FGSV-Nr. FGSV 001/29
Ort Bonn
Datum 23.10.2024
Titel Was beeinträchtigt die Beförderungsgeschwindigkeit im ÖPNV? – Ein neues Verfahren zur Bewertung der Angebotsqualität
Autoren Univ.-Prof. Dr.-Ing. Carsten Sommer, Dr. Dipl.-Math. Ramón Briegel, Andreas Schmidt
Kategorien Kongress
Einleitung

Der Öffentliche Verkehr (ÖV) ist das Rückgrat und wesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen Mobilität. Umwelt- und klimapolitische Ziele sowie die Sicherstellung sozialer Teilhabe von Personen ohne Pkw können ohne öffentliche Verkehrsdienstleistungen nicht erreicht werden. Da die Reisezeit und ihre Zuverlässigkeit zu den wichtigsten Faktoren bei der Verkehrsmittelwahl zählen, sind Maßnahmen zur Beschleunigung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) wie z. B. die Einrichtung eines ÖPNV-Sonderfahrstreifens von hoher Relevanz. Um die erwartete und die erzielte Wirkung von ÖV-Beschleunigungsmaßnahmen abschätzen zu können, sind geeignete Verfahren notwendig.

Mit der Überarbeitung des Handbuchs für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS) von 2015 wurde im Kapitel S7 erstmals ein Verfahren zur geschwindigkeitsbezogenen Angebotsqualität im ÖPNV in das Regelwerk aufgenommen, das die zu erwartende Betriebs- bzw. Verkehrsqualität bewertet, die dem ÖPNV bei der Planung neuer oder veränderter Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird. Das Verfahren weist allerdings einige Unzulänglichkeiten auf, die zu einer geringen Akzeptanz in der Praxis geführt haben.

Ausgehend von den Defiziten des aktuellen Verfahrens hat die Bundesanstalt für Straßenwesen im Rahmen des Forschungsprogramms Stadtverkehr (FoPS) das Forschungsprojekt „Qualitätsgerechte Bewertung der LSA-Steuerung für den ÖPNV“ beauftragt, das entsprechende Handlungsempfehlungen für das HBS liefern soll. Im vorliegenden Beitrag werden die Verbesserungen des Verfahrens beschrieben, die im Rahmen dieses Forschungsprojektes erarbeitet wurden. Methodische Grundlagen waren im Wesentlichen eine Literaturanalyse, ein Expertenworkshop mit Verkehrsunternehmen und Kommunen als Anwender sowie detaillierte Messungen von Fahr- und Verlustzeiten. Als Ergebnis des Projekts wurde ein konkreter Formulierungsvorschlag für die Überarbeitung des Kapitels S7 vorgelegt, der inzwischen im Abstimmungs- und Diskussionsprozess im FGSV-Arbeitsausschuss 3.13 weiterentwickelt wurde. Neu ist im überarbeiteten Verfahren, dass neben der Planung neuer und dem Umbau vorhandener Anlagen zwei weitere Anwendungsfälle untersucht werden können, und zwar die Planung neuer Linien auf bestehenden Anlagen sowie die Qualitätssicherung im Bestand. Neu ist ebenfalls, dass Messdaten wie zum Beispiel die bei vielen Verkehrsunternehmen vorliegenden ITCS-Daten im Standardverfahren genutzt werden können. Das Kapitel S7 liefert dafür Vorgaben und Anforderungen an die Detaillierung und Qualität von Messdaten.

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1 Ausgangslage
1.1 Bedeutung der Reisezeit

Die Reisezeit und ihre Zuverlässigkeit zählen zu den wichtigsten Faktoren bei der Verkehrsmittelwahl (vgl. u. a. Richter 2014, Redman, Friman et al. 2013). Daher spielt die Reisezeit auch bei der Wirkungsabschätzung und Bewertung von Angebotsmaßnahmen eine große Rolle (vgl. FGSV 2022, Intraplan, VWI 2023). Maßnahmen zur Beschleunigung des ÖPNV, beispielsweise die Einrichtung von ÖPNV-Sonderfahrstreifen oder LSA-Bevorrechtigungen, führen in der Regel zu einer Verringerung der Fahrzeit und einer höheren Pünktlichkeit. So konnte beispielsweise im Bielefelder Stadtbahnnetz durch mehrere Beschleunigungsmaßnahmen auf einem etwa zwei Kilometer langen Streckenabschnitt 17 % der Fahrzeit eingespart werden (VDV 2000). Im Frankfurter Busnetz führte die Einrichtung eines 672 m langen Bussonderfahrstreifens zu einer Verringerung der Fahrzeit von fünf auf zwei Minuten im nachmittäglichen Berufsverkehr. Zusätzlich erhöhte sich die Pünktlichkeit im gesamten Tagesverlauf (Gäbel, Reinhold 2021).

Unterstellt man die in der standardisierten Bewertung verwendete Reisezeitelastizität von - 0,8 im ÖPNV, ergibt sich bei der Reduzierung der Reisezeit um 5 % eine zusätzliche Nachfrage um 4 % auf der betrachteten Relation. Beschleunigungsmaßnahmen sind daher ein wichtiger Baustein für die Attraktivitätssteigerung des ÖPNV und eine höhere Kundenzufriedenheit.

Im Gegensatz zu Attraktivitätssteigerungen durch zusätzliche Angebote (z. B. höhere Bedienungshäufigkeit, neue Linien) können durch eine Beschleunigung des ÖPNV auch Betriebskosten eingespart werden. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen durch kürzere Umlaufzeiten weniger Fahrzeuge erforderlich sind. Bei wettbewerblich vergebenen Verkehrsverträgen können darüber hinaus eingesparte Fahrplanminuten zu einer direkten Kostenersparnis beim Aufgabenträger führen, wie das Beispiel Frankfurt zeigt. Bei etwa der Hälfte der Busleistungen in Frankfurt werden die Unternehmen nach einem Kostensatz bezahlt, „in den neben den gefahrenen Kilometern und Fahrzeugkosten auch die Fahrplanstunden explizit als eigener Kostenblock einfließen.“ (Gäbel, Reinhold 2021).

Trotz dieser hohen Relevanz von Reisezeit und Pünktlichkeit existiert erst seit 2015 ein in den Regelwerken verankertes Verfahren, mit dem die geschwindigkeitsbezogene Angebotsqualität von ÖV-Netzabschnitten bewertet werden kann.


1.2 Verfahren zur Bewertung der geschwindigkeitsbezogenen Angebotsqualität

Mit der Überarbeitung des Handbuchs für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS) von 2015 wurde im Kapitel S7 erstmals ein Verfahren zur geschwindigkeitsbezogenen Angebotsqualität im ÖPNV in das Regelwerk aufgenommen, das die zu erwartende Betriebs- bzw. Verkehrsqualität bewertet, die dem ÖPNV bei der Planung neuer oder veränderter Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird (FGSV 2015). Bei diesem Verfahren wird die unter den gegebenen baulichen und betrieblichen Bedingungen zu erwartende mittlere Beförderungsgeschwindigkeit der sogenannten idealen Beförderungsgeschwindigkeit gegenübergestellt. Die ideale Beförderungsgeschwindigkeit ist die Geschwindigkeit, die unter idealisierten, vollkommen behinderungsfreien Bedingungen erreichbar wäre. Sie hängt i. W. von den Haltestellenaufenthaltszeiten und den maximal erreichbaren Geschwindigkeiten des zu untersuchenden Netzabschnitts ab; Verlustzeiten an Knotenpunkten und auf der Strecke treten bei idealem Fahrtverlauf nicht auf. Die ideale Beförderungsgeschwindigkeit ist daher nicht zu vergleichen mit der Geschwindigkeit, die sich aus dem Soll-Fahrplan ergibt, da im Soll-Fahrplan bereits Verlustzeiten berücksichtigt werden.

Als Kriterium für die Bewertung wird der Quotient aus der während der Bemessungsstunde zu erwartenden mittleren Beförderungsgeschwindigkeit und der idealen Beförderungsgeschwindigkeit verwendet; dieser Quotient wird als Beförderungsgeschwindigkeitsindex bezeichnet. Zur Bewertung der geschwindigkeitsbezogenen Angebotsqualität wird dieser Index in verschiedene Stufen der Angebotsqualität (SAQ) unterteilt, ähnlich den Qualitätsstufen des Verkehrsablaufs (QSV) im Kfz-Verkehr (Tabelle 1).

Tabelle 1: Stufen der Angebotsqualität in Abhängigkeit des Beförderungsgeschwindigkeitsindex, Quelle: FGSV (2015)

Das Verfahren nach Kapitel S7 weist eine Reihe von Unzulänglichkeiten auf, die dazu führen, dass es in der Praxis der Verkehrsunternehmen und Kommunen bisher kaum angewendet wird: Streckencharakteristika wie Kurven und Steigungen werden nicht berücksichtigt. Das Verfahren ist nur für eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 oder 70 km/h anwendbar. Verbreitete verkehrstechnische Infrastrukturelemente wie verkehrsabhängig gesteuerte Lichtsignalanlagen sind ausgeschlossen. Die für die Anwendung des Verfahrens erforderlichen verkehrstechnischen Daten sind häufig nicht verfügbar. Das Verfahren ist ausschließlich für die Anwendung bei der Planung neuer Infrastruktur gedacht und geeignet; aus der Praxis wird jedoch der Wunsch nach einem Bewertungsinstrument für die Qualitätssicherung im Bestand vorgebracht.

Vor diesem Hintergrund haben die Autoren im Rahmen des Forschungsprojektes „Qualitätsgerechte Bewertung der LSA-Steuerung für den ÖPNV“ (FE 77.0520/2019) Vorschläge für eine Verbesserung des Regelwerks erarbeitet. Das Forschungsprojekt wurde im Rahmen des Forschungsprogramms Stadtverkehr (FoPS) durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) gefördert und von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) fachlich und organisatorisch betreut. Die im Folgenden genannten Ergebnisse basieren auf dem Schlussbericht des Forschungsprojektes (Schmidt, Briegel et al. 2023); Abweichungen zum Schlussbericht resultieren aus dem Abstimmungs- und Diskussionsprozess innerhalb des FGSV-Arbeitsausschusses 3.13 „Qualität des Verkehrsablaufes“.

2 Untersuchungsmethodik

Neben einer Analyse der einschlägigen Regelwerke und Literatur wurden für eine Mängelanalyse des bisherigen Verfahrens zunächst die Erfahrungen und Anforderungen aus der Praxis der Verkehrsunternehmen und Kommunen in einem Expertenworkshop erhoben. Bei der Auswahl der Teilnehmenden wurde auf eine Abdeckung unterschiedlicher Rahmenbedingungen wie Größe der Stadt, städtischer vs. regionaler Verkehr, Bus vs. Straßenbahn usw. geachtet. Parallel wurden auf einer Buslinie der SWK MOBIL Krefeld räumlich und zeitlich sehr detaillierte Messungen von Fahrzeiten und Verlustzeiten verschiedener Art (an Lichtsignalanlagen, durch parkende Kfz etc.) durchgeführt und ausgewertet. Damit wurden verschiedene Zwecke verfolgt, u. a.: Aufnahme der Streckenmerkmale einschließlich der zulässigen Höchstgeschwindigkeiten und der realistisch erreichbaren Geschwindigkeiten, um die Voraussetzungen für eine Anwendung des Verfahrens über beliebige Linienabschnitte oder gesamte Linienverläufe zu bewerten. Prüfung der Realitätsnähe der in Kapitel S7 angegebenen Richtwerte für Beschleunigung und Verzögerung, die bei der Berechnung der idealen Beförderungsgeschwindigkeit verwendet werden. Schaffung einer Datengrundlage für eine beispielhafte Neuberechnung der idealen Beförderungsgeschwindigkeit gemäß den vorgeschlagenen Verbesserungen des Berechnungsverfahrens.

Zusätzlich wurden Messdaten weiterer Verkehrsunternehmen (VAG Nürnberg, Hamburger Hochbahn, Kölner Verkehrs-Betriebe) herangezogen, die jedoch weniger detailliert sind.

Anhand der gewonnenen Erkenntnisse und Daten wurden Ansätze für die Verbesserung des Kapitels S7 abgeleitet. Diese Ansatzpunkte wurden zunächst anhand der Kriterien Breite der Anwendungsmöglichkeiten, praktische Eignung, erreichbare Genauigkeit, Klimawirkung sowie Kompatibilität mit den bisherigen Verfahren bewertet. Für die abschließende Bewertung und Überarbeitung der identifizierten Verbesserungsansätze wurden diese in einem weiteren Expertenworkshop mit den Fachleuten aus der Praxis diskutiert. Als Ergebnis des Projekts wurde ein konkreter Formulierungsvorschlag für die Neufassung des Kapitels S7 des HBS erarbeitet. Aus Kompatibilitätsgründen wird zusätzlich eine Anpassung des Kapitels S4 vorgeschlagen.


3 Untersuchungsergebnisse
3.1 Mängelanalyse

Einschränkungen der Anwendbarkeit des Kapitels S7 des HBS ergeben sich aus unterschiedlichen Gründen, die in den folgenden Unterabschnitten zusammengefasst sind.

Verweise auf andere Kapitel des HBS

Zahlreiche Verweise in Kapitel S7 auf die Kapitel S3 bis S5 schränken aufgrund der dort genannten Anwendungsausschlüsse auch die Anwendbarkeit des Kapitels S7 ein. Dies betrifft insbesondere die weitverbreiteten verkehrsabhängigen Steuerungen von Lichtsignalanlagen.

Mangelnde Datenverfügbarkeit

Die für die Berechnung der zu erwartenden Beförderungsgeschwindigkeit notwendigen Daten sind in vielen Fällen nicht verfügbar oder nur mit hohem Aufwand zu gewinnen.

Inhärente Mängel des Verfahrens aus Kapitel S7

Das Kapitel S7 ist aktuell nur für die Planung und nicht für die Qualitätssicherung konzipiert, obwohl in der Praxis ein geeignetes Verfahren zur Qualitätssicherung vorhandener ÖV-Netzabschnitte gewünscht wird. Dementsprechend wird im bisherigen Verfahren des Kapitels S7 nicht nach unterschiedlichen Anwendungsfällen differenziert. Mit den Anwendungsfällen Qualitätssicherung und Planung sind jedoch unterschiedliche Anforderungen verbunden, wie auch im Expertenworkshop betont wurde. Insbesondere für den Anwendungsfall Qualitätssicherung im Bestand ist die Verwendung von Messdaten zentral, die im bisherigen Kapitel S7 jedoch nur als Sonderfall (unter „alternative Verfahren“) behandelt wird. Hierbei fehlen Spezifikationen für die Anforderungen an die Detaillierung und Qualität von Messdaten.

Die bisherige Definition der Abschnitte, die sich an der Mitte von Knotenpunkten orientiert, ist aus der Perspektive des ÖPNV ungeeignet; hier sind die Haltestellen die sachgerechten Gliederungspunkte für den Beginn und das Ende von Abschnitten bzw. den Übergang von Abschnitt zu Abschnitt.

Das Verfahren im Kapitel S7 setzt als zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 oder 70 km/h voraus. Somit ist das Verfahren nicht anwendbar bei anderen zulässigen Höchstgeschwindigkeiten (insbesondere 30 km/h); es fehlt aber auch eine Berücksichtigung von Änderungen der erreichbaren Geschwindigkeit im Streckenverlauf aufgrund wechselnder Streckencharakteristika wie Kurvenfahrten (inklusive Kreisverkehre und Abbiegevorgängen), Engstellen und Ähnliches.

3.2 Verbesserungsvorschläge für das Kapitel S7 des HBS

Die erarbeiteten Vorschläge zielen auf die Beseitigung der oben genannten Mängel. Daraus ergeben sich folgende wesentlichen Ansatzpunkte für Verbesserungen: Differenzierung der unterschiedlichen Anwendungsfälle mit Berücksichtigung ihrer spezifischen Anforderungen. Definition der Abschnitte passend zur Perspektive des ÖPNV. Detailliertere Berücksichtigung von Änderungen der Streckencharakteristika, die sich auf die maximal erreichbare Geschwindigkeit auswirken. Anpassung der Richtwerte für die Beschleunigung und die Haltestellenaufenthaltszeit aufgrund entsprechender Messergebnisse einschließlich einer erweiterten Betrachtung der Haltestellenaufenthaltszeit durch die Einbeziehung von unvermeidlichen Reaktionszeiten sowie technisch bedingten Zeiten (z. B. für das Ausfahren einer Trittstufe). Beseitigung der Anwendungsausschlüsse, wo möglich, insbesondere für verkehrsabhängige Steuerungen von Lichtsignalanlagen. Spezifikation von Anforderungen an die Detaillierung und Qualität von Messdaten, um deren regelmäßige Verwendung im Rahmen des neu formulierten Kapitels S7 zu ermöglichen.

Die Vorschläge werden im Folgenden erläutert.

Differenzierung der Anwendungsfälle

Das Verfahren unterscheidet drei Anwendungsfälle: 1. Planung neuer und Umbau vorhandener Anlagen: Die geschwindigkeitsbezogene Angebotsqualität bildet bei diesem Anwendungsfall die Grundlage für die Dimensionierung und Bemessung der neu- bzw. umgebauten Infrastrukturanlagen aus Sicht des ÖPNV. 2. Planung neuer Linien bzw. Linienabschnitte auf bestehenden Anlagen: Die geschwindigkeitsbezogene Angebotsqualität ist in diesem Anwendungsfall ein wichtiger Indikator bei der Anpassung und Bewertung der LSA-Steuerungen. Darüberhinaus kann der Anwendungsfall zur Planung der Fahrzeitvorgaben genutzt werden. Wenn bei der Planung neuer Linien die Infrastruktur angepasst wird – zum Beispiel durch den Umbau von LSA-gesteuerten Knoten zur Bevorrechtigung des ÖPNV –, gilt der Anwendungsfall 1. 3. Qualitätssicherung im Bestand: Die Bewertung der im realen ÖPNV-Betrieb erreichten geschwindigkeitsbezogenen Angebotsqualität erfolgt bei diesem Anwendungsfall bei unveränderter Linienführung auf unveränderter Infrastruktur. Dies dient der regelmäßigen oder anlassbezogenen Prüfung der Frage, ob die gewünschte geschwindigkeitsbezogene Angebotsqualität im ÖPNV-Betrieb tatsächlich erreicht wird.

In allen drei Fällen kann der räumliche Betrachtungsrahmen einzelne Knotenpunkte (ÖV-Netzteilabschnitte), ÖV-Netzabschnitte, längere Linienabschnitte oder ganze Linien umfassen. Tabelle 2 stellt die drei Anwendungsfälle hinsichtlich wesentlicher methodischer Festlegungen gegenüber.

Tabelle 2: Anwendungsfälle und methodische Festlegungen

Bei den Anwendungsfällen der Planung neuer Linien bzw. Linienabschnitte auf bestehenden Anlagen und bei der Qualitätssicherung im Bestand sollen bevorzugt Ergebnisse von Messungen genutzt werden, um die zu erwartenden bzw. tatsächliche Beförderungsgeschwindigkeit zu bestimmen. Messungen bilden die reale Situation ab (inkl. aller Störungen und Verlustzeiten), sodass die Ermittlung der zu erwartenden bzw. tatsächlichen Beförderungsgeschwindigkeit nicht den bisherigen Einsatzgrenzen unterliegt. Zur Ermittlung der zu erwartenden Beförderungsgeschwindigkeit für neue Linien bzw. Linienabschnitte auf bestehenden Anlagen müssen eigene Messfahrten in der Bemessungsstunde unter Betriebsbedingungen durchgeführt werden. Bei bereits bestehenden Linien (Qualitätssicherung im Bestand) können vorhandene (oder noch zu erhebende) Messdaten aus dem laufenden Betrieb (gesamter Bedienungszeitraum) genutzt werden. Falls Messdaten nicht verfügbar sind und nicht mit verhältnismäßigem Aufwand gewonnen werden können, kann die zu erwartende bzw. tatsächliche Beförderungsgeschwindigkeit ersatzweise mithilfe des Berechnungsverfahrens ermittelt werden.

Die Erweiterung der Anwendungsfälle und die Aufnahme eines Messverfahrens als reguläre Option führen auch zu einem erweiterten Kreis von Personen, die das Verfahren anwenden bzw. am Verfahren mitwirken: Je nach Zuständigkeit vor Ort kommen Straßenbaulastträger, Verantwortliche für die LSA-Steuerung, Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen infrage.

Definition der Abschnitte

Grundsätzlich bilden die Haltestellen die Grenzen zwischen den Abschnitten (die zur Unterscheidung von der bisherigen Nomenklatur ÖV-Netzabschnitte genannt werden). Eine feinere Unterteilung in ÖV-Netzteilabschnitte erfolgt überall dort, wo sich wesentliche Streckencharakteristika (zulässige bzw. maximal erreichbare Geschwindigkeit aufgrund von Kurven u. Ä., mittlere Fahrgeschwindigkeit nach Kapitel S3, Führungsform des ÖPNV etc.) ändern (Bild 1). Zusätzlich können Meldepunkte zur Analyse rund um signalgeregelte Knotenpunkte oder sonstige Messpunkte für die Unterteilung in ÖV-Netzteilabschnitte herangezogen werden. Die Haltestellenaufenthaltszeit wird immer zum vorangehenden ÖV-Netzabschnitt gerechnet.

Bild 1: Einteilung ÖV-Netzteilabschnitte bei Mischverkehr und Sonderfahrstreifen

Maximal erreichbare Geschwindigkeit in Kurven

Für die Berechnung der idealen Beförderungsgeschwindigkeit ist im Hinblick auf Sicherheit und Fahrgastkomfort in Kurven (inklusive Kreisverkehre und Abbiegen nach links) die maximal erreichbare Geschwindigkeit durch die maximal zulässige Querbeschleunigung von 0,65 m/s² begrenzt. Demnach ist die maximal erreichbare Geschwindigkeit v(Index err) bei Kurvenradius r und Querneigung q gemäß elementarer physikalischer Gesetze durch folgende Formel gegeben: Formel im PDF.

Dabei ist das Vorzeichen von q negativ zu wählen, falls die Außenseite der Kurve niedriger liegt als die Innenseite; g = 9,81 m/s² ist die Erdbeschleunigung.

Beim Abbiegen nach rechts ist hiervon abweichend die Vorgabe der StVO zu beachten, wonach mit Schrittgeschwindigkeit zu fahren ist.

Anpassung von Richtwerten für Beschleunigung und Haltestellenaufenthaltszeit

Als Richtwert für die mittlere Haltestellenaufenthaltszeit sollen für Busse in städtischen Gebieten 20 s, in ländlichen Gebieten 15 s und für Straßenbahnen grundsätzlich 22 s angesetzt werden. Liegen lokale Messwerte oder zumindest nach Liniencharakteristik und Fahrzeugtyp differenzierte Werte vor, sind diese zu verwenden.

Verkehrsabhängige Steuerungen von Lichtsignalanlagen

Für verkehrsabhängige Steuerungen von Lichtsignalanlagen soll entsprechend dem Verweis auf Kapitel S4 des HBS ein Festzeitmodell verwendet werden, d. h., es wird ein durchschnittlicher Umlauf als Berechnungsgrundlage verwendet. Im Anwendungsfall „Planung einer neuen Linie auf bestehenden Anlagen“ sollen zur Bestimmung der zu erwartenden Beförderungsgeschwindigkeit Test- oder Messfahrten im Realbetrieb durchgeführt werden.

Anforderungen an Messdaten

Als Datenquellen kommen infrage: Leitsysteme (ITCS Intermodal Transport Control System), Funktelegramme zur Anmeldung an Lichtsignalanlagen, spezialisierte Messsysteme sowie manuell erfasste Daten.

Für die Bewertung der Beförderungsgeschwindigkeit müssen Messdaten generell mindestens folgende Detaillierung aufweisen: Ankunftszeit und Abfahrtszeit an den Haltestellen, Fahrgastwechselzeit oder eine Information über die erfolgte Türöffnung bzw. den Halt an der Haltestelle.

Dabei dürfen für die Auswertung nur Fahrten berücksichtigt werden, bei denen an allen Haltestellen (abschnittsbezogen) gehalten wurde und die Türen geöffnet wurden.

Zur Analyse von Verlustzeiten an Lichtsignalanlagen können die Zeitpunkte des Sendens der Funktelegramme zur Anmeldung und Abmeldung des jeweiligen ÖPNV-Fahrzeugs oder die Durchfahrtzeiten an definierten Querschnitten bei der Zufahrt zum Knoten und an der Haltelinie verwendet werden. Die Verlustzeit an den Lichtsignalanlagen ergibt sich aus dem Vergleich von idealer und realer Durchfahrzeit; d. h., es wird nicht allein die Wartezeit betrachtet.

Hinsichtlich der Datenqualität ist auf eine genaue und zuverlässige Lokalisierung zu achten; bewährt hat sich die Verwendung des Wegimpulses (Tachosignals). Eine ausschließlich satellitenbasierte Lokalisierung sollte auf ihre Genauigkeit geprüft werden. Für die Verwendung der An- und Abmeldungen an den Lichtsignalanlagen ist deren hohe Genauigkeit erforderlich. Die Fahrgastwechselzeit ist als Zeit zwischen der ersten Türöffnung und dem letzten Schließen einer Tür an einer Haltestelle definiert, wobei alle Türen zu berücksichtigen sind. Das Schließen der letzten Tür markiert den Beginn eines neuen Linienabschnitts.

Bei der Auswertung der Messdaten sind geeignete Plausibilitätsprüfungen vorzunehmen. Bei einer Untersuchung, die über die Bemessungsstunde hinausgeht, sind die Daten nach Tagesart und Stundengruppe zu schichten. Auf eine gleichmäßige Abdeckung des Analysezeitraums und des Fahrplanangebots ist zu achten.

4 Folgerung für die Praxis

Sowohl die Anwendungsbreite als auch die Anwendungsfreundlichkeit des HBS-Kapitels S7 werden durch die vorgeschlagene Neuformulierung deutlich erweitert, bisherige Ausschlüsse für die Anwendung wurden beseitigt. Insbesondere erlaubt die Neuformulierung die von vielen aus der Praxis gewünschte Anwendung für die Qualitätssicherung im Bestand. Dies kann als Argumentationsgrundlage dienen, um durch Verbesserungen an bestehenden ÖPNV-Anlagen und die Beseitigung von Hindernissen für den ÖPNV-Betrieb eine bestimmte Stufe der geschwindigkeitsbezogenen Angebotsqualität des ÖPNV (SAQ) zu erreichen. Die Grundlagen für die Planung neuer ÖPNV-Infrastruktur und neuer ÖPNV-Linien auf bestehender Infrastruktur werden ebenfalls verbessert.

Damit Messdaten auch tatsächlich genutzt werden können, sollten die für den ÖPNV und die Straßeninfrastruktur (Lichtsignalanlagen) zuständigen Institutionen die Detaillierung und die Qualität der Datenerfassung auf einen Stand bringen, der die Anforderungen des beschriebenen Verfahrens erfüllt (soweit dies noch nicht gegeben ist). Insgesamt kann erwartet werden, dass die erweiterten Anwendungsmöglichkeiten für mehr Akzeptanz des Kapitels S7 in der Praxis und für eine verbesserte Planung und Qualitätssicherung im ÖPNV sorgen werden.

5 Literaturverzeichnis

Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2015): Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen, Ausgabe 2015. FGSV Verlag, Köln.

Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2022): EVNM-PV – Empfehlungen zum Einsatz von Verkehrsnachfragemodellen für den Personenverkehr, Ausgabe 2022. FGSV Verlag, Köln.

Gäbel, L.; Reinhold, T. (2021): Wie Bahn und Bus schneller und pünktlicher werden. Der Nahverkehr, Heft 4/2021, DVV Media Group, Hamburg, S. 52-57.

Intraplan GmbH; VWI GmbH (2023): Standardisierte Bewertung von Verkehrswegeinvestitionen im öffentlichen Personennahverkehr, Version 2016 +.

Redman, L.; Friman, M.; Gärling, T.; Harting, T. (2013): Quality attributes of public transport that attract car users: A research review. In: Transport Policy, Volume 25, January 2013, Elsevier, Pages 119-127.

Richter, C. (2014): Einfluss der Qualität des ÖPNV auf die Verkehrsmittelwahl im Regionalverkehr. Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster, Reihe IV, Band 7, MV-Verlag, Münster.

Schmidt, A.; Briegel, R.; Lambrecht, F.; Sommer, C. (2023): Qualitätsgerechte Bewertung der LSA-Steuerung für den ÖPNV. Abschlussbericht zum Forschungsauftrag FE 77.0520/2019.

Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (2000): Stadtbahnen in Deutschland: innovativ – flexibel – attraktiv, DVV Media Group, Hamburg.