Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.
1 Eine verwirrende Ausgangslage
Manche von Ihnen werden sich denken: Schön, dass es Leute gibt, die sich über Wirtschaftsethik den Kopf zerbrechen. Aber in der Praxis geht es anders zu, da ist von Ethik wenig zu spüren. Da ich selbst seit vielen Jahren ein Unternehmen leite, kann ich diese Sichtweise gut verstehen. Da gibt es eben nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch Grau, und zwar manchmal eher dunkelgrau, manchmal eher hellgrau.
Ist es, um ein Beispiel zu nennen, legitim, auf die Ausschreibungskriterien einer öffentlichen Ausschreibung Einfluss zu nehmen? Und wie könnte ein solcher Einfluss konkret aussehen, wenn er nicht in den Graubereich abdriften soll?
Ein kleines Beispiel: Am 28. August 2006 veröffentlichte die FAZ einen Kommentar über die Verurteilung von 11 Bürgermeistern in Baden-Württemberg, die vom Amtsgericht Lahr Strafbefehle dafür bekommen hatten, dass sich ein regionaler Stromversorger mit Spenden an gemeinnützige Einrichtungen der Gemeinden für die Verlängerung des Konzessionsvertrags erkenntlich gezeigt hatte. Keiner der Beteiligten hatte sich persönlich bereichert; insgesamt ging es um 32 000 Euro.
Umgekehrt wird das Beispiel von Windkraftbetreibern in der Uckermark und in Norddeutschland zitiert, die von Windparkbetreibern Sportanlagen ausbauen oder Kindergarten verschönern lassen, weil sie Gelände für Windparks zur Verfügung stellen. „Sie waren eben an der ökologisch richtigen Adresse“, schreibt der Kommentator ironisch.
Anhand dieses Beispiels kann man sich trefflich über „gut“ und „böse“, zumindest über „legal“ und „illegal“ streiten. Klar wird daran aber auch, dass wir keine allgemeingültigen Maßstäbe mehr haben, was nun als ethisch gilt und was nicht. Selbst die Strafandrohung des Gesetzes scheint heute von gewissen Zufälligkeiten und Randbedingungen abhängig zu sein.
Auf der anderen Seite wird in der Öffentlichkeit immer wieder über mangelnde Moral bei Managern und Unternehmern geklagt. Und wir wissen auch, dass es in der Wirtschaft durchaus eine ansonsten vielleicht seltene Form der Farbenblindheit gibt: Die Grau-Weiß-Schwäche, bei der man dann gar nicht mehr genau unterscheiden kann, was was ist
Persönlich bin ich aufgrund langjähriger Erfahrungen davon überzeugt, dass die meisten Manager und Unternehmer nicht einfach Betrüger und habgierige Profitoptimierer sind. Wenn es aber richtig ist, dass „am Pranger stehen“ und „Unrecht haben“, nicht automatisch miteinander verbunden sind, dann lohnt sich die ernsthaftere Auseinandersetzung mit der Frage: „Was haben ethische Werte mit wirtschaftlichem Handeln zu tun?“ Und wie können wir eine Brücke zwischen beiden Welten schlagen? „Unmöglich“, könnten Sie jetzt tapfer sagen, und Sie wären in guter Gesellschaft. Denn die Wissenschaft wäre nicht die Wissenschaft, wenn sie nicht auch das Unbehagen gegenüber der engen Verbindung zwischen Ethik und Wirtschaft artikulieren würde.
Ich spreche namentlich von der „Widerspruchshypothese“ des britischen Autors Joel Bakan in seinem Buch „The Corporation, The Pathological Pursuit of Profit and Power, London 2004“ (deutsch: „Das Ende der Konzerne“, Leipzig 2005). Große Firmen, so der Autor, sind nur am Gewinn interessiert. Und Ethik habe in der Wirtschaft nichts verloren, weil wirtschaftlicher Mehrwert nicht kausal mit Ethik zusammenhänge: Eine Entscheidung ist ökonomisch richtig oder falsch. Das habe zunächst mit Ethik nichts zu tun.
Andererseits ist der Autor beschlagen und praxiserfahren, so dass er sich mit Erscheinungen wie dem Sponsoring, dem Mäzenatentum und sonstigen uneigennützigen Handlungsweisen von Firmen auseinandersetzen muss. Für ihn sind diese Handlungsweisen allerdings lediglich Randbedingungen wirtschaftlichen Handelns. Anders gesagt: Ethik kommt nur als Maßnahme zur Imageverbesserung ins Spiel!
Ethik folgt nach dieser Auffassung einer Umweg-Rationalität, die letztlich auf Ansehensgewinne, damit aber letztlich auch auf höhere Umsätze und Gewinne aus ist – und auf sonst gar nichts. Ethik und Wirtschaft: Fehlanzeige, so könnte man schlussfolgern.
Nach dieser polarisierenden Anfangsbemerkung müssen wir uns gut überlegen, in welcher Weise es vielleicht doch einen eigenständigen Platz für Ethik im wirtschaftlichen Handeln gibt. Dabei wird es gut sein, den Begriff Ethik prägnant zu definieren. Ich verstehe Ethik als Lehre vom guten Handeln. Und gutes Handeln hat zwei Komponenten: „gut handeln“ im Sinn von „Das Gute tun“, aber auch im Sinn von „das gut tun, was man tut“.
Dass es unterschiedliche Religionen und Wertsysteme gibt, die ihr eigenes Verständnis dessen, was „gut“ ist, entwickeln, das ist allgemein bekannt. Und es gibt hier keineswegs nur Durcheinander und Streitigkeiten, sondern Gemeinsamkeiten, die man in etwa mit den Postulaten der Bergpredigt und der Goldenen Regel beschreiben kann. Denn in allen Kulturen gilt: „Was Du nicht willst, das man Dir tue, das füg' auch keinem anderen zu“. Theologen und Philosophen drücken das dann etwas vornehmer aus und reden von der „Goldenen Regel“.
In der heutigen, modernen Welt kommt ein zweiter Aspekt des Guten hinzu: nämlich im genannten Sinn von „das gut tun, was man tut“. Es hat auch für einen Christen keinen Sinn, sich von einem christlichen Zahnarzt behandeln zu lassen, der seit 20 Jahren keine Fortbildung mehr besucht und auch nicht in neue Geräte investiert hat! Gut hat also durchaus auch die Bedeutung von „professionell“, und es ist kein Zufall, dass „ethisch gut“ und „professionell gut“ durchaus in enger Verbindung miteinander stehen!
2 Unternehmen und Marken als Weg- und Wertgemeinschaften
Dabei möchte ich zuerst auf einen Aspekt aufmerksam machen, der im Leben jedes Unternehmens eine enorme Rolle spielt. Ich meine den Umstand, das Unternehmen Weg- und Wertgemeinschaften sind.
Sie leben von einer Gründergeschichte. Sie leben von einer gemeinsamen Auslegung von Sinn und Bedeutung im Blick auf Unternehmensgeschichte, Unternehmensidentität und Unternehmenskultur. Und das gilt keineswegs nur für große Firmen wie Zeiss oder Bosch, sondern für jedes einzelne Unternehmen, das mehr als 10 Jahre auf dem Markt ist!
Die gemeinsame Unternehmensgeschichte bildet gemeinsame Überzeugungen und Tabus aus, an die sich jeder, der im Unternehmen tätig ist, auch hält. Unternehmenskultur ist, so gesehen, zuerst einmal Teilhabe an einer Geschichte, wenn sie auch noch so klein und unbedeutend erscheinen mag.
Aus dem gemeinsamen Weg und den gemeinsamen Werten bildet sich am Ende so etwas wie eine „Unternehmensmarke“ heraus, die wir in Teilhabe und Gestaltung, in Dialog, Konsens und Konflikt bilden.
3 Unternehmerischer Erfolg reicht nicht aus
Faktisch bedeutet dies, dass erfolgreiche Unternehmen mit den besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in aller Bescheidenheit wissen: Erfolg allein reicht nicht aus. Menschen sind nämlich unbeirrbare Sinn- und Bedeutungssucher. Sie wollen etwas Sinnvolles tun, auch im Beruf auch Sie alle! Das heißt aber, dass neben dem Kriterium der zweckrationalen Wertschöpfung der Maßstab der sinnrationalen Sinnschöpfung zur Geltung kommt.
Was aber heißt das genau? Fangen wir damit an, dass wir zwei Arten von Handeln unterscheiden, auf die der Philosoph Jürgen Habermas in seinem Werk „Theorie des kommunikativen Handelns“ hingewiesen hat: zweckrationale und kommunikative Handlungen.
Gerade der Straßenbau und das Verkehrswesen leben typischerweise von der Vorherrschaft des zweckrationalen Handelns. Wer eine Brücke baut, hat ein klares Ziel vor Augen, und wir können jede auf einen Brückenbau bezogene Handlung danach beurteilen, ob sie für das Ziel förderlich ist oder gerade nicht. Dass der Projektleiter gerade eine Magenverstimmung hat oder dass seine Tochter eine 5 in Englisch geschrieben hat, interessiert dabei überhaupt nicht.
Hat der Projektleiter Besprechungen, werden die Ergebnisse durch ein Protokoll dokumentiert. Ganz anders sieht es bei kommunikativen Handlungen aus, etwa dem Zusammensein mit Freunden oder dem Verbringen gemeinsamer Zeit in der Familie. Hier wäre es ausgesprochen merkwürdig, wenn der Projektleiter auch zuhause auf einem Ergebnisprotokoll zum Mittagessen bestehen würde!
Auch im Unternehmen gibt es natürlich Kommunikation, aber eben im Wesentlichen eine zweckrational geprägte! Das bedeutet: Es gibt Erfolgskriterien, es gibt eine Zielausrichtung, und es gibt Maßstäbe für die professionelle Qualität von Handlungen.
Nur, meine Damen und Herren, kein Mensch geht im Gefüge seiner zweckrationalen Handlungen auf. Wenn der Brückenbau-Projektleiter Magenschmerzen hat, möchte er vermutlich mit jemanden darüber reden. Er will als Person, nicht nur als Leistungsträger anerkannt sein. Er will sich selbst in seiner Menschenwürde und in seinem Personwert geschätzt und anerkannt wissen. Und er will einen Sinn in seiner Arbeit sehen.
Bei einer Brücke mag das vom Grundsatz her leicht sein, aber ich erinnere mich auch an eine bestimmte Autobahnbrücke, die ohne Straßenanbindung mindestens 10 Jahre als Denkmal für Planungssicherheit an einer bestimmten Autobahn gestanden ist. Über den Sinn dieser Brücke habe ich lange gegrübelt, weil ich damals oft an ihr vorbei gefahren bin.
Klar ist jedenfalls, dass Menschen Sinnschöpfung in ihrer Arbeit suchen, so dass äußerer Erfolg alleine nicht ausreicht, um auf Dauer zu motivieren. Menschen wollen einen Beitrag zur Gestaltung ihrer Welt, ihrer Umgebung, ihres Arbeitsumfelds leisten. Wer das als Unternehmer nicht beachtet, wird auf Dauer nicht die besten Arbeitskräfte gewinnen und halten können.
Die besten Erfolge zeitigt in diesem Zusammenhang eine konsequente „Philosophie der Anerkennung“, die Stärken benennt, Vertrauen schafft und Weiterentwicklung für jeden einzelnen ermöglicht! Interessanterweise wird bereits durch diese Betrachtung das Thema „Ethik“ zu einem echten Wettbewerbs- und Differenzierungsfaktor! Sage mir, welche Werte Du in Deinem Unternehmen lebst, und ich sage Dir, welches Profil von Menschen Du auf dem Arbeitsmarkt gewinnen kannst! Dabei ist offensichtlich, dass die verbreiteten und in Grenzen durchaus sinnvollen Papiere zu Unternehmenswerten und dergleichen zunächst einmal physisch das sind, was wir in Händen halten: Papier. Werden die entsprechenden Werte von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern so nicht erfahren, dann kommt es zu einer Wahrnehmungs- und Glaubwürdigkeitslücke.
Nehmen wir ein Beispiel dazu. Der Chef sagt „Wir sind ein Team“. Und der eine denkt sich: „Wir sind ein Team, und jeder macht, was er will“. Tatsächlich ist aber gemeint, „Wir sind ein Team, und ich sage allen, wo es entlang geht!“ Das funktioniert wie bei einem fremdsprachigen Film mit Untertiteln. Wir sagen etwas, aber der Untertitel, der wirklich ankommt, kann jedes Wort in sein Gegenteil verkehren!
4 Der unverzichtbare ethische Rahmen wirtschaftlichen Handelns: Gesetze und das menschliche Interesse an Gerechtigkeit
So lässt sich zeigen, dass Werte im Alltag eines Unternehmens eben doch eine praktische Rolle spielen. Und dies gilt bereits auf der rein äußerlichen Ebene, mit der ein Unternehmen in Interaktion mit seiner Umwelt tritt: Der Ebene der Gesetze und der gesellschaftlichen Spielregeln. Dabei spiegeln sich Änderungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Werten über kurz oder lang in Gesetzesänderungen.
Auch hier möchte ich ein Beispiel nennen. Bis vor wenigen Jahren hatten wir in unserer Steuergesetzgebung den Begriff der „nützlichen Abgaben“, speziell für gewisse Aufwendungen im Ausland, die in der Alltagssprache mit dem Begriff der Korruption gekennzeichnet würden. In der Zwischenzeit ist beim Thema „Korruption“ die Unterscheidung von In- und Ausland vollkommen überholt. Gleichzeitig gab es eine Verschärfung der öffentlichen Wahrnehmung, und bestimmte Handlungen, die früher unter den Begriff der „Aufmerksamkeit unter Geschäftsfreunden“ gefallen wären, gelten heute bereits als zweifelsfrei korrupt.
Was hat sich verändert? Der Wert der Ehrlichkeit ja gerade nicht. Ein Wert ist ja schließlich auch dann ein Wert, wenn sich niemand daran hält. Verändert hat sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Werten! Wertewandel ist also, so gesehen, zunächst einmal ein Prozess gesellschaftlicher Verständigung über die Interpretation von Werten. Ist dieser Prozess hinreichend mehrheitsfähig, spiegelt er sich in Gesetzen wie etwa in der ja durchaus sinnvollen Abschaffung von „nützlichen Abgaben“.
Machen wir dazu ein praktisches Experiment. Ich greife hier zurück auf neuere Ergebnisse der Hirnforschung, die zunehmend auf wirtschaftliches Handeln angewandt werden. Man spricht dann von der Neuroökonomie. Hier gibt es ein bahnbrechendes Experiment, das Manfred Spitzer in seinem Buch „Selbstbestimmen“ unter dem Namen „Ultimatumspiel“ zitiert: Je zwei Personen müssen 10 Euro verteilen. Der eine macht einen Vorschlag. Wenn der andere den Vorschlag annimmt, wird das Geld ausgezahlt. Lehnt der andere ab, erhalten beide Mitspieler gar nichts.
Wie ist Ihrer Meinung nach die häufigste Verteilung? Schauen Sie sich am besten Ihren Nachbarn an und überlegen Sie, was Sie ihm anbieten würden! Und welche Zahl wird am häufigsten genannt? Eben nicht 5 und 5, sondern 6 und 4! Nach dem Motto, ein kleiner Zusatzvorteil für mich muss schon drin sein! Umgekehrt wurden Verteilungen wie 7 zu 3, 8 zu 2 oder 9 zu 1 signifikant häufig abgelehnt, obwohl dann keiner der beiden irgendetwas bekommen konnte.
Betrachten wir aber einmal die andere Seite. Viele von uns sind aufgewachsen mit der Theorie vom „homo oeconomicus“, also dem wirtschaftlich rational handelnden Menschen. Dabei lernt man dann Wert von Indifferenzkurven und Nutzenfunktionen. Und wir wissen, sehr schlicht, dass 1 mehr ist als 0. Nach der Theorie vom „homo oeconomicus“ hätte also Ihr Spielpartner eine Verteilung von 9:1 liebend gerne akzeptieren müssen, denn 1 ist mehr als 0!
Was sich dem gesunden Menschenverstand ohne weiteres erschließt, braucht in der Wissenschaft gelegentlich Jahre und Jahrzehnte. Immerhin zeigt das Beispiel, dass Gefühle von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auch im Wirtschaftsleben eine Rolle spielen, ja sogar stärker als das reine Nutzenkalkül sein können. Anders gesagt: Wenn das menschliche Interesse an Gerechtigkeit auch im Wirtschaftsleben eine Rolle spielt, dann können wir das Thema „Ethik“ und „Werte“ aus der unternehmerischen Realität schon praktisch nicht außen vorlassen. Denken Sie beispielsweise an die typischen Schwierigkeiten der Gehaltsfindung, der Lohnstruktur, der freiwilligen Zahlungen und dergleichen, die es in jedem Unternehmen gibt!
Das BGB kennt darüber hinaus noch immer den hanseatischen Begriff des „ehrbaren Kaufmanns“. Er bringt zum Ausdruck, dass zu einem guten Geschäft eben auch ein Geschäftspartner gehört, dem ich vertrauen kann, auf dessen Wort ich mich verlasse und dessen Handschlag noch gilt.
Nun können Sie zwar rufen: „Weit gefehlt!“ Heute kommt es viel eher darauf an, hunderte von Seiten Vertragstext zu entwerfen, um dann die geniale Umgehung des Gemeinten zu finden! Richtig daran ist, dass allein die kaufmännische Ehrlichkeit nicht ausreicht, um zu einem großen Vermögen zu kommen. Es muss mindestens auch eine Begabung auf wirtschaftlichem Feld dazu kommen. Ethik ist also allenfalls eine langfristig notwendige, aber eben keine hinreichende Bedingung für wirtschaftlichen Erfolg!
Trotz allem zeigt das Wort vom „ehrbaren Kaufmann“, dass wirtschaftlicher Mehrwert nicht alles ist. Ich möchte daher im Rahmen der nächsten These zum ethischen Kernwert wirtschaftlichen Handelns vorstoßen, dem wechselseitigen Vertrauen.
5 Vertrauen als Grundlage für ethischen und wirtschaftlichen Mehrwert!
Wer sich ernsthaft mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ethik und Wirtschaft beschäftigt, stößt über kurz oder lang auf die Kernfrage des Vertrauens. Schon in der Evolution erweist sich eine Kombination von Wettbewerb und Kooperation als die überlegene Überlebensstrategie. Kooperation setzt aber Vertrauen voraus. Ökonomisch lässt sich das auch so ausdrücken: Vertrauen senkt Transaktionskosten. Sicherheitskontrollen kosten Geld; sie beseitigen Ungewissheit, schaffen aber kaum Vertrauen.
Ich möchte so weit gehen zu sagen: Ohne Vertrauen ist vernünftiges Wirtschaften gar nicht möglich. Wir brauchen das Grundvertrauen darin, dass unser Nachbar uns nicht hier und jetzt nach dem Leben trachtet. Wir brauchen das Vertrauen in die grundlegenden Systeme des sozialen Miteinanders, also etwa ein Systemvertrauen in den Statiker, der das Gebäude konzipiert und geprüft hat, in dem wir uns befinden. Wenn wir beim Bäcker einkaufen oder uns Getränke besorgen, brauchen wir das Vorschussvertrauen in den Hersteller, dass er uns nicht durch vergiftete Lebensmittel nach dem Leben trachtet. Unabhängig davon schenken wir unseren Familienmitgliedern und Freunden häufig ein hohes Maß an persönlichem Vertrauen.
Das ist alles ebenso banal wie richtig. Im Wirtschaftsleben aber wirkt Vertrauen wie ein Katalysator der Wertschöpfung. Bei jedem Kaufakt, bei jedem Auftrag betreiben wir ein Chancen- und Risikomanagement des Vertrauens.
Im Wirtschaftsleben geht es dabei speziell um das Kompetenzvertrauen. Es bedeutet, dass ich meinem Geschäftspartner die geforderte Leistung tatsächlich zutraue. Wenn ich zu meinem Zahnarzt gehe, erwarte ich, dass er in seiner ärztlichen Kunst auf der Höhe der Zeit steht. Und obwohl ich viel über neue Trends in Marketing und Vertrieb gelesen habe, erwarte ich nicht von ihm, dass er mir im Sinn eines Bündelangebots oder Bundlings auch noch den Ölwechsel bei meinem Wagen macht!
Unternehmen tun gut daran – im ethischen wie im professionellen Sinn – wenn sie sich um eine Schärfung ihres Kompetenzprofils bemühen. Das nennt man heute üblicherweise die Arbeit an den Kernkompetenzen oder die Fokussierung auf das, was ein Unternehmen am besten kann. Erfolgreich ist ein Unternehmen, wenn der Kunde genau das von ihm erwartet, was es besonders gut kann, wenn der Kunde also sein Vertrauen richtig einsetzen kann. Strategie und Ethik sind also bisweilen gar nicht so weit auseinander!
Bringt man diese Überlegungen auf den Punkt, dann lässt sich sogar die These aufstellen: Unternehmen müssen nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch ethischen Mehrwert schaffen! Ethischer Mehrwert soll dann so definiert sein, dass er sich auf das Schaffen und Erhalten von Vertrauen, aber auch auf die Pflege von Ausdrucks- und Selbstentfaltungswerten bezieht! Dies wird offensichtlich, wenn man ein wenig darüber nachdenkt. Das Vertrauen in eine Person, aber auch das Vertrauen in eine Marke oder in ein Unternehmen wird über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut. Manchmal ist es innerhalb von Sekunden zerstört.
Vor kurzem – Ende August – habe ich es erlebt, wie eine bekannte Firma aus dem Gesundheitswesen 220 Mitarbeiter zu einer Auftaktveranstaltung zur Umsetzung einer neuen Regionalorganisation einlud und professionell zu motivieren verstand. Buchstäblich drei Tage später wurde ein neuer Vorstand ernannt, der den Regionalchef sofort davonjagte und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Mail schickte, mit dem die Neuorganisation rückgängig gemacht wurde.
Wie Sie sehen, ist es manchmal gar nicht so einfach, erworbenes Vertrauen wenigstens zu erhalten! Und für ein Unternehmen ist es eine ständige Aufgabe und Herausforderung, dem gewonnenen guten Ruf gerecht zu werden oder sogar noch – wie das neuerdings ausgedrückt wird – weiteres Reputationskapital zu erwerben!
Wenn Unternehmen aber Weg- und Wertgemeinschaften sind, dann verfolgen sie auch das Ziel, das Vertrauen in ihre besondere Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu festigen oder zu erneuern. Gerade große Unternehmen strengen sich mit großem Aufwand an, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gemeinsame Werte zu vermitteln. Das Vertrauen ist daher tatsächlich das Bindeglied zwischen dem ökonomischen und dem ethischen Mehrwert!
Dies gilt auch auf der persönlichen Ebene. Keiner von Ihnen arbeitet „rein zufällig“ dort, wo er arbeitet. Wir alle haben persönliche Wertelandschaften, die von der Farbe der Socken bis zum Essen, dem Urlaubsland, aber auch den sonstigen Vorlieben bis hin zu den Werten der Arbeitswelt gehen. Ihre persönliche Wertelandschaft oder – anders ausgedrückt – Ihr persönlicher Lebensentwurf zeigt sich u. a. in der Wahl Ihres Autos, Ihres Lebensstils, Ihres Lebenspartners, aber natürlich auch Ihres Arbeitsumfeldes.
Und dazu möchte ich noch einmal ein Gedankenexperiment mit Ihnen machen. Stellen Sie sich vor, am Ausgang dieses Raumes befände sich ein Tisch mit einem Mann, der auf legalem Weg zu einem Millionenvermögen gekommen ist. Und der bietet Ihnen, jedem von Ihnen, einen phantastischen Deal an: Sie erhalten das doppelte Gehalt, und Sie arbeiten dafür nur die Hälfte!
Ein phantastisches Angebot, zu dem man sich lediglich fragen muss: Wo ist der Haken? Und das fragen Sie diesen Gesprächspartner auch. Und er wird Ihnen sagen: „Es gibt keinen Haken. Sie sind in der Gestaltung Ihrer Arbeit komplett frei. Sie sollen nur wissen: Ich persönlich halte die Abschaffung der Sklaverei für den größten Irrtum der letzten zwei Jahrhunderte!“
Nun gehen Sie nach Hause, und dann erzählen Sie beim Abendessen von Ihrem Erlebnis.„Ein tolles Angebot! Und endlich ein neues Auto!“ Tatsächlich aber haben die Mitglieder unserer Familien die besondere Eigenschaft, intensiv nachzufragen. Und irgendwann müssen Sie mit der Sprache raus: „Tja, das Angebot ist schon sehr gut, aber der neue Chef hat schon so ein paar komische Ideen…!“ Zum Glück ist diese Geschichte nur ein Gedankenexperiment, denn ich bin gar nicht sicher, wie jeder von uns hier tatsächlich entscheiden würde!
6 Ethisches Handeln und die Grenzen der eigenen Handlungsreichweite
Bei der Frage, welche Arbeitsstelle wir annehmen oder ablehnen, liegt die Entscheidungsfreiheit vollständig bei jedem Einzelnen von uns. Häufig aber gilt das im wirtschaftlichen Bereich gerade nicht. Im Einzelfall ist das unwesentlich. Ich habe jedenfalls noch nie jemanden gesehen, der gekündigt hätte, weil ein Kollege von ihm eine Automarke fährt, die er grundsätzlich ablehnt!
Gelegentlich gibt es aber sehr wohl Konflikte, die einen zur Frage treiben: Will ich gehen oder will ich bleiben? Und auch hier kommen ethische Fragen ersten Ranges zum Tragen. Was soll jemand beispielsweise tun, wenn er davon Wind bekommt, dass ein hochrangiger Mitarbeiter Geld von Lieferanten bekommt? Was ist selbstverständlicher Anstand, was aber Wichtigtuerei oder auch persönliches Risiko?
Handlungsgrenzen kommen aber nicht nur bei Fällen menschlicher Schwäche wie im Beispiel der Korruption ins Spiel, sondern eben auch im Fall der Grenzen unserer Entscheidungsmacht. Das haben etwa die Mitarbeiter einer Fabrik im Schwarzwald erlebt, deren Konzernmutter von einem noch größeren Konzern geschluckt und die daraufhin geschlossen wurde. Die Menschen vor Ort haben auf solche Entscheidungen tatsächlich keinerlei Einfluss. Handlungsgrenzen gelten selbstverständlich auch dort, wo Menschen verblendet sind, die Realität nicht wahrnehmen können oder wollen – mit manchmal tragischen Folgen.
Entscheidungen wie im Fall der Korruption sind persönliche Entscheidungen. Gesetze und allgemeine Regeln helfen hier höchstens zur groben Orientierung. Zur Frage steht jedes Mal die eigene, persönliche Verantwortung: das tue ich, das tue ich nicht. Wir können hier auch von unserer Handlungsreichweite sprechen, und das möchte ich Ihnen gerne veranschaulichen.
Ich bitte Sie daher, einmal kräftig Ihre Hände auszustrecken, bis sie Ihre Fingerspitzen spüren! Bei dieser Übung geht es nicht nur um die bessere Durchblutung unserer Lungen, sondern vor allem um einige soziale Aspekte: Wir spüren die physische Grenze unseres Handelns, und wir nehmen Rücksicht auf andere. Wir können uns natürlich bewegen und damit die Grenzen unserer Handlungsfähigkeit verschieben. Fakt bleibt aber, dass die Grenze unserer Handlungsreichweite auch die Grenze unserer persönlichen Verantwortung bildet.
Keiner von uns ist verantwortlich für das gesamte Elend auf der Welt, aber sehr wohl für manches von dem, was in der eigenen Familie und im eigenen Unternehmen passiert. Und dazu gehört es auch, die Grenzen der eigenen Verantwortung zu kennen und zu manchen Zumutungen im Leben „nein“ zu sagen. In einem Unternehmen kann das selbstverständlich harte Folgen haben – bis hin zur mehr oder weniger einvernehmlichen Trennung, bis hin zum „Verlassen des Feldes“. Dabei kann es im Einzelfall gerade zu geboten sein, wenn jemand sagt: Bis hier her und nicht weiter!
Nun ist der Alltag im Betrieb bei Weitem nicht so dramatisch, dass jeden Tag eine Totalentscheidung zur Frage stünde. Ich möchte daher kurz zusammenfassen, welche ethischen Anforderungen an echtes unternehmerisches Handeln zu stellen sind!
7 Fünf Postulate ethischen Handelns im wirtschaftlichen Leben
Meine Damen und Herren, Vertrauen ist der verbindende Wert zwischen der Welt der Wirtschaft und der Welt der ethischen Werte. Gleichwohl gibt es eine Reihe praktischer Grundanforderungen, denen sich jede Handlung im wirtschaftlichen Feld stellen muss.
7.1 Professionalität
Die erste von ihnen ist die Generalforderung der Professionalität. Das wirtschaftliche Feld ist nach Zwecken geordnet, die letztlich der menschlichen Bedarfsdeckung dienen. Und die erste ethische Forderung ist dabei sehr einfach: Tue das gut, was Du tust. Was würden Sie einem Arzt sagen, der Sie operieren soll, und der Sie damit tröstet: „Machen Sie sich keine Sorgen, für mich ist es schließlich auch die erste Blinddarm-Operation!“
7.2 Wertschöpfung
Ethische Postulate wirtschaftlichen Handelns können folglich gar nicht davon absehen, dass es im Feld der Wirtschaft einige Eigengesetzlichkeiten gibt, die beispielsweise im Feld der Bildung oder der Freundschaft und Liebe nicht gelten.
Dazu gehört etwa das ethische Postulat der Wertschöpfung. Ein Unternehmen, das keine Wertschöpfung betreibt, hört über kurz oder lang auf zu existieren. Es hat keine Daseinsberechtigung. Umgekehrt sollten wir uns aber auch nicht einreden lassen, Wertschöpfung sei unethisch! Im Gegenteil: Der moralisierende Generalverdacht gegen Unternehmen ist auch aus ethischen Gründen zumindest voreilig und in aller Regel nicht gerechtfertigt!
Meine Damen und Herren, diese Überlegungen sind allgemein bekannt. Neu ist an dieser Stelle lediglich, dass es sich bei der Wertschöpfung eben auch um ein ethisches Postulat handelt. Professionelles Können und hohe Wertschöpfung haben damit aber auch einen ethischen Eigenwert!
7.3 Strategie
In eine ähnliche Richtung zielt das ethische Postulat der Strategie. Die Strategie verhilft zur langfristigen Orientierung und trägt zur Vertrauensbildung im Unternehmen und in seinem Umfeld bei. Zur ethisch guten Unternehmensführung gehört also eine klare, langfristige, sachgerechte und verlässliche Strategie! Stellen Sie sich ein Unternehmen nach dem Motto „Jede Woche eine neue Strategie“ vor! Auf Dauer kann ein solches Unternehmen nicht erfolgreich sein.
Damit ist nicht gesagt, dass jeder Handwerksbetrieb eine Hochglanzpräsentation einer teuren Unternehmensberatung braucht. Strategien können und dürfen auch implizit sein, sich also beispielsweise an der Person des Firmeninhabers festmachen. Klar ist aber auch: Je größer ein Unternehmen ist, umso wichtiger wird es sein, Strategien explizit auszuformulieren, und zwar – aus ethischer Perspektive – aus dem Gebot der Sachgerechtigkeit heraus!
7.4 Transparente Kommunikation
Das vierte ethische Postulat guter Unternehmensführung ist die transparente Kommunikation. Menschen sind auf Kommunikation angewiesen, um sich zu verständigen. Kommunikation ist das was wirkt, nachdem man aufgenommen hat, was gesagt wurde.
In diesem Sinn sind wir für die Wirkungen unserer Kommunikation mitverantwortlich. Für gute Unternehmensführung heißt das, wahrhaftig, zeitnah, offen und anspruchsgerecht zu kommunizieren. Wahrhaftig, das heißt: alles, was gesagt wird, ist wahr – aber niemand kann verlangen, dass jederzeit alles gesagt wird, was man weiß. Nicht jeder hat einen ethisch gerechtfertigten Auskunftsanspruch.
Wenn es etwa um Entscheidungen wie den Verkauf oder die Verlagerung einer Fabrik geht, hat die Belegschaft einen vorrangigen Informationsanspruch vor der Presse und der weiteren Öffentlichkeit. Sie sollte also zeitnah und wenigstens einen halben Tag früher als die Presse informiert werden. Wirkung solcher transparenter und anspruchsgerechter Kommunikation ist einmal mehr Glaubwürdigkeit und Vertrauen.
Das Gegenteil tritt bei offener, zeitnaher, aber nicht anspruchsgerechter Vorgehensweise ein wie wir das etwa im Mannesmann-Prozess beim Victory-Zeichen von Josef Ackermann, dem Chef der Deutschen Bank, beobachten konnten.
7.5 Persönlichen Verantwortung
Schließlich und letztlich möchte ich auf das ethische Postulat der persönlichen Verantwortung eingehen. In vielen Unternehmen – und auch in der Politik – wird so etwas wie kollektive Verantwortungsflucht betrieben. Keiner bekennt sich wirklich zu seiner Verantwortung. Die Berufung auf Sachzwänge verdeckt gelegentlich, dass es sich um grundlegende Wert- und Beziehungskonflikte handelt.
Natürlich wissen wir alle, dass Systeme wie Staat, Gesellschaft, aber auch Firmen eine enorme Prägekraft haben, die Menschen in ihrer Berufsrolle formen und verformen können. Dennoch gilt der Grundssatz: Systeme prägen, aber Menschen handeln. Jeder einzelne Mensch hat seine persönliche Handlungsreichweite, für die er höchstpersönlich verantwortlich ist. Was darüber hinausgeht, dafür muss er nicht einstehen. Für alles andere aber sehr wohl!
Dabei sind Konflikte nicht auszuschließen. Sie gehören zum Leben dazu. Meistens finden wir Kompromisse, aber im Extremfall wird es sogar um das Verlassen des Feldes gehen! Persönliche Verantwortung aber kann und darf niemals aufgegeben werden, und immer wieder begegnen wir Personen, die trotz erheblichen Systemdrucks prägende und gestaltende Spuren hinterlassen haben! Nelson Mandela, Martin Luther King, aber auch Johannes Paul II sind hier Beispiele, die mich persönlich ansprechen.
Meine Damen und Herren, bevor ich zum Schluss komme, möchte ich kurz darauf eingehen, ob und wie das Gesagte sich auf Verkehr und Straßenbau anwenden lässt.
8 Leitplanken für eine Ethik des Straßenbaus und Verkehrs
Wenn jemand eine Straße plant und baut, denkt er kaum an Ethik. Dennoch stehen hinter Verkehr und Straßenbau massive Interessen, die einer ethischen Reflexion zugänglich sind: Von den militärischen Interessen Roms (denn diese standen beim römischen Straßenbau im Vordergrund) bis zu den Handels- und Mobilitätsinteressen der Neuzeit.
Und bis heute wissen wir, wie ambivalent eine schlichte Umgehungsstraße wirken kann, denn die Bewertung des Hauptnutzens „Mobilität“ und seiner Nebenfolgen wie Lärm und Umweltverschmutzung klafft bisweilen weit auseinander!
In diesem Zusammenhang lohnt der Hinweis auf die Verbindung von neuen Technologien und ethischen Bewertungen. Jede neue Technologie wirft neue ethische Fragen auf und relativiert andere – so z. B. die Atomkraft und die Gentechnologie.
Dies gilt auch für die moderne Fahrzeugtechnik mit Stichworten wie dem Katalysator, dem Hybridantrieb und dem Rußfilter: Solche Entwicklungen relativieren beispielsweise die ökologische Ambivalenz des Straßenverkehrs.
Auch gesellschaftliche Entwicklungen sind nicht ohne ethischen Hintergrund zu verstehen: So wirft die Frage nach der elektronischen Maut und dem „Road Pricing“ die Frage nach dem Verursacherprinzip auf individueller Ebene genau dort auf, wo solche Technologie neu zur Verfügung steht.
Im gleichen Atemzug werden Straßen vom unbestritten öffentlichen Gut zu privaten Vermögensgegenständen, allenfalls unter staatlicher Regieaufsicht. Das Thema PPP (Public Private Partnership) zeigt hier Entwicklungen auf, die vor 10 Jahren noch undenkbar waren. Ethisch gesehen, sind Interessenverschiebungen in einem Gemeinwesen legitim, wenn grundlegende Fragen der Gerechtigkeit beachtet werden.
Es spricht jedenfalls nichts dagegen und vieles dafür, in unseren Straßen auch die politische und ethische Aufgabe einer Infrastruktur der Freiheit zu sehen. Dass diese Aussage nicht ganz realitätsfern ist, können Sie an einem Straßenatlas 1989 und 2006 erkennen. Vor dem Fall der Mauer waren wesentliche Verkehrsachsen in Deutschland wie etwa die A 3 und die A 7 Nord-Süd-Achsen. Die politische Freiheit nach 1989 hat sehr schnell bedeutet, auch in neue Verkehrswege zu investieren, die von Ost nach West oder umgekehrt laufen.
Die politische Bewertung von Mobilität sehen Sie im Übrigen an der jeweils aktuellen Politik bei der Mineralöl-, der Umsatz- und der Einkommensteuer. Ohne einer einseitigen Sichtweise Vorschub zu leisten, können wir sehr wohl sehen, dass persönliche Mobilität für viele Menschen in Deutschland einen extrem hohen Stellenwert hat. Längst gehört die Mineralölsteuer zu den drei Steuerarten mit dem höchsten Aufkommen!
Ist es dann, meine Damen und Herren, nicht eine Lebenslüge unserer Gesellschaft und unserer Politik, wenn wir wissentlich Millionen von Stunden in absehbaren Staus auf überlasteten Strecken wie etwa der A 8, aber auch anderen, in Kauf nehmen? Spricht daraus nicht auch die Überheblichkeit staatlicher Bevormundung, nach dem Motto „Wenn Du schon nicht die Bahn nehmen willst, dann beklage Dich auch nicht über den Stau!“
9 Schluss: Integrität als Brücke zur Balance ethischer und wirtschaftlicher Ziele
Lassen Sie uns zum Schluss kommen. Ethische Überlegungen bringen wesentliche, zusätzliche Perspektiven in unternehmerische, aber auch politische Entscheidungen ein. Ethik kann dabei nicht ohne weiteres die Richtung einer Entscheidung vorwegnehmen, also etwa nach dem Motto „Bahn fahren ist immer gut, Auto fahren ist immer schlecht“. Die Methode der Güterabwägung, die nach dem größtmöglichen Gut und dem kleinstmöglichen Übel sucht, verhilft aber sehr wohl zu nachdenklich stimmenden Bewertungen.
Dabei können wir nicht gegenseitig von uns erwarten, dass wir in allen Detailfragen übereinstimmen. Dafür ist die Welt zu komplex. Wir können aber sehr wohl dafür Sorge tragen, dass wesentliche Aspekte eingebracht, angehört und bewertet werden. Wir können auf die Übereinstimmung von Wort und Tat achten, auf das, was in der Summe unsere persönliche Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit ausmacht.
Auf der Ebene der Unternehmen bedeutet Integrität die Verlässlichkeit in den Augen von Kunden, Lieferanten, Mitarbeitern und Aktionären, etwa durch langfristige Lieferbeziehungen, klare Strategien und Stimmigkeit im Außenauftritt. Dazu gehört auch die Absicherung gegen Missbrauch und die Aktivierung von Selbsterneuerungskräften in Krisensituationen. Unternehmen und alle sozialen Systeme sind dann auf dem Weg zu Integrität, wenn sie in ihren Entscheidungen erkennbar auf dem Pfad der Unbestechlichkeit und der Geradlinigkeit gehen. Solche Unternehmen werden dann ihrerseits integre, aber auch fähige Persönlichkeiten anziehen.
Richtig gesehen, gibt es am Ende doch einen Korridor der Übereinstimmung zwischen den persönlichen Werten, die jeder von uns hat, und den Werten der Firma, bei der er arbeitet. Wird die Spannung zu groß, kommt es zu heftigen Reaktionen. Unternehmen passen daher ebenso zu den einzelnen Personen wie umgekehrt.
Ich möchte daher zum Schluss noch ein letztes Gedankenexperiment mit Ihnen machen. Als zivilisierte Mitteleuropäer schauen wir in der Regel mindestens einmal täglich in den Spiegel. Und was Sie dort sehen, ist ein ganzer Mensch.
Im Roman „Il conte dimezzato“ (Der halbierte Baron) von Italo Calvino wird von einer Persönlichkeit erzählt, die eines Morgens aufwacht und nur noch eine Hälfte von sich zur Verfügung hat. Stellen Sie sich das einmal vor, meine Damen und Herren! Zum Glück aber ist es noch keinem von uns passiert. Das heißt aber auch, dass wir dazu aufgerufen sind, in allen unternehmerischen, privaten, politischen und gesellschaftlichen Funktionen daran zu denken, dass wir am Ende des Tages ganze Menschen sind. Zur Ganzheitlichkeit gehört auch, dass wir uns und anderen in die Augen sehen können.
Darum genau geht es bei Integrität, und genau das ist – mindestens mittelfristig – durchaus ein Erfolgsfaktor wirtschaftlichen Handelns.
Ich wünsche Ihnen in diesem Sinn eine Schärfung der Wahrnehmung für ethische Fragestellungen und Konfliktlösungen und lade Sie dazu ein, persönliche Verantwortung und Integrität sowohl als persönliches wie auch als unternehmerisches Ziel ernst zu nehmen!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Literaturverzeichnis
J.Bakan, Das Ende der Konzerne, Leipzig 2005
J.Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.1-2, Frankfurt/M. 1981 U.Hemel, Wert und Werte, Ethik für Manager, München 2005
H.Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1999 R.S.Pindyk/D.L.Rubinfeld, Microeconomics, Upper Saddle River N.J. 2001
M.Spitzer, Selbstbestimmen, Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun, München 2004 |