FGSV-Nr. FGSV 002/140
Ort Stuttgart
Datum 13.03.2024
Titel Wirkungen einer pandemiebedingten Schulzeitstaffelung am Beispiel der Stadt Herne
Autoren Prof. Dr.-Ing. Carsten Sommer, Johanna Koch, Lea Fouckhardt, Natalie Schneider, Jutta Henninger
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Kurzfassung

Die Maßnahme der Schulzeitstaffelung wird in der ÖPNV-Branche schon seit längerer Zeit als Lösungsansatz für den kostenintensiven Schülerverkehr angesehen. Allerdings scheitert ihre Umsetzung in der Praxis oftmals aufgrund verschiedener Interessen der betroffenen Akteure. Mit dem Einsetzen der Corona-Pandemie gewann das Thema der Staffelung erneut an Relevanz und wurde unter anderem in der Stadt Herne umgesetzt, um den morgendlichen Schülerverkehr zu entzerren und das Infektionsrisiko zu reduzieren. Das Vorhaben sowie weitere Planfälle wurden im Rahmen des Forschungsprojektes EMILIA an der Universität Kassel auf ihre Wirksamkeit hin untersucht. Dabei konnte herausgefunden werden, dass sich die Staffelung der Unterrichtszeiten im Pandemiefall als eine geeignete Maßnahme erwiesen hat und dazu beiträgt, die Auslastung in den Fahrzeugen und damit verbunden auch das Infektionsrisiko im Vergleich zum Normalbetrieb zu reduzieren, ohne dabei die Kosten zu erhöhen.

PDF
Volltext

Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln. 

1 Anlass und Ziel der Untersuchung

Um die morgendlichen Verkehrsspitzen im ÖPNV zu reduzieren, gilt eine Schulzeitstaffelung als eine geeignete Maßnahme [1]. Das Grundprinzip der Staffelung besteht darin, die Effizienz der Fahrzeugumläufe zu erhöhen, um den Fahrzeugeinsatz wirtschaftlicher zu gestalten. Schon seit geraumer Zeit wird diese Maßnahme als Lösung für den kostenintensiven Schülerverkehr angesehen, deren positive Wirkung auf den Fahrzeugeinsatz und die damit verbunden Kosten bereits nachgewiesen werden konnten [2], [3]. Trotz der nachgewiesenen Vorteile, die diese Maßnahme mit sich bringt, „haben Generationen von Verkehrsplanern […] oft erfolglos“ [4] an ihrer Umsetzung gearbeitet. Dies lässt sich vor allem durch die Vielzahl von Akteuren (i. W. Schüler und Schülerinnen, Eltern, Lehrkräfte, Verkehrsunternehmen, Aufgabenträger) mit teilweise stark unterschiedlichen Interessen begründen [1], [4].

Durch die im Jahr 2020 auftretende Corona-Pandemie und der damit verbundenen Empfehlung, einen Mindestabstand von 1,5 m zu anderen Personen im Sinne des Infektionsschutzes einzuhalten [5], rückte die Schulzeitstaffelung allerdings unter neuen Vorzeichen in den Fokus. Für das Einhalten der empfohlenen Mindestabstände in den Fahrzeugen des ÖPNV sowie auch der Umsetzung des Gebots, die Auslastung der Fahrzeuge auf die „Hälfte der regulär zulässigen Fahrgastzahlen“ [6] zu begrenzen, würden die Verkehrsunternehmen weitere Fahrzeuge benötigen, die in der betrieblichen Praxis allerdings nur selten bis gar nicht zur Verfügung stehen. Das Ziel der Schulzeitstaffelung während der Pandemie war somit nicht, den Fahrzeugeinsatz unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu optimieren, sondern vielmehr eine Entzerrung der Schülerströme, um den pandemiebedingten Empfehlungen bestmöglich gerecht zu werden. So appellierte beispielweise auch der Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) an Ministerien und Behörden, „sich mehr mit der Schülerbeförderung auseinanderzusetzen“ [7] und forderte „einen gestaffelten Unterrichtsbeginn überall dort, wo das möglich und nötig ist“ [7]. Obwohl es zum Zeitpunkt dieser Empfehlung noch keinerlei Erkenntnisse darüber gab, inwiefern diese Maßnahme dazu beitragen kann, die Infektionsgefahr im ÖPNV im Pandemiefall zu reduzieren, wurde die pandemiebedingte Staffelung der Unterrichtszeiten unter anderem in den beiden nordrhein-westfälischen Städten Herne und Essen [8] umgesetzt.

Um die bestehende Wissenslücke über die Eignung einer solchen Maßnahme im Pandemiefall zu schließen und wissenschaftlich fundierte Kenntnisse über die Wirkungen, die mit der Einführung einer solche Maßnahme in Verbindung stehen, gewinnen zu können, wird das Vorhaben in der Stadt Herne als ein Baustein des Forschungsprojekts EMILIA – Entwicklung eines pandemieresistenten ÖPNV – an der Universität Kassel wissenschaftlich begleitet. Das Forschungsprojekt wird vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr mit rund 1,3 Mio. € gefördert.

Das Konzept zur Staffelung in Herne sah vor, dass der Unterrichtsbeginn an den weiterführenden Schulen nach Schulform und Jahrgangsstufen gestaffelt wurde. Während normalerweise bis auf eine Realschule alle weiterführenden Schulen in Herne um 08:00 Uhr mit dem Unterricht begonnen haben, wurde der Unterrichtsbeginn über einen längeren Zeitraum von 07:30 Uhr bis 08:45 Uhr entzerrt. Infolge der entzerrten Schulanfangszeiten wurden die Fahr-, Dienst- und Umlaufpläne an die neuen Zeiten angepasst.

Im Rahmen des Forschungsprojektes wurde ein Modell entwickelt, um die Effekte unterschiedlicher Schulzeitstaffelungskonzepte auf Auslastung, Kosten und Infektionsgefahr abbilden zu können. Dabei soll die Forschungsfrage beantwortet werden, ob und in welcher Größenordnung eine Schulzeitstaffelung eine geeignete Maßnahme für einen pandemieresistenten ÖPNV darstellt.

2 Methodisches Vorgehen

Die Wirkungsabschätzung erfolgt in mehreren Schritten. Die Grundlage für die Betrachtung bildet ein von der WVI Prof. Dr. Wermuth Verkehrsforschung und Infrastrukturplanung GmbH (nachfolgend WVI genannt) entwickeltes Umlegungsmodell (siehe Kapitel 2.1) das mithilfe verschiedener Eingangsgrößen die Verteilung der Schülernachfrage im Netz abbilden kann. Dabei wurde für alle Schülerinnen und Schüler (kurz: SuS) unter Anwendung des je nach Planfall gültigen Fahrplans ein Routing vorgenommen, das im Ergebnis die wahrscheinlichste Fahrt von der Wohnung zur Schule mit allen genutzten Teilwegen liefert. Mithilfe des Rechenmodells war es möglich, die Auswirkungen der verschiedenen Randbedingungen auf die morgendliche Nachfrage im Schülerverkehr abzubilden. Die verschiedenen Randbedingungen wurden gebündelt in insgesamt sechs Planfällen festgehalten (siehe Abbildung 1). Modelliert wurden neben dem Status quo ante (P0) und dem Szenario der tatsächlich umgesetzten Staffelung (P1) noch vier weitere Planfälle (P2 bis P5). Hierbei ist jeweils zwischen Planfällen mit und ohne Schulzeitstaffelung sowie mit Präsenz- bzw. Wechselunterricht zu unterscheiden. Darüber hinaus stellen die Planfälle P2 und P4 die sogenannten Komfortszenarien dar. Das bedeutet, dass das Fahrtenangebot so erweitert wird, dass die Auslastung der Sitz- und Stehplätze auf keiner Kante 70 % überschreitet. P3 und P5 hingegen finden vermutlich eher in Phasen mit hohen Infektionszahlen Anwendung, da hier der Schulbetrieb im Wechselunterricht unterstellt wird.

Abbildung 1: Übersicht über die betrachteten Planfälle

Aufbauend auf den Ergebnissen des Umlegungsmodells erfolgt die Abschätzung der Infektionsgefahr, der sich die Schülerinnen und Schüler theoretisch aussetzen würden. Hierfür wurde ein Modell entwickelt, das die Infektionsgefahr bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel als Produkt der Kontaktwahrscheinlichkeit und der Infektionswahrscheinlichkeit abschätzen kann (siehe Kapitel 2.3).

Neben der Nachfrage im morgendlichen Schülerverkehr und Erkenntnissen über Auslastungen einzelner Fahrten und Kanten, liefert das Umlegungsmodell zusätzlich Informationen über wirtschaftliche Kennzahlen1) des Betriebs. Darauf aufbauend erfolgt eine Abschätzung der (Mehr-)Kosten, die mit der Umsetzung der jeweiligen Planfälle verbunden sind (siehe Kapitel 2.2).

1) Fahrplankilometer, Platzkilometer, Fahrplanstunden, Fahrten, zusätzliche Fahrzeuge bzw. Fahrten

In den folgenden beiden Kapiteln wird im Detail auf die beiden Modelle sowie ihrer Herleitung und Funktionsweise eingegangen. Im Folgenden ist das Grundprinzip des Modellaufbaus in Abbildung 2 dargestellt.

Abbildung 2: Modellaufbau und methodisches Vorgehen bei der Wirkungsermittlung

2.1 Umlegungsmodell

Das bei der WVI entwickelte Umlegungsmodell beinhaltet ein mehrstufiges Routingverfahren, das anhand der Geokoordinaten beliebige Quelle-Ziel-Relationen unter Berücksichtigung von festgelegten Eingangsparametern (Umsteigewiderstand, Reisezeit etc.) auf das korrespondierende ÖPNV-Angebot umlegt. Für jede Relation wird für ein definiertes Zeitfenster die wahrscheinlichste Fahrplanfahrt ermittelt. 

2.1.1 Datenbasis

Schülerdaten

Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) bietet für alle Schülerinnen und Schüler im Verbundgebiet ein verbundweit und ganzjährig gültiges Schülerticket an (SchokoTicket). Für alle Schülerinnen und Schüler in Herne, die in Besitz eines SchokoTickets sind, lagen folgende Angaben vor:

  • Adresse des Wohnortes
  • Schule
  • Jahrgang.

Die Daten waren anonymisiert und vor Übermittlung an die WVI unter Berücksichtigung der aktuellen Datenschutzrichtlinien so aufbereitet, dass bei der Bearbeitung durch die WVI keinerlei Rückschlüsse auf konkrete Personen möglich waren.

Schulanfangszeiten

Die pandemiebedingt geänderten Schulanfangszeiten von allen Schulen in Herne wurden über das lokal ansässige Verkehrsunternehmen, der Straßenbahn Herne – Castrop-Rauxel GmbH (nachfolgend HCR genannt) bereitgestellt. In jeder Schule waren die Schulanfangszeiten klassenstufenweise gestaffelt. Weiterhin gab es auch Unterschiede bei den Anfangszeiten zwischen den jeweiligen Schulformen: Die Haupt- und Realschulen begannen um 7:45 Uhr und um 8:30 Uhr mit dem Unterricht, während die Gymnasien und Gesamtschulen um 8:00 Uhr und um 8:45 Uhr begannen. Die Berufsschulen hingegen haben einheitlich um 7:30 Uhr mit dem Unterricht angefangen. Durch die Zuordnung der Geburtsjahrgänge der einzelnen Schülerinnen und Schüler zu den Klassenstufen konnte nach umfangreicher Aufbereitung für jede Person der tägliche Schulbeginn ermittelt werden. Dabei wurde festgestellt, dass trotz Schulzeitstaffelung die Schule für fast die Hälfte (45 %) der Schülerinnen und Schüler weiterhin um 08:00 Uhr begann. 

Fahrplangrundlage

Grundlage der Modellrechnungen waren die Fahrplandaten der HCR für das Stadtgebiet Herne. Zusätzlich wurden die Fahrplandaten des für die Untersuchung relevanten regionalen Schienenverkehrs sowie der U-Bahnlinie U35 und der Straßenbahnlinien 306/316 berücksichtigt, die von der Bogestra (Bochum Gelsenkirchener Straßenbahnen AG) bedient werden. In Absprache mit der HCR wurden die Fahrplandatenbestände aus folgenden Zeiträumen übernommen:

  • Fahrtenangebot vor Staffelung der Schulzeiten: 02.11. bis 06.11.2020
  • Fahrtenangebot während Staffelung der Unterrichtszeiten: 07.12. bis 11.12.2020

Die Fahrplandaten wurden vom National Accesspoint (NAP) aus dem bundesweiten DELFI-Datenbestand übernommen und für die Modellrechnungen aufbereitet. Die Fahrplandaten enthielten alle Regelfahrten sowie zusätzliche Einsatzfahrten, die während der Schulzeit den Regelfahrplan in Herne ergänzen. Der Fahrzeugeinsatz (Fahrzeugtypen, Platzangebot) wurde von der HCR zugeliefert und in den Fahrplandaten ergänzt.

Angebotskapazitäten

Die Fahrzeugflotte der HCR besteht aus Gelenkbussen, Solobussen sowie zwei Elektro-Solobussen. Zur Bestimmung der Platzkapazität je Fahrplanfahrt wurde von der HCR die Information zugeliefert, auf welchen Linien die entsprechenden Fahrzeugtypen im Regelfall im betrachteten Zeitfenster eingesetzt werden. Für die Bestimmung der Auslastung in den einzelnen Planfällen wurden die gemäß der Richtlinie zur Bestimmung des Fassungsvermögens von Fahrzeugen des Personenverkehrs für statistische Zwecke des VDV [9] angesetzten folgenden durchschnittlichen Platzkapazitäten (Summe der Sitz- und Stehplätze) verwendet:

  • Gelenkbus: 100 Plätze
  • Solobus: 70 Plätze
  • Elektro-Solobus: 45 Plätze

AFZS-Daten des Stadtnetzes Herne

Für die Busse im Stadtnetz Herne wurden von der HCR Zähldaten aus automatischen Fahrgastzählsystemen (AFZS) für das Jahr 2019 bereitgestellt. Die je Fahrplanfahrt vorliegenden Daten bilden die Nachfrage vor der Corona-Pandemie ab und wurden nach umfangreicher Aufbereitung für folgende Arbeitsschritte herangezogen:

  • Bestimmung der Grundlast, d. h. der schülerunabhängigen Nachfrage der einzelnen Fahrplanfahrten (siehe Kapitel 2.1.2)
  • Kalibrierung des Umlegungsmodells (siehe Kapitel 2.1.2)

2.1.2 Umsetzung

Routing Wohnort – Schule

Für alle Schülerinnen und Schüler wurde unter Anwendung des je nach Planfall relevanten Fahrplans ein Routing vorgenommen, das im Ergebnis die wahrscheinlichste Fahrt vom Wohnort zur Schule mit allen genutzten Teilwegen liefert. Standen mehrere Fahrtmöglichkeiten zur Auswahl, wurde diejenige mit der kürzesten Reisezeit und den wenigsten erforderlichen Umstiegen gewählt (Bestwegsuche). Das Routing wurde für einen durchschnittlichen Werktag als Rückwärtssuche ausgeführt mit der Maßgabe, dass die Ankunft an der Zielhaltestelle spätestens 5 Minuten vor dem jeweiligen Schulbeginn liegt, sodass den Fahrgästen noch genügend Zeit für den Fußweg von der Haltestelle bis zum Schulgebäude bleibt. 

Für jede Wohnadresse und für jede Schule wurden die nächstgelegenen ÖPNV-Haltestellen ermittelt. Bei 70 % der Routen befand sich die nächstgelegene Haltestelle im Umkreis von maximal 400 m und bei 30 % der Routen im Umkreis von 400 bis zu 600 m. Für die Bestimmung der Zielhaltestellen an den Schulen wurde ein Radius zwischen 200 und 600 m festgelegt. Die Ergebnisse der Umkreissuche wurden durch Mitarbeitende der HCR plausibilisiert, indem diese anhand ihrer Kenntnis ortsspezifischer Gegebenheiten (Fußwege, Abkürzungen, Verkehrssituation etc.) die im Routing ermittelten Zielhaltestellen je Schule auf Sinnhaftigkeit überprüft haben. 

Insgesamt 5.815 Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Schulen in Herne sind in Besitz eines SchokoTickets. Der Schulweg wurde für jede Schülerin und jeden Schüler anhand der Wohnadresse und der besuchten Schule geroutet. Für die Modellierung der Verteilung der Schülernachfrage im Netz sind nur die Personen relevant, die im Verlauf ihrer Route das Stadtbusnetz Herne nutzen. Fahrgäste, die mit dem SPNV oder der Straßenbahn in die Stadt Herne fahren und die Schule erreichen, ohne auf mindestens einem Teilweg einen Bus der HCR zu benutzen, wurden in den weiteren Verarbeitungsschritten nicht berücksichtigt. 

Nicht alle Schülerinnen und Schüler sind an einem durchschnittlichen Tag gleichzeitig im Netz unterwegs. Daher geht jede ermittelte Route mit einem spezifischen Gewicht in die Modellrechnung ein, dem folgende Annahmen zugrunde liegen:

  • Ein Teil der Schülerinnen und Schüler nutzt das SchokoTicket ausschließlich für Freizeitwege und nicht für die Fahrt zur Schule. Das betrifft vor allem diejenigen, die in Fahrrad- oder Fußentfernung zu ihrer Schule wohnen. In Abhängigkeit von der Entfernung zwischen Wohnung und Schule wurden unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten für die Nutzung des ÖPNV angesetzt. Aufgrund des altersabhängigen, unterschiedlichen Mobilitätsradius erfolgte eine zusätzliche Differenzierung nach Sekundarstufe I und II.
  • Bei den Berufsschulen muss in Vollzeit- sowie Berufsschülerinnen und -schüler unterschieden werden. Die Vollzeitschülerinnen und -schüler besuchen die Schule jeden Tag, die Berufsschülerinnen und -schüler dagegen nur an einem Tag pro Woche. Letztere erhalten daher eine entsprechend geringere Gewichtung.
  • Die angenommenen Fehlzeiten infolge von Krankheit oder anderer Gründe orientieren sich an den krankheitsbedingten Ausfällen bei den Berufstätigen in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2019.

Insgesamt nutzen an einem durchschnittlichen Werktag 3.500 Schülerinnen und Schüler das HCR-Netz für ihren Schulweg. Diese bilden zusammen mit der Grundlast (siehe nachfolgend) die Basis für den Vergleich der modellierten Planfälle.

Grundlast

In Städten ist in der Regel eine Überlagerung des Schülerverkehrs mit anderen Nachfragesegmenten festzustellen. Der morgendliche Schülerverkehr findet zum Teil parallel zum Berufspendlerverkehr statt. Das bedeutet, dass unabhängig von der jeweils betrachteten Variante der Schülernachfrage diese Grundlast im städtischen Netz berücksichtigt werden muss. 

Um diese Grundlast zu quantifizieren, wurden die Fahrgastzahlen herangezogen, die während der Schulferien im Sommer 2019 mittels AFZS auf den Linien der Stadt Herne ermittelt wurden, wodurch die Daten keine ausbildungsbezogene Nachfrage enthalten. Die übrige Nachfrage, insbesondere bedingt durch die Berufspendelnden, ist in den Sommerferien ebenfalls urlaubsbedingt reduziert, sodass diese näherungsweise als Nachfrage unter Pandemiebedingungen angesehen wurde. Nach umfangreicher Aufbereitung konnte für jeden Fahrtabschnitt (Kante zwischen jeweils zwei aufeinanderfolgenden Haltestellen im Fahrtverlauf) auf jeder Linienfahrt die Besetzung festgestellt werden, die als Basisnachfrage angenommen werden kann. 

Die Grundschulen in Herne waren von der Staffelung des morgendlichen Schulbeginns nicht betroffen. Für diese ca. 200 Schulkinder wurde ein einmaliges Wohnung-Schule-Routing vorgenommen. Die dabei ermittelten Verbindungen im Stadtnetz Herne wurde ebenfalls als Basisnachfrage vorausgesetzt und der Grundlast zugeschlagen. 

Umlegung der Schülernachfrage auf das Fahrtenangebot

Die im Routing ermittelten Wohnung-Schule-Relationen wurden in den relevanten Zeitfenstern (Ankunft spätestens 5 Minuten vor Schulbeginn) auf das Fahrplanangebot umgelegt. Darauf aufbauend wurde unter Berücksichtigung der Grundlast für die einzelnen Planfälle die Anzahl der Fahrgäste je Fahrplanfahrt und Fahrtabschnitt quantifiziert. 

Als Ergebnis liegt die Besetzung im Fahrzeug für jeden Fahrtabschnitt der von den Schülerinnen und Schülern genutzten Fahrplanfahrten vor. Zur modellhaften Analyse der Netzauslastung im zeitlichen Verlauf wurde die Besetzung für jede Kante im Schülernetz2) fahrtübergreifend zusammengefasst. Unter Berücksichtigung der Fahrzeugkapazitäten (siehe Kapitel 2.1.1) kann damit für jede Kante die Auslastung berechnet werden. Diese wurde für die weitergehende Bewertung der Wirkungen in insgesamt vier verschiedenen Auslastungsklassen kategorisiert (siehe Tabelle 1).

2) Hinweis: Die Auswertungen beziehen sich nicht auf das gesamte Stadtbusnetz der Stadt Herne, sondern lediglich auf einen Teil des HCR-Netzes, das hier als „Schülernetz“ bezeichnet wird. Das Schülernetz beinhaltet alle Linien, die von Schülerinnen und Schülern auf ihrem Schulweg gemäß dem oben beschriebenen Routing auf mindestens einem Fahrtabschnitt genutzt werden.

Tabelle 1: Übersicht über die verschiedenen Auslastungsklassen der Kanten

Von einer mäßigen Auslastung kann ausgegangen werden, wenn maximal die Hälfte aller Plätze belegt sind. In der Regel sind dann nur die Sitzplätze eines Linienbusses besetzt. Ein Fahrtabschnitt gilt nach der hier angewendeten Definition als ausgelastet, wenn 51 % bis höchstens 70 % der Platzkapazitäten genutzt werden. Weist eine Kante eine Auslastung zwischen 71 % bis maximal 100 % auf, so wird diese als überlastet bezeichnet. Bei einer Auslastung von über 100 % wird das Fahrzeug auf dem betroffenen Abschnitt als stark überlastet eingestuft. Letztere beiden Auslastungsklassen werden in einigen der folgenden Auswertungen zusammengefasst betrachtet und als kritische Kanten bezeichnet. 

Kalibrierung des Umlegungsmodells

Für die Kalibrierung des Modells wurden die Modellierungsergebnisse aus P0 (Schülerverkehr vor der Schulzeitstaffelung) mit den AFZS-Daten aus dem Jahr 2019 verglichen. Anschließend wurden die Einstellungen der Parameter für das Umlegungsmodell bei einem iterativen Prozess so lange angepasst, bis eine näherungsweise Übereinstimmung der Berechnungsergebnisse mit der Verteilung der Fahrgastnachfrage im Jahr 2019 vorlag. 

Auswertung der Kontaktdauer und Kontaktzahlen

Wichtige Parameter, die in das Infektionsmodell (siehe Kapitel 2.3) einfließen, sind die Anzahl der Kontakte und die Kontaktdauer je Schülerin und Schüler auf den für die einzelnen Planfälle ermittelten relevanten Routen. 

Im Umlegungsmodell wurde für jeden Schülerteilweg ermittelt, welche anderen Schülerinnen und Schüler auf demselben Fahrabschnitt der Fahrt unterwegs waren und über welche Fahrtabschnitte jeweils zwei Personen gemeinsam unterwegs waren. Überlappen sich diese individuellen Fahrtabschnitte zweier Schülerinnen und Schüler auf derselben Fahrplanfahrt, wurde dieser spezifische Schüler-Schüler-Kontakt einschließlich der Kontaktdauer in der Datenbank abgelegt. Die Fahrgäste, die die Grundlast der Fahrplanfahrten bilden, wurden aufgrund der nicht bekannten Quelle-Ziel-Beziehungen in einem separaten Rechenschritt pauschalisiert berücksichtigt.

Die Ergebnisse je Schüler wurden auf Zeitscheiben aggregiert, indem Kontakte mit gleicher Kontaktdauer zusammengefasst wurden. Je Schüler und Kontaktdauer wurde die Anzahl der Kontakte ermittelt und abgelegt. Auf Basis der Umlegung der Wohnort-Schule-Relationen im Herner Schülerverkehr auf das ÖPNV-Netz wurde für die einzelnen Planfälle eine mittlere Kontaktdauer für jeden Schüler errechnet. Dabei wurden die auf die Zeitscheiben aggregierten Kontaktzahlen arithmetisch gemittelt. Als Gewicht fließt die Zahl der Kontakte ein.3)

3) Hinweis: Da für die Komfortszenarien (P2 und P4) ein anderer Modellansatz gewählt wurde, konnte an dieser Stelle keine Auswertung der Kontaktdauer und der Kontaktzahlen erfolgen.

2.2 Abschätzung der Kosten

Auf Grundlage der durch das Umlegungsmodell ermittelten Betriebsleistung in den verschiedenen Planfällen wurden die Kosten, die mit deren Umsetzung verbunden sind, als ein Wirkungskriterium abgeschätzt. Hierfür wurden die in Abbildung 3 dargestellten Kostensätze herangezogen, die vorab mit der HCR abgestimmt wurden. Die gewählten Kostensätze der laufleistungsabhängigen Kosten pro Fahrplankilometer beinhalten anteilig bereits Kosten, die durch unproduktive Leerfahrten (z. B. Einsetz- oder Umsetzfahrten) entstehen. Zudem sind in den Overheadkosten bereits etwaige Kosten für die Planung von Staffelungskonzepten mit abgedeckt.

Abbildung 3: Angenommene Kostensätze für die Berechnung der Gesamtkosten der verschiedenen Planfälle

Die Kostenabschätzung ist allerdings mit der Einschränkung verbunden, dass zusätzlich benötigte Fahrzeuge, die ggf. für die Sicherstellung der zusätzlichen Betriebsleistung in den Komfortszenarien P2 und P4 benötigt würden, nicht abgebildet werden. Dies liegt daran, dass das Modell zwar ausgeben kann, wie viele zusätzlichen Fahrten benötigt würden, aber diese Information nicht mit Umlaufplänen verknüpft werden kann. Weiterhin ist zu erwähnen, dass die Kosten lediglich ÖPNV-seitig abgeschätzt werden und ein Mehraufwand seitens der Schulen in dieser Betrachtung vernachlässigt wird. Die im Rahmen des Forschungsprojektes geführten Gespräche mit einigen der durch die Staffelung betroffenen Schulen kamen zu dem Ergebnis, dass es einen hohen schulseitigen Organisationsaufwand gab, der sich allerdings nicht beziffern lässt. Dieser bestand vor allem in der Anpassung des Stundenplans, die durch verschiedene äußere Randbedingungen erschwert wurde. So müssen beispielsweise Kooperationen zwischen den Schulen bei der gemeinsamen Sporthallennutzung beachtet werden oder es entsteht ein zusätzlicher Abstimmungsbedarf mit außerschulischen Partnern, die zum Beispiel für die Ganztagsbetreuung zuständig sind. Zudem ging das Konzept der Staffelung von einer 45-Minuten-Taktung aus, was insbesondere bei den Realschulen zu erheblichen Problemen geführt habe, da diese ihren Schulalltag normalerweise mit einer 27,5- bzw. 65-Minuten-Taktung gestalten. 

2.3 Infektionsmodell zur Abschätzung der Infektionsgefahr im Schülerverkehr

Aufbauend auf den Ergebnissen des Umlegungsmodells kann im nächsten Schritt die daraus resultierende Infektionsgefahr abgeschätzt werden. Dafür wird ein eigens im Rahmen des Projekts EMILIA entwickeltes Infektionsmodell genutzt, welches die Infektionsgefahr in bestimmten Fahrzeugen des ÖPNV berechnet. Diese Infektionsgefahr ergibt sich aus dem Produkt der Kontaktwahrscheinlichkeit und der Infektionswahrscheinlichkeit [10]. Dabei ist die Kontaktwahrscheinlichkeit als die „Wahrscheinlichkeit, mindestens eine bzw. genau c infizierte Personen in öffentlichen Verkehrsmitteln zu treffen“ [10] und die Infektionswahrscheinlichkeit als die „Wahrscheinlichkeit, dass bei einem konkreten Zusammentreffen einer gesunden Person mit einer oder mehreren Infizierten die Krankheit übertragen wird“ definiert [10]. Daraus ergibt sich folgende Formel für die Infektionsgefahr bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel:

Formel in der PDF

Für die Kontaktwahrscheinlichkeit ist zunächst wichtig, dass nicht alle Personen infektiös sind. Nur ein bestimmter Anteil der Personen ist mit SARS-CoV-2 infiziert und infektiös (p). Dieser Anteil lässt sich aus dem Produkt der Inzidenz und einer Dunkelziffer näherungsweise bestimmen. Da im morgendlichen Schulverkehr hauptsächlich Schülerinnen und Schüler anzutreffen sind, wurde die altersgruppenspezifische Inzidenz der 5- bis 19-jährigen in Herne im Schuljahr 2020/21 zugrunde gelegt. Die Anzahl der infektiösen Personen im Verkehrsmittel auf der gesamten Fahrt (c) muss zwischen Null und n, also der Anzahl aller Personenkontakte auf der gesamten Fahrt liegen. Es gibt zwei mögliche Ausgänge: Entweder es wird einer infektiösen Person begegnet oder eben nicht, was es ermöglicht, die Kontaktwahrscheinlichkeit als Binomialverteilung darzustellen. Es wird davon ausgegangen, dass infektiöse Personen im ÖPNV genauso häufig vorkommen, wie infektiöse Personen in der Grundgesamtheit (also allen anderen Situationen). Damit ist die Kontaktwahrscheinlichkeit folgendermaßen definiert [10]:

Formel in der PDF

Für die Infektionswahrscheinlichkeit ist ausschlaggebend, ab welcher Virenanzahl es zu einer Infektion kommt. Im exponentiellen Dosis-Wirkungsmodell [11] ist dabei einerseits die Anzahl der Viren, die eine Infektion auslösen können (nv0) von Bedeutung, andererseits die Anzahl der Viren, mit denen eine Person in Kontakt kommt (nv). Letztere wird durch eine Kombination von mehreren Faktoren beeinflusst (siehe Formel 3). Dabei werden verschiedene Faktorklassen berücksichtigt. Zunächst wird die Anzahl an Aerosolen ausgerechnet, die über die Fahrzeit von den infektiösen Personen ausgeatmet werden (c, t, PS, 60). Um nur die Aerosole zu berücksichtigen, mit denen die Zielperson tatsächlich in Kontakt kommt, wird der R-Wert als Produkt verschiedener Computational Fluid Dynamics (CFD) Simulationen verwendet. Simuliert wurde die Ausbreitung der Aerosole im Inneren eines Mercedes-Benz Citaro O 530 Buses, welche durch die Engineering Systems International Group [12] erfolgte. Der R-Wert ist der Anteil aller Aerosole einer infektiösen Person, die in einer Sekunde im Bereich um Mund und Nase der Zielperson ankommen. Diese Anzahl wird gegebenenfalls durch Maskeneigenschaften beeinflusst bzw. reduziert (FE, AX, TIL). Mit der Anzahl Viren pro Aerosol kann nun die gesamte Anzahl der Viren, mit denen eine Person in Kontakt kommt, errechnet werden. Damit ergibt sich folgende Infektionswahrscheinlichkeit:

Formel in der PDF

Da das Modell [13, Manuskript in Bearbeitung] ursprünglich zur Auswertung des Einflusses verschiedener Schutzmaßnahmen auf die Infektionswahrscheinlichkeit entwickelt wurde [14, Manuskript eingereicht], ist anzumerken, dass die Simulation mit Modellen erwachsener Per-sonen arbeitet, weshalb es für die Schüler nur eine Näherung an die tatsächlichen R-Werte darstellt. Da die Unterschiede zwischen den einzelnen Planfällen allerdings gleich bleiben, kann diese Näherung hier trotzdem verwendet werden.

Während es also nur zwei mögliche Ausgänge gibt – die betrachtete Person infiziert sich oder infiziert sich nicht – kann eine Infektion durch eine unterschiedliche Anzahl an infektiösen Personen ausgelöst werden. Es muss also die Summe an Infektionswahrscheinlichkeiten für die jeweilige Anzahl an infektiösen Personen berechnet werden. Es ist zu beachten, dass c (also die Anzahl an infizierten Personen auf der gesamten Fahrt im Verkehrsmittel) ein stetiger Wert ist, der zwischen 0 und n (also der Anzahl aller Kontaktpersonen auf der gesamten Fahrt) liegen kann. Die Infektionsgefahr für alle möglichen Konstellationen an infektiösen und nicht-infektiösen Personen im Fahrzeug lässt sich also folgendermaßen berechnen:

Formel in der PDF

Durch die verschiedenen Planfälle werden in der jeweiligen Abschätzung der Infektionsgefahr der Schülerinnen und Schüler drei Parameter verändert: die Anzahl aller Personenkontakte auf der gesamten Fahrt (n) und damit die mögliche Anzahl an infektiösen Personen (c) sowie die durchschnittliche Expositionszeit einer infektiösen Person (t). Da eine detaillierte Beschreibung des Modells [13, Manuskript in Bearbeitung] den Rahmen der Erkenntnisse überschreiten würde, wird an diese Stelle auf Tabelle 6 im Anhang verwiesen. Dort finden sich die verwendeten Werte der Infektionsgleichung.

Getroffene Annahmen zur Abschätzung der Infektionsgefahr

In der durchgeführten Simulation zur Ermittlung des R-Werts wurde lediglich ein Solobus betrachtet. Da im morgendlichen Schülerverkehr in Herne aber sowohl Solo- als auch Gelenkbusse im Einsatz sind, erfolgt die Übertragung auf Gelenkbusse durch die Anpassung der Fahrgastzahlen. Die Anteile von schweigenden und redenden Personen bleiben dabei über alle Planfälle gleich, genau wie das Verhältnis der getragenen Masken. Anzumerken ist, dass die Simulation keine redenden Personen abbildet, sondern dies im Infektionsmodell nur über die Anzahl der ausgestoßenen Partikel (PS-Wert) abgebildet wird. Die Lüftungseinstellungen waren über alle Außentemperatur-Szenarien und Lüftungsstärken gemittelt. In der Simulation der Aerosolausbreitung wurde von einer Fahrzeugauslastung von rund 80% ausgegangen, weitere Auslastungsklassen konnten an dieser Stelle nicht simuliert werden. Den unterschiedlichen Auslastungen der Planfälle wird durch die Anpassung der Kontaktanzahl und Kontaktdauer Rechnung getragen. 

3 Wirkungsanalyse

Als Wirkungsindikatoren wurden zum einen die Auslastung der Fahrzeuge sowie das Infektionsrisiko, dem sich die Schülerinnen und Schüler bei der Nutzung des ÖPNV in den verschiedenen Planfällen aussetzen (würden) betrachtet. Dem gegenüber steht die wirtschaftliche Bewertung. Bei dieser Betrachtung steht der monetäre Aufwand im Fokus, der mit der Umsetzung der jeweiligen Planfälle verbunden ist.

3.1 Auslastung

Für die Wirkungsgröße „Auslastung“ können die als Ergebnisse des Berechnungstools vorliegenden Auslastungen der Kanten verwendet werden. Die nachfolgende Abbildung 4 zeigt beispielhaft die Auslastung des Schülernetzes vor Einführung der Schulzeitstaffelung (P0) während der morgendlichen Spitzenbelastung zwischen 7:31 und 7:45 Uhr. Bei Betrachtung der Abbildung ist zu erkennen, dass sich die kritischen Kanten nicht zwangsläufig nur in der Nähe der Schulen befinden, die in der Abbildung als Dreieck gekennzeichnet wurden, sondern sich nahezu beliebig über das gesamte definierte Schülernetz erstrecken.

Abbildung 4: Auslastung des Schülernetzes vor Einführung der Schulzeitstaffelung (P0)

Neben der räumlichen Netzauslastung (Abbildung 4) werden im Folgenden die Anzahl der kritischen Kanten sowie der Anteil an Schülerinnen und Schülern, die von Überlastungen4) auf ihrem Weg zur Schule betroffen sind, dargestellt (siehe Tabelle 2).

Tabelle 2: Wirkungsgröße Auslastung - Vergleich der verschiedenen Planfälle

Bei gleichzeitigem Unterrichtsbeginn um 8:00 Uhr an beinahe allen weiterführenden Schulen (P0) liegen insgesamt 137 kritische Kanten vor, wobei sich die kritischen Auslastungszustände vor allem in dem Zeitintervall 7:31 bis 7:45 Uhr vermehrt häufen. Allein in diesem Zeitfenster liegen 83 von 137 kritischen Kanten vor.

4) Hiermit sind die kritischen Kanten gemeint. Also überlastete und stark überlastete Kanten mit einer Auslastung von mindestens 71 %.

3.2 Kosten

Die Einführung der Staffelung der Unterrichtszeiten in Herne war nicht direkt mit dem Ziel verbunden, Kosten einzusparen. Vielmehr sollten mit bestehenden Ressourcen ohne erhebliche Mehrkosten die Schülerströme entzerrt werden. Bei der Betrachtung der abgeschätzten Gesamtkosten (siehe Tabelle 3) ist zu sehen, dass dies in Herne erreicht werden konnte. Es fällt weiterhin auf, dass die Maßnahme der Schulzeitstaffelung (P1) sogar geringfügig günstiger war als der Regelbetrieb (P0). Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei allen Planfällen derselbe Anteil der Leerkilometer an der Betriebsleistung angenommen wurde.

Tabelle 3: Wirkungsgröße Kosten – Vergleich der verschiedenen Planfälle

Bei Betrachtung der Tabelle 3 ist weiterhin zu erkennen, dass die beiden Komfortszenarien (P2 und P4) Mehrkosten in Höhe von 15 % (P2) beziehungsweise 7 % (P4) verursachen, womit P2 der teuerste Planfall im Vergleich zu den anderen Planfällen darstellt. Im Gegensatz dazu sind P1 und P5 die geringfügig kostengünstigsten Planfälle, während die Kosten in P3 identisch mit denen in P0 sind. 

Der Anstieg der Kosten in den Komfortszenarien lässt sich durch die erhöhte Betriebsleistung zur Einhaltung der Auslastungsgrenze begründen: In den beiden Komfortszenarien P2 und P4 ist die Prämisse gesetzt, dass alle Fahrzeuge im gesamten Fahrtverlauf maximal zu 70 % ausgelastet sein dürfen. In diesem Fall sind alle Sitzplätze eines Linienbusses besetzt und wenige Fahrgäste befinden sich in den Stehbereichen. Zusätzlich zu dieser Forderung wird in P2 davon ausgegangen, dass der Unterrichtsbeginn nicht gestaffelt wird, während in P4 eine Schulzeitstaffelung unterstellt wird. 

Zum Erreichen dieses Ziels ist die Bereitstellung zusätzlicher Fahrzeugkapazitäten erforderlich. Auf Basis der Modellrechnungen wurden die Fahrtabschnitte im Schülernetz der HCR mit einer Auslastung von mehr als 70 % identifiziert. Wo möglich, wurde der Einsatz von Gelenkbussen anstelle von Solobussen auf den betroffenen Fahrten simuliert. Andernfalls erfolgte das Angebot zusätzlicher Fahrten auf den betroffenen Linien, um die anvisierte Auslastungsgrenze einzuhalten. 

Die zusätzlichen Kapazitäten können näherungsweise quantifiziert werden, indem die im Zeitfenster zwischen 7:00 und 9:00 Uhr erforderliche Betriebsleistung der beiden Planfälle der des Status quo ante gegenübergestellt werden: Das Komfortszenario ohne Schulzeitstaffelung (P2) erfordert ein zusätzliches Angebot von 35 Fahrplanfahrten, um die maximale Auslastung von 70 % der Platzkapazitäten auf allen Fahrtabschnitten nicht zu überschreiten. Dies entspricht einem Anstieg der Fahrplankilometer um 15 % gegenüber dem Status quo ante (P0). Das Komfortszenario mit Schulzeitstaffelung (P4) würde zu einem Bedarf von 22 zusätzlichen Fahrplanfahrten führen. Dies entspräche einer Steigerung der Fahrplankilometer von 5 % gegenüber P0.

3.3 Infektionsgefahr

Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Auslastung steht der Wirkungsindikator „Infektionsgefahr“. Mithilfe der Ergebnisse aus der Modellierung und des entwickelten Infektionsmodells ist es möglich, diese Größe abzuschätzen. Die Abschätzung liefert im Ergebnis die durchschnittliche Infektionsgefahr einer Person bei einer Fahrt im morgendlichen Schülerverkehr in Herne. Bei Betrachtung der Ergebnisse (siehe Tabelle 4) ist zu erkennen, dass in allen Planfällen die durchschnittliche Infektionsgefahr gegenüber dem Status quo ante (P0) reduziert werden konnte. Aufgrund der Tatsache, dass die Infektionsgefahr direkt mit der Auslastung der Kanten bzw. der Fahrten im Zusammenhang steht, konnte die Gefahr in P5 am stärksten und in P1 am schwächsten gesenkt werden.

Tabelle 4: Wirkungsgröße Infektionsgefahr – Vergleich der verschiedenen Planfälle

Aufgrund eines anderen Modellansatzes für die Planfälle P2 und P4 (siehe Kapitel 2.1.2) konnte die Infektionsgefahr für diese Planfälle nicht bestimmt werden, da die Kontaktdauern je Schülerin und Schüler nicht in vergleichbarer Form vorliegen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Infektionsgefahr in diesen beiden Planfällen im Vergleich zu den anderen Planfällen am geringsten ausfällt, da keine überlasteten Kanten vorliegen und damit verbunden auch die Anzahl an Kontakten reduziert werden konnte.

3.4 Zusammenfassende Betrachtung

Für einen besseren Überblick wurden die zuvor vorgestellten Modellierungsergebnisse noch einmal zusammenfassend in Tabelle 5 zusammengetragen.

Tabelle 5: Wirkungsvergleich der einzelnen Planfälle

Bei Betrachtung der Wirkungen der einzelnen Planfälle ist zu erkennen, dass lediglich die beiden Planfälle P1 und P5 in allen drei Wirkungskategorien vorteilhafter gegenüber dem Status quo ante (P0) sind. Bei beiden Planfällen kann die Anzahl der kritischen Kanten und somit auch die Infektionsgefahr reduziert werden, wobei gleichzeitig geringfügig Kosten eingespart werden können. In den anderen Planfällen konnte die Infektionsgefahr erheblich reduziert werden, allerdings geht dies in den Komfortszenarien P2 und P4 auch mit einer Erhöhung der erforderlichen Betriebsleistung und den damit verbundenen Kosten einher. Im Planfall „Wechselunterricht“ (P3) bleiben die Kosten gegenüber P0 unverändert.

4 Fazit und Ausblick

Die vorliegende Auswertung hat gezeigt, dass die Einführung einer Staffelung der Unterrichtszeiten einen positiven Einfluss auf die Auslastung bzw. die Überlastung von Fahrzeugen im morgendlichen Schülerverkehr hat, was sich wiederum positiv auf die durchschnittliche Infektionsgefahr der Fahrgäste auswirkt. Lediglich in den beiden Komfortszenarien P2 und P4 war dies mit einer Erhöhung der Kosten verbunden. 

Wie in Kapitel 3.1 gezeigt wurde, konnte die Staffelung allerdings (stark) überlastete Kanten nicht verhindern, sondern deren Anzahl lediglich reduzieren. Diese Tatsache lässt sich vor allem daher begründen, dass in P1 noch immer rund 45 % der Schülerinnen und Schüler um 8:00 Uhr mit dem Unterricht begonnen haben (siehe Kapitel 2.1.1). Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass mit einer weiteren Optimierung der Staffelung die Schülerströme weiter entzerrt werden können, wodurch die Auslastung und die Infektionsgefahr ebenfalls weiter gesenkt werden. Für eine intensivere Optimierung des Schülerverkehrs sind ggf. noch zusätzliche Personal-, Kommunikations- und/oder Modellierungskosten miteinzubeziehen. 

Die Einführung der Schulzeitstaffelung in Herne war nicht mit dem Ziel verbunden, Kosten einzusparen. Dennoch konnten diese geringfügig gesenkt werden. Auch hier gilt, dass mit einer weiteren Optimierung die Kosten vermutlich stärker gesenkt werden können.

Weiterhin muss erwähnt werden, dass eine Schulzeitstaffelung aufgrund einer Vielzahl an unterschiedlichen Akteuren (i. W. Schüler und Schülerinnen, Eltern, Lehrkräfte, Verkehrsunternehmen, Aufgabenträger) mit unterschiedlichen Interessen in der Praxis schwierig umzusetzen ist [4]. Erfahrungen aus der Literatur weisen darauf hin, dass die Interessen der verschiedenen Akteure sich in einem Spannungsverhältnis befinden [1]. Insbesondere die Schulen sehen vorwiegend die Nachteile einer Staffelung, da die Umsetzung mit einer Umstrukturierung und Neuorganisation des Schulalltags verbunden ist. Die in der Literatur genannten Gründe decken sich mit den Erfahrungen der Staffelung in Herne (siehe Kapitel 2.2). Zudem kann es für einige Schülerinnen und Schüler durch die verlängerten Schulzeiten am Nachmittag, die mit den verspäteten Anfangszeiten verbunden sind, zu Kollisionen mit Sportvereinen oder anderen Freizeitgestaltungen kommen. Einige Lehrkräfte der betroffenen Schulen in Herne berichteten außerdem davon, dass viele Eltern die Koordination – besonders bei mehreren schulpflichtigen Kindern – als problematisch und als nicht alltagstauglich empfunden hätten. Aufgrund der genannten Gründe ist ein enger und kontinuierlicher Abstimmungsprozess aller Beteiligten essentiell, um den Erfolg einer solchen Maßnahme – beispielsweise durch das Finden und Eingehen von Kompromissen –  sichern zu können [1].

Auf Grundlage der vorgestellten Untersuchung konnte gezeigt werden, dass eine Staffelung der Unterrichtszeiten eine wichtige Maßnahme für einen pandemieresistenten ÖPNV ist, da das Infektionsrisiko im ÖPNV mit bestehenden Ressourcen gesenkt werden konnte. Weiterhin konnte allerdings auch aufgezeigt werden, dass durch weitere Optimierungen noch größere positive Effekte hinsichtlich des Infektionsrisikos, des Fahrgastkomforts sowie der Kosten erreicht werden können. 

Ausblick: Schulzeitstaffelung jenseits der Pandemie

Nicht zuletzt kann festgehalten werden, dass eine Schulzeitstaffelung auch unabhängig von einer Pandemie aus Sicht der Fahrgäste, der Verkehrsunternehmen und der Aufgabenträger aufgrund der genannten Gründe vorteilhaft ist, da eine reduzierte Auslastung der Fahrzeuge sich positiv auf den Komfort der Fahrgäste auswirkt und dies ohne das Entstehen von Mehrkosten realisiert werden kann. Vor allem aber auch vor der Problematik des Mangels an Fahrpersonal kann die Schulzeitstaffelung einen möglichen Lösungsansatz darstellen und sollte dahingehend diskutiert werden [15]. 

5 Literatur

[1]   Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. Leitfaden für den Schülerverkehr. Bd. 117. FGSV W1 – Wissensdokumente, Auflage 2012, Köln: FGSV-Verlag 2012

[2]   Kötter B., Lampe B., Mehlert C., et al. Optimierung des Schülerverkehrs. Planung und Umsetzung einer Schulzeitstaffelung im Kreis Steinfurt. Der Nahverkehr 2003; 21: S. 32-34

[3]   Bornhofen T., Fügenschuh A., Kittler W., et al. Optimierung des Schülerverkehrs durch Schulzeitstaffelung. Erfahrungen mit Ikosana im Schwalm-Eder-Kreis. Der Nahverkehr 2015; 33: S. 19-24

[4]   Mobilotsin. Unterrichtszeitenstaffelung: "Dickes Brett – aber es lohnt sich". Im Internet: https://www.mobilotsin-niedersachsen.de/infothek/newsletter/und-jetzt-schon-an-die-schule-denken/; Stand: 13.09.2023

[5]   Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Alltag in Zeiten von Corona. Abstand halten (11.04.2023). Im Internet: https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/alltag-in-zeiten-von-corona/abstand-halten/; Stand: 13.09.2023

[6]   Deutscher Bundestag. Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Viertes Bevölkerungsschutzgesetz vom 22.04.2021

[7]   #BesserWeiter. Verkehrsunternehmen fordern gestaffelten Unterrichtsbeginn. Kleine Maßnahmen mit großer Wirkung. Im Internet: https://www.besserweiter.de/verkehrsunternehmen-fordern-gestaffelten-unterrichtsbeginn.html; Stand: 08.03.2023

[8]   Stadt Essen. Entzerrung der Schülerströme in Essen – Aufstockung der Fahrzeuge und zeitversetzter Schulstart - essen.de; 2021

[9]   Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. Richtlinie zur Bestimmung des Fassungsvermögens von Fahrzeugen des Personenverkehrs für statistische Zwecke; 1990

[10] Sommer C., Reiserer M., Wollnitza P. Infektionsgefahr bei der Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs am Beispiel von SARS-CoV-2. Straßenverkehrstechnik 2021: S. 251-257

[11] Haas C.N., Rose J.B., Gerba C.P. Quantitative microbial risk assessment. New York: John Wiley & Sons Inc; 2014

[12] ESI Group. ESI Group - Leading Innovator in Virtual Prototyping Solutions (08.02.2023). Im Internet: https://www.esi-group.com/; Stand: 08.02.2023

[13] Fouckhardt L., Sommer C., Schneider N. Modeling the Infection Risk in Local Public Transport [manuscript in preparation]; 2023

[14] Fouckhardt L., Schneider N., Koch J., et al. How Safe is Public Transport in a Global Pandemic? Simulation-Based Insights on the Infection Probability with Sars-Cov-2. European Transport Conference 2023

[15] Zukunftsnetzwerk ÖPNV. Mangel an Busfahrer:innen im Schulverkehr (19.09.2023). Im Internet: https://www.zukunftsnetzwerk-oepnv.de/aktuelles/news/mangel-an-busfahre-rinnen-im-schuelerverkehr; Stand: 09.01.2024

[16] Schlenczek O., Turco L., Nordsiek F., Clauberg S., Stieger K., Kosub J.-M., Kaba H. HEADS - Human Emission of Aerosol and Droplet Statistics. v1.2 (29.06.2023). Im Internet: https://aerosol.ds.mpg.de/de/; Stand: 29.06.2023

[17] Bar-On YM, Flamholz A., Phillips R., et al. SARS-CoV-2 (COVID-19) by the numbers. Elife 2020; 9. doi:10.7554/eLife.57309

[18] Fleischer M., Schumann L., Hartmann A., et al. Preadolescent children exhibit lower aerosol particle volume emissions than adults for breathing, speaking, singing and shouting. J R Soc Interface 2022; 19: 20210833. doi:10.1098/rsif.2021.0833

Tabelle 6: Für die Berechnungen der Infektionsrisiken genutzte Werte

Anmerkungen:

(1)   TOL = (1-FE)×(1-AX)+AX

(2)   Eigene, nicht-repräsentative Beobachtungen zu zwei Zeitpunkten (Dezember 2022 und Februar 2023) verzeichneten das Redeverhalten der ÖPNV-Fahrgäste. Dabei handelte es sich um zwei Beobachtungen auf mehreren Linienfahrten verschiedener Verkehrsmittel zu unterschiedlichen Zeiten im inneren Stadtgebiet von Kassel. Dabei wurde insgesamt 503 Personen in ihrem Verhalten beobachtet. Die Anteile des Redeverhaltens wurden über alle Beobachtungszeiträume gemittelt. Es ergab sich ein durchschnittlicher Wert von 93.51 ausgeatmeten Aerosolen pro Sekunde.

(3)   Die Werte für t und n wurden mithilfe des Umlegungsmodells für jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler bestimmt (siehe Kapitel 2.1.2).