FGSV-Nr. FGSV 002/96
Ort Stuttgart
Datum 16.03.2011
Titel Annäherung an das dynamische Systemoptimum mit Hilfe von Einzelfahrzeuginformationen
Autoren Prof. Peter Wagner, Dr. Yun-Pang Flötteröd, Dr. Michael Behrisch
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Der Verkehr in einem gegebenen Untersuchungsgebiet organisiert sich selbst in eine Annäherung an das sogenannte Nutzeroptimum. Im Widerspruch dazu steht die Forderung von Verkehrsmanagern, ein Systemoptimum zur besten Nutzung der vorhandenen verkehrlichen Ressourcen anzustreben. In der Praxis ist es wegen der sich ständig verändernden Verkehrszustände schwierig, Kantenwiderstandsfunktionen zu bestimmen. Heutzutage können viele Verkehrsinformationen mittlerweile direkt von Meldefahrzeugen erfasst werden. Daraus können viele zeitabhängige Informationen abgeleitet werden. In dieser Arbeit wird untersucht, ob und wie man auf einfache Weise ein Systemoptimum mit Hilfe einer mikroskopischen Simulation berechnen kann und welches Ausmaß an Informationen zur Annäherung an ein Systemoptimum erforderlich ist.

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1 Einleitung

Der Verkehr in einem gegebenen Untersuchungsgebiet organisiert sich selbst in eine Annäherung an das sogenannte Nutzeroptimum (1. Prinzip von Wardrop 1952, [1]): Die Mehrzahl der Fahrer versucht bei ihren Reisen, die für sie günstigsten Routen zu benutzen, um ihre Reisekosten zu minimieren, wobei Reisekosten üblicherweise als Reisezeit modelliert werden. Im Gegensatz streben Verkehrsmanager ein Systemoptimum zur besten Nutzung der vorhandenen verkehrlichen Ressourcen an, also die Bewertung der gesamten Reisekosten in einem Untersuchungssystem (2. Prinzip von Wardrop). In einem Systemoptimum wird die Summe der Reisezeiten aller Fahrer minimiert. Es wurde von vielen Forschern (siehe z.B. Chow 2007, [2] und Ghali und Smith 1995, [3]) darauf hinwiesen, dass es in der Praxis sehr schwierig ist, ein Systemoptimum in einem Verkehrssystem zu realisieren: dies gilt aufgrund der dynamischen Faktoren, z.B. der Fahrdynamik und der dynamischen Abfahrzeiten der Fahrer. Davon unbenommen bleibt die grundsätzliche Möglichkeit, ein Systemoptimum in einem System anzunähern, unverändert bestehen.

Aufgrund der hohen Bedeutung von Aspekten wie der Berücksichtigung der Fahrdynamik, des Fahrverhaltens und der dynamischen Interaktion zwischen den Fahrern und der Infrastruktur, findet die mikroskopische Verkehrsmodellierung immer häufiger Anwendung. Dadurch stehen viele Einzelfahrzeuginformationen zur Verfügung. Es ergibt sich dann die Frage ob und wie man auf einfache Weise ein Systemoptimum mit Hilfe einer mikroskopischen Simulation berechnen kann und welches Ausmaß an Informationen zur Annäherung an ein Systemoptimum erforderlich ist. In dieser Arbeit wird ein mikroskopisches Simulationstool SUMO (SUMO 2002, [4]) benutzt, um Einzelfahrzeuginformationen zu generieren.

2 Problemstellung

Beim Systemoptimum ist die Minimierung der Summe der Reisezeiten in einem Verkehrssystem erreicht. Dies Ziel kann als Zielfunktion mathematisch dargestellt werden (Sheffi 1985, [5]).

Formel (1), (2) und (3) siehe PDF.

In der Verkehrssimulation sind die Nebenbedingungen (2) und (3) sichergestellt. Deshalb kann die Minimierungslösung durch die erste Ableitung von z(q) bestimmt werden. Der Wert der ersten Ableitung lautet dann

Formel (4) siehe PDF.

Die Zielfunktion des Systemoptimums kann wie folgt dargestellt werden.

Formel (5) siehe PDF.

Demzufolge sind bei einem Systemoptimum nicht nur die gesamten Reisezeiten zu minimieren, sondern auch andere Reisezeiten, die aus der ersten Ableitung der jeweiligen Kantenwiderstandsfunktionen, d. h. Marginalkostenfunktionen, bestehen. Anhand der Marginalkostenfunktionen werden entsprechende marginale Kosten qa (dta(qa)/dqa) abgeleitet, wobei die marginalen Kosten sich auf die Kosten beziehen, die durch die Anwesenheit eines zusätzlichen Fahrers auf einer Kante entstehen. Der Term qa (dta(qa)/dqa) dient dazu die Richtung der Lösungssuche zu beeinflussen, d.h. er hilft frühzeitig zu vermeiden, dass die Verkehrsnachfrage auf die (fast) überlasteten Kanten umgelegt wird, da er die Kosten zusätzlich erhöht und so die Routenwahl in die „richtige“ Richtung steuert. Diese anhand der ersten Ableitung getroffenen Entscheidungen des Verfahrens zur besten Suchrichtung können als Vorgehen im Sinne eines Gradientenabstiegsverfahrens aufgefasst werden. Dies kann dabei helfen, die Minimierungslösung effizienter zu bestimmen.

In der Praxis ist es wegen der sich ständig verändernden Verkehrszustände schwierig, Kantenwiderstandsfunktionen zu bestimmen. Bild 1 zeigt beispielsweise die gesammelten Daten von Meldefahrzeugen. Hier ist deutlich zu sehen, dass die Reisezeiten an einer Kante eine starke Streuung aufweisen können und dass eine unterstellte Abhängigkeit der Reisezeit von der Nachfrage nicht unbedingt deutlich zutage treten muss. Daneben ist es sehr zeit- und kostenaufwendig, die Modellparameter zu kalibrieren und zu validieren, wenn Kantenwiderstandsfunktionen bestimmt werden sollen. Daher werden in dieser Arbeit keine Kostenfunktionen in geschlossener Form ermittelt, sondern direkt die Messwerte verwendet. Dies geschieht in dem Wissen darum, dass eventuelle Nichtmonotizität dazu führt, dass das Systemoptimum nicht erreicht werden kann.

Bild 1: Reisezeit versus Verkehrsstärke für mehrere Abschnitte der Aachener Straße in Köln

3 Konzept

Wie in der Einleitung beschrieben, können viele Verkehrsinformationen mittlerweile direkt von Meldefahrzeugen erfasst werden. Daraus können viele zeitabhängige Informationen, wie z.B. die Zeitpunkte, wann ein Fahrzeug in eine Netzkante einfährt oder aus einer Kante herausfährt sowie Informationen zur benutzten Route, abgeleitet werden. Demgemäß können an jeder Kante marginale Kosten (marginale Reisezeiten) berechnet werden. So kann vorausgesetzt werden, dass die Ankunfts- und Abfahrtrate gegeben sind, die jeweils als blaue Linie und als orangefarbene Linie in Bild 2. dargestellt sind. Die Änderung der Anzahl der Fahrzeuge über die Zeit kann so als Diagramm ermittelt werden (siehe Bild 2). Der blaue Bereich ist die Verzögerungszeit, die die Fahrer an der entsprechenden Kante erfahren. Der gelbe Bereich sind die durch zusätzliche Fahrzeuge verursachten marginalen Reisezeiten an der Kante.

Bild 2: Verhältnis zwischen den marginalen Reisezeiten und den Verzögerungszeiten

Demzufolge können die von jedem Fahrzeug verursachten marginalen Reisezeiten anhand der folgenden Formel berechnet werden.

Formel (6) siehe PDF.

Darüber hinaus können durchschnittliche Marginalreisekosten auf Kantenebene berechnet werden. Um den Aufwand der Datenprozessierung zu verringern, werden Reisezeiten bei jedem vorgegebenen Intervall statt bei jedem Zeitstempel aktualisiert. Anhand der Zeitpunkte, zu denen die Fahrzeuge in die Kanten einfahren und von den Kanten ausfahren, werden durchschnittliche Kantenreisezeiten in jedem Intervall abgeleitet. Sobald die Reisezeiten an den Kanten größer als die bei den jeweiligen Wunschgeschwindigkeiten sind, tritt eine Verzögerung auf und die entsprechenden Marginalreisekosten werden kalkuliert. Die aktuellen Reisezeiten und marginalen Reisezeiten an den Kanten werden dann zur Routensuche benutzt.

Die Berechnung der Reisezeiten zum n-ten Iterationsschritt erfolgt mit der Methode der sukzessiven Mittelwerte (Method-of-Successive-Averages ― MSA).

Formel (7) siehe PDF.

Hierbei ist tn die im n-ten Iterationsschritt (Simulation) tatsächlich gefahrene Reisezeit, und,ṫn die entsprechend gemittelte Reisezeit, jeweils für die betreffenden Routen. Damit ist garantiert, dass das Verfahren auch tatsächlich konvergiert, darüber hinaus reduziert sich damit die Schwankung der Reisezeiten der Fahrer aufgrund der stochastischen Effekte.

4 Fallbeispiel

Um die im Abschnitt „Konzept“ beschriebene Methode zu bewerten, wurde sie mit einem virtuellen kleinen Netz, das aus zwei Routen und einer Verkehrsbeziehung mit der Nachfrage in Höhe von 1450 Fzg/h besteht, durchgeführt und überprüft. Dabei liegt eine Lichtsignalanlage mit einem festen Signalzeitplan an der Kreuzung 2. Dieses Untersuchungsnetz wurde mit SUMO erstellt und ist im Bild 3 dargestellt.

Weiterhin wurden für die Kanten des Testnetzes Kantenwiderstandsfunktionen als Referenzbasis erstellt, dabei kam Curve-Fitting unter Verwendung von Spline - Funktionen zum Einsatz (siehe Bild 3). Für die Kante „out“ wurde allerdings keine Widerstandsfunktion erstellt, da sie eine Austrittskante ist und hier auch keine Reisezeit berechnet wird.

Bild 3: Darstellung des Untersuchungsnetzes und der Kantenwiederstandsfunktionen

Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse anhand der Kantenwiderstandsfunktionen und der mikroskopischen Simulation. Mit den Kantenwiderstandsfunktionen können die optimalen Lösungen jeweils nach dem Nutzeroptimum (UE) und dem Systemoptimum (SO) abgeleitet werden. Es zeigt sich, dass bei einem SO im Vergleich zum UE geringere gesamte Reisezeiten erreicht werden. Auch verteilen sich die Verkehrsflüsse an den Routen bei Verfolgung der beiden Optimierungsprinzipien unterschiedlich.

Bei der mikroskopischen Simulation wurde das Nutzeroptimum nach Gawron (Gawron 1998, [6]), das in SUMO implementiert wurde, verwendet. Dabei wurde auch das Routenwahlmodell von Gawron benutzt. Im Vergleich dazu findet das Systemoptimum nach dem hier vorgeschlagenen Verfahren mit dem Logit-Routenwahlmodell (Sheffi 1985, [5]) Anwendung. 50 Iterationen wurden durchgeführt. Um ein stabiles Ergebnis zu erhalten, wurde der Mittelwert der gesamten Reisezeiten in den letzten zehn Iterationen als Endergebnis benutzt. Die Simulationsergebnisse sowohl nach dem Nutzeroptimum als auch nach dem Systemoptimum mit zwei Aktualisierungsintervallen der Kantenreisezeiten (1800, 3600 s) entsprechen dem anhand der Kantenwiderstandsfunktionen erzielten Ergebnis und weisen dabei aber geringere Gesamtreisezeiten auf. Der Grund liegt im Wesentlichen in den genauen Reisezeitinformationen, die direkt in der Simulation gemessen wurden. Des Weiteren zeigt sich, dass sich beim Systemoptimum die gesamten Reisezeiten zwischen verschiedenen Aktualisierungsintervallen nicht wesentlich voneinander unterscheiden, den die Routenwahl in diesem kleinen Untersuchungsnetz ist eingeschränkt, da nur zwei Routen zur Verfügung stehen. Eine analoge Aussage kann von den Ergebnissen zum Nutzeroptimum abgeleitet werden.

Tabelle 1: Gesamte Reisezeiten anhand des Nutzer- und des Systemoptimums

Beim Experiment hat sich allerdings gezeigt, dass eine häufige Aktualisierung der Reisezeiten an den Kanten nicht unbedingt zur Verbesserung führt. Der Grund hierfür kann darin liegen, dass die Kantenreisezeiten bei einem kurzen Intervall wegen der Ampelschaltung und der sich verändernden Anzahl der Fahrzeuge, die sich in dem betrachteten Intervall befinden, stärker schwanken. Demzufolge reagiert die Routenwahl sensibel auf die stärkere Schwankung der Reisezeit.

5 Schlussbemerkung und Überblick

Die Experimente zeigen, dass das beschriebene Verfahren, welches lediglich auf den Informationen der Einfahrt- und Ausfahrtzeiten an den Kanten basiert, mit einem kleineren Testnetz sehr wohl in der Lage ist, sich dem Systemoptimum anzunähern. Um das Verfahren weiter zu überprüfen und die entsprechende Güte zu verifizieren, wird gerade eine weitere Bewertung unter Verwendung eines realitätsnahen Netzes mit mehreren Verkehrsbeziehungen und einer komplexeren Netzstruktur durchgeführt. Weiterhin ist es wichtig zu untersuchen, wie die Aktualisierung der Reisezeiten die gesamten Reisezeiten beeinflusst und welche zusätzlichen Informationen für ein komplexeres Netz erforderlich sind.

6 Literatur

[1]  WARDROP, J. G. (1952). Some theoretical aspects of road traffic research. Proceedings of the Institute of Civil Engineers, Vol 1, 325-378.

[2]  CHOW, A.H.F. System optimal traffic assignment with departure time choice. Doctoral thesis, University of London, 2007.

[3] GHALI, M. und SMITH, M. (1995). A model for the dynamic system optimum traffic assignment problem. Transportation Research Part B. Vol. 29B, No. 3, pp. 155-170.

[4] SUMO (2002) http://sourceforge.net/

[5] SHEFFI, Y. (1985). Urban transportation networks: equilibrium analysis with mathematical programming methods, Englewood Cliffs, New Jersey, Prentice Hall.

[6] Gawron, C. Simulation-Based Traffic Assignment – Computing User Equilibria in large Street Networks"; Doctoral thesis, University of Cologne, 1998.