • In den USA hat es sich bewährt, zu Spitzenzeiten in den kritischen Bereichen des Autobahnnetzes Abschleppwagen bereitzustellen oder im Netz patrouillieren zu lassen, die im Falle von Havarien kurzfristig zur Stelle sind, um beschädigte Fahrzeuge zu beseitigen.
  • In den USA hat es sich auch bewährt, gezielt Strategien und Techniken zu entwickeln, verunglückte Schwerfahrzeuge innerhalb kürzester Zeit zu bergen. Dabei kommt es auch in Betracht, die Fahrzeuge zunächst außerhalb des Verkehrsraums abzusetzen und erst in nachfolgenden Schwachlastzeiten zu entfernen.
  • Von einigen Behörden ist auch schon erwogen worden, Unfallverursacher oder Halter von Pannenfahrzeugen mit einer Gebühr zu belasten, die sich nach den volkswirtschaftlichen Schäden der verursachten Staus richtet. Davon wird eine stärker sicherheitsorientierte Verhaltensweise der Fahrer sowie die Verwendung technisch zuverlässiger Fahrzeuge durch die Halter – insbesondere von Lkw – und damit eine Vermeidung von Staus erwartet.
  • Für die Behandlung liegen gebliebener Fahrzeuge, hier vor allem Lkw werden seitens der Polizei durchgreifendere Kompetenzen benötigt (das heißt sofortiges Abschleppen statt vergeblicher Reparaturversuche vor Ort).

5.5 Verkehrssteuerung

Es ist eigentlich ein Unding, dass die öffentliche Hand einerseits mit großem Aufwand Straßen als leistungsfähige Verkehrswege schafft, dass sie aber deren Betrieb weitgehend sich selbst überlässt. Diese „Selbstorganisation“ führt nicht zu optimalen Zuständen, weil den Fahrern die Informationen für ein optimiertes Verhalten fehlen und weil es für das gesamte Verkehrsgeschehen nicht optimal ist, wenn alle einzelnen Verkehrsteilnehmer ihren Vorteil suchen. Eine intensivierte Steuerung des Betriebs auf den Straßen – hier vor allem den Autobahnen – dient dazu, volkswirtschaftliche Nachteile zu vermeiden, die aus ineffizienten Betriebsformen entstehen.

Für das Netz der Hochleistungsstraßen werden deshalb Kontrollzentren benötigt, die

  • Einrichtungen der Verkehrssteuerung effizient einsetzen,
  • Störungen kurzfristig erkennen,
  • Maßnahmen zur Vermeidung von Folgen der Störungen ergreifen.

Diese Kontrollzentren benötigen dazu unmittelbaren und koordinierten Zugriff auf

  •  Verkehrseinsatzkräfte der Polizei,
  •  Rettungsdienste,
  •  Betriebseinrichtungen und Personal der Straßenbauverwaltung.

Solche Zentren sind in den Ländern in unterschiedlicher Art verwirklicht. Hier liegt für die Autobahnen aber noch ein erhebliches Potenzial, das zur Verbesserung der Zuverlässigkeit des Betriebs mobilisiert werden kann.

Die hier aufgezählten Maßnahmen stellen nur einen Ausschnitt aus den denkbaren Möglichkeiten dar.

6 Fazit

  • Die Zuverlässigkeit ist das zusammenfassende Merkmal für die Qualität des Verkehrsablaufs auf allen Verkehrswegen.
  • Die Zuverlässigkeit des Verkehrs ist das eigentliche Ziel, dessen möglichst weitgehendes Erreichen die Verkehrsteilnehmer, die Politiker und die Planer für die Verkehrssysteme anstreben oder anstreben sollten.
  • Die Zuverlässigkeit wird durch eine gute Infrastruktur, durch gute Fahrer (Erziehung, Information, Verkehrsüberwachung, Öffentlichkeitsarbeit), durch die Steuerung und Organisation (einschließlich rechtlicher Aspekte) und durch hohe Verkehrssicherheit erreicht.
  • Die Bedeutung des Betriebs auf den Straßen muss an die erste Stelle rücken. Der Bau der Infrastruktur, der vielfach als erstrangig behandelt wird, dient lediglich der einwandfreien Betriebsdurchführung.
  • Dieses übergeordnete Ziel der Zuverlässigkeit integriert die unterschiedlichen Konzepte der an der Gestaltung des Verkehrs beteiligten Stellen, wie Bau, Verkehrstechnik oder rechtliche Aspekte zu einem gemeinsamen Maßstab. Die gemeinsame Ausrichtung an diesem Ziel verbessert die Ausnutzung der verfügbaren Ressourcen.
  • Unter dem Ziel der Zuverlässigkeit des Verkehrs werden völlig unterschiedliche Lösungsansätze – von der baulichen Gestaltung über die Verkehrstechnik bis zu rechtlichen und organisatorischen Maßnahmen – hinsichtlich ihres Erfolgs miteinander vergleichbar. So sollte dieses Ziel die Basis der Priorisierung und Rechtfertigung verschiedener Maßnahmen, zum Beispiel auch beim Bundesverkehrswegeplan, werden.
  • Die Zuverlässigkeit des Verkehrs ist ein Motto, dass alle Verantwortlichen zu einer abgestimmten und engagierten Vorgehensweise motivieren kann.