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1 Einleitung
Das Mobilitätsverhalten der Personen v. a. in industrialisierten Ländern wird zunehmend vielfältiger. Die Verkehrsmittelnutzung wird variabler, so dass Personen nicht nur ein Verkehrsmittel, wie beispielsweise das Auto, nutzen, sondern mehrere – sei es nur auf einem Weg (Intermodalität) oder über mehrere Tage (Multimodalität) [1,2]. DieseVeränderungen im Mobilitätsverhalten haben auch Auswirkungen auf die Modellierung der Verkehrsnachfrage. Um Multimodalität auf Personenebene modelltechnisch abbilden zu können, ist ein Verkehrsnachfragemodell notwendig, das über einen längeren Zeitraum (z. B. eine Woche) das Verkehrsverhalten der einzelnen Personen in ihrer Stabilität und Variabilität simuliert.
Die Region Stuttgart hat für die Entwicklung des Regionalverkehrsplans sowie für darüber hinausgehende Planungsaufgaben ihre Datengrundlagen aktualisiert. Die durchgeführte Haushaltsbefragung zum Mobilitätsverhalten ist die repräsentative Grundlage für die Modellierung der Verkehrsnachfrage in der Region. Darauf aufbauend wurde ein regionsweites makroskopisches Verkehrsmodell zur Abbildung der Verkehrsbelastungen an einem durchschnittlichen Werktag erstellt. Um das Mobilitätsverhalten unter den Wirkungen von zukünftigen Rahmenbedingungen auf der Ebene der Einzelentscheidungen widerspruchsfrei abbilden zu können, wurde für die Region zusätzlich zum makroskopischen Modell ein mikroskopisches, längsschnittorientiertes Verkehrsmodell mit dem Multi-Agenten-Modell mobiTopp erstellt.
Durch eine mikroskopische Betrachtung wird es möglich, für individuelle Verhaltensweisen Konsistenz- und Plausibilitätsprüfungen durchzuführen. Weiterhin können Einzelpersonen mit unterschiedlichen individuellen Tagesabläufen und Zeitbudgets abgebildet werden. Der wesentliche Vorteil der mikroskopischen Simulation besteht darin, dass die Heterogenität des Verhaltens, insbesondere die Stabilität und die Variabilität des Zielwahlverhaltens und des Verkehrsmittelwahlverhaltens der Personen, auch innerhalb von bislang als „verhaltenshomogen“ bezeichneten Gruppen abgebildet werden kann.
Basis für die mikroskopische Modellierung der Verkehrsnachfrage in der Region Stuttgart war die durchgeführte längsschnittorientierte Haushaltsbefragung, in der alle durchgeführten Wege im Laufe einer Woche von in ca. 5.000 Haushalten lebenden Personen in der Region Stuttgart erhoben wurden. Durch den Berichtszeitraum von einer kompletten Woche ist es möglich, die Variabilität und Stabilität der Ziel- und Verkehrsmittelwahl zu analysieren, und darauf aufbauend in einem Multi -Agenten-Modell abzubilden, welches das Verkehrsverhalten der 2,7 Mio. Einwohner der Region über den Verlauf einer gesamten Woche simuliert. Dabei werden sämtliche Wege der Einwohner mit den gewählten Zielen und den benutzten Verkehrsmitteln abgebildet, wobei auch zeitliche und räumliche Abhängigkeiten der Wahlentscheidungen berücksichtigt werden. Jeweils einer simulierten Person mit bestimmten soziodemografischen oder sozioökonomischen Eigenschaften wird ein empirisch vorliegendes Mobilitätsverhalten zugeordnet. Damit kann für jede Person ein in sich konsistentes Verhalten gezeigt werden. Diese mikroskopische Datenbasis wird durch eine Synthese aller Haushalte und Personen im Modellgebiet gebildet. Zusammen mit ihren individuellen Aktivitätenketten für eine ganze Woche bilden sie eine vollständige Beschreibung des Verkehrs der Einwohner der Region. Entscheidend ist, dass die Beibehaltung des Haushalts- und Personenkontextes deutlich verbesserte kausale Zusammenhänge bei speziellen Fragestellungen ermöglicht, als bisherige Modellansätze.
Ergebnis dieser mikroskopischen Nachfragesimulation ist eine Verkehrsnachfragedatei aller Agenten, die mit der Datei einer 7-Tage-Vollerhebung im Planungsraum vergleichbar ist. Somit liegen Daten einer synthetisch erzeugten Haushaltsvollerhebung vor, bei deren Auswertung alle Freiheitsgrade gegeben sind (z. B. multimodales Verkehrsverhalten, Abhängigkeiten im Haushaltskontext etc.).
Das vorliegende Papi er beschreibt die Erstellung und Schätzung der Ziel - und Verkehrs-mittelwahlmodelle im Längsschnitt sowie den Ablauf des Multi-Agenten-Modells mobiTopp.
Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Analyse und Modellierung der Variabilität und Stabilität des Verkehrsverhaltens im Verlauf einer gesamten Woche in räumlicher und zeitlicher Hinsicht.
2 Ergebnisse der Haushaltsbefragung Region Stuttgart zum Ziel- und Verkehrsmittelwahlverhalten
In der empirischen Verkehrsforschung sind wegetagebuchbasierte Befragungen ein gängiges Instrument zur Ermittlung der Verkehrsnachfrage und zur Erklärung des Mobilitäts-verhaltens. In der Region Stuttgart wurde 2009/2010 eine große längsschnittorientierte Mobilitätsbefragung durchgeführt, in der die Personen in der Stichprobe ihr Mobilitäts-verhalten nicht nur für einen einzelnen Stichtag sondern über einen Zeitraum von sieben aufeinander folgenden Tagen berichteten („Wochenbefragung“). Wegen der Tag-zu-Tag-Variabilität des Verhaltens von Personen können mit dem Ansatz der Mehrtagesbefragung viele relevante Aspekte des individuellen Mobilitätsverhaltens genauer als in Befragungen mit nur einem Berichtstag erfasst werden. Speziell lassen sich mit derartigen Daten statistische Modelle des Verkehrsverhaltens um eine „dynamische Komponente“ erweitern.
Im Folgenden werden ausgewählte statistische Modelle zur Ziel - und Verkehrsmittelwahl im Wochenverlauf dargestellt. Die aus diesen Modellen resultierenden Parameterschätzwerte dienten zur Kalibrierung des Multi-Agenten-Modells mobiTopp.
2.1 Datengrundlagen: Mobilitätserhebung Region Stuttgart 2009/2010
Die vorliegenden Analysen basieren auf einer vom Verband Region Stuttgart in Auftrag gegebenen Erhebung zum Mobilitätsverhalten der Einwohner der Region Stuttgart1 im Unter-suchungszeitraum 2009/2010. Die Mobilitätserhebung wurde in Form einer Haushaltsbefragung durchgeführt, deren Design sich am Deutschen Mobilitätspanel (MOP)2 orientiert: Alle Personen ab 6 Jahre eines ausgewählten Haushalts berichteten mit Hilfe eines Wege-tagebuchs ihr Mobilitätsverhalten über einen Zeitraum von sieben aufeinander folgenden Tagen („Wochenbefragung“).
Der Untersuchungszeitraum (Feldphase) der Erhebung lag zwischen September 2009 und April 2010. Die eigentliche Erhebung konzentrierte sich auf die weitgehend urlaubsfreien Zeiträume Herbst 2009 (Mitte September bis Mitte Dezember) und Frühjahr 2010 (Mitte Januar bis Mitte April). Die 7-tägigen Berichtsperioden der ausgewählten Haushalte wurden gleichmäßig über diese beiden Untersuchungszeiträume verteilt. Zusätzlich wurde die Haushaltsstichprobe in sieben Untergruppen entsprechend der „Erstberichtstage“ (Montag, Dienstag usw. ) für das Führen des Wegetagebuchs zerlegt.
Ausgehend vom Konzept der Wochenbefragung wurde die Gesamtstichprobe in zwei Teilstichproben – genannt Haupterhebung und Kontrollerhebung – zerlegt, wobei die Haupt-erhebung telefonisch (CATI) bzw. webbasiert (CAWI: Online-Befragung) und die Kontroll-erhebung schriftlich-postalisch, d. h. analog zum Deutschen Mobilitätspanel, durchgeführt wurde. Die Befragungsinhalte von Haupt- und Kontrollerhebung waren identisch, so dass für die Hochrechnung der Ergebnisse die Gesamtstichprobe benutzt werden konnte. Aufgabe der Kontrollerhebung war es, vor dem Hintergrund des Deutschen Mobilitätspanels als „Referenzerhebung“ den so genannten Instrumenteneffekt zu ermitteln, der aus dem forschungsökonomisch motivierten Übergang von der schriftlich-postalischen zur computerunterstützten bzw. webbasierten Befragungsform resultiert. Eine Analyse der Ergebnisse der unterschiedlichen Erhebungsver fahren findet sich unter Kagerbauer et al. [3].
Die resultierende Gesamtstichprobe aus Haupt- und Kontrollerhebung kann wie folgt gekennzeichnet werden (ungewichtet; Personen ab 6 Jahre):
• Anzahl der befragten Haushalte: 5.567 (inkl. Aufstockung)
• Anzahl der befragten Personen: 12.999
• Anzahl der erfassten Personentage: 90.993
• Anzahl immobiler Personentage: 12.276
• Anzahl der erfassten Wege: 275.913
• Anzahl der erfassten Ausgänge: 122.745
Eine detaillierte Darstellung des Erhebungs- und Stichprobendesigns sowie des Gewichtungs- und Hochrechnungsverfahrens findet sich in Verband Region Stuttgart (Hrsg.) 2011 [4]. Die im Folgenden beschriebenen Analysen wurden auf Basis der ungewichteten Daten durchgeführt.
2.2 Zielwahl im Wochenverlauf
Bei der statistischen Modellierung des Zielwahlverhaltens ging es darum, für jeden Wegezweck (außer Arbeit und Ausbildung) die Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, mit der bei einem weiteren Weg des jeweiligen Wegezwecks im Wochenverlauf ein neues Ziel im Sinne von Zielzone bzw. Verkehrszelle gewählt wird.
2.2.1 Methodik
Deskriptive Analysen zeigen, dass für die Wege eines bestimmten Zwecks die jeweiligen Ziele nicht unabhängig voneinander gewählt werden. Es lässt sich vielmehr eine – je nach Zweck unterschiedlich starke – Tendenz zur wiederholten Wahl derselben Ziele bzw. Zielzonen feststellen. So nimmt zwar beispielsweise mit steigender wöchentlicher Freizeitwegehäufigkeit die mittlere Anzahl sich unterscheidender Zielzonen für Freizeitaktivitäten zu, das Wachstum ist dabei allerdings degressiv. Der Grund hierfür liegt in folgender Gesetzmäßigkeit: Je mehr Freizeitaktivitäten eine Person pro Woche ausübt, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine zuvor bereits gewählte Zielzone im Verlauf der Woche nochmals zu Freizeitzwecken aufgesucht wird.
Auf der Basis von Daten der Haushaltsbefragung zur Zielwahl von Personen für die Wege im 7-tägigen Berichtszeitraum wurde ein dynamisches Modell der Zielwahl im Wochenverlauf entworfen, welches der Bedeutung gewohnheitsmäßigen Verhaltens bei der Wahl der Wegeziele Rechnung trägt. Es handelt sich um ein Regressionsmodell, welches auf der Wege-Ebene die Wahrscheinlichkeit für die erneute Wahl eines bereits zuvor gewählten Ziels („Replikation einer früheren Zielwahlentscheidung“) in Abhängigkeit von bestimmten Einflussgrößen darstellt. Aus technischen Gründen wurde das Modell allerdings nicht auf die Replikation einer früheren Zielwahlentscheidung sondern auf die „Erstmaligkeit“ bzw. „Neuheit“ des gewählten Ziels (erstmalige Wahl eines zuvor noch nicht gewählten Ziels; kurz: Wahl eines „neuen“ Ziels) abgestellt. Innerhalb eines bestimmten Wegezwecks gilt das Ziel (in Sinne von Zielzone) des k-ten Weges einer Person als „neu“, wenn es bei den Wegen mit den Ordnungsnummern 1 bis k-1 nicht gewählt worden ist. Damit das Wahrscheinlichkeitsmodell statistisch geschätzt werden kann, musste differenziert nach Wegezwecken für jeden Weg einer Person das binäre Merkmal „Wegeziel ist ‚neu’ (ja/nein)“ als neue Variable in die Auswertungsdatei aufgenommen werden. Dieses dichotome Merkmal stellt die abhängige Variable im Regressionsmodell (binäres Logit-Modell) dar und ist für den jeweils ersten Weg einer Person innerhalb eines bestimmten Wegezwecks nicht definiert.
Als bedeutsame Einflussgrößen erwiesen sich die folgenden Merkmale des Weges bzw. der Person:
• Ordnungsnummer des Weges (zweckspezifisch) – „WegNr“
• Quelle des Weges (Wohnung, Arbeit, Ausbildung / Sonstiges) – „Quelle“
• Gemeindetyp des Wohnorts der Person (LHS Stuttgart / Mittelzentrum, Oberzentrum / sonstige Gemeinde) – „Gemeinde“Das Merkmal „Gemeindetyp des Wohnortes“ kann als Proxy-Variable betrachtet werden, durch welche die unterschiedliche Feinheit der Untergliederung des personenspezifischen Aktionsraums in Verkehrszellen – als den potenziellen Zielzonen von Wegen – charakterisiert wird.
2.2.2 Ausgewählte Ergebnisse
Betrachtet man beispielhaft das Logit-Modell für den Wegezweck „Einkauf für den täglichen Bedarf“, so hängt die Wahrscheinlichkeit P für die Wahl eines „neuen“ Ziels in erster Linie von der Ordnungsnummer des Weges ab, d.h. davon, wie viele Wege der betreffenden Art (Wegezweck) die Person im Wochenverlauf bereits durchgeführt hat. Alle drei Einflussfaktoren WegNr, Gemeinde und Quelle (in dieser Reihenfolge) sind signifikante Bestimmungsgrößen der „Neuziel-Wahrscheinlichkeit“ P. Die einzelnen Parameterschätzwerte sind in Tabelle 1 dargestellt.
Tabelle 1: Parameterschätzwerte des binären Logit-Modells für die Wahl eines neuen Einkaufsziels im Wochenverlauf (Einkäufe für den täglichen Bedarf)
Mit Hilfe des Chancenverhältnisses (Odds Ratio) kann die Stärke des Einflusses der drei Faktoren zahlenmäßig zum Ausdruck gebracht werden. So ist z. B. die Chance für „neues“ Wegeziel bei Wegen der Einwohner der Landeshauptstadt Stuttgart ceteris paribus mehr als doppelt so hoch (Faktor 2,29) wie bei Wegen der Einwohner der sonstigen Gemeinden der Region:
exp(0,8287)/exp(0) = 2,29
In erster Linie kann dieses Resultat der unterschiedlichen Feinheit der Verkehrs-zelleneinteilung zugeschrieben werden. Die Stadt Stuttgart ist in viele kleine Zellen untergliedert, während die Zahl der Zellen je Gemeinde sonst deutlich kleiner ist.
Wie man sieht, nimmt die „Neuziel-Wahrscheinlichkeit“ sehr deutlich mit der Ordnungsnummer des Weges ab. Es wäre also eine unzulässige Vereinfachung, bei der Simulation der Zielwahl die Wege derselben Person als voneinander unabhängige Ereignisse zu betrachten. Insgesamt wurde für 10 Wegezwecke ein solches Modell geschätzt.
2.3 Verkehrsmittelwahl im Wochenverlauf
Wenn im Folgenden von „Verkehrsmitteln“ gesprochen wird, so sind damit stets die folgenden Arten der Verkehrsteilnahme gemeint:
• zu Fuß
• Fahrrad
• Pkw-Fahrer
• Pkw-Mitfahrer
• öffentliches Verkehrsmittel (ÖV).
Im hier verwendeten Mobilitätsdatenbestand ist das Merkmal „Verkehrsmittel“ (genauer „benutztes Verkehrsmittel“) ein Wegemerkmal, bei welchem keine Mehrfachnennungen betrachtet werden. Bei dem hier verfolgten Ansatz des Hauptverkehrsmittels des Weges wurden keine Verkehrsmittelkombinationen gebildet. Da sich die hier vorliegenden Mobilitätsdaten auf einen jeweils 7-tägigen Berichtszeitraum beziehen, kann das Verkehrsmittelwahlverhalten von Personen nicht nur im Tages- sondern auch im Wochenverlauf untersucht werden. Damit werden u. a. vertiefende Analysen zum Thema „Multimodalität“ möglich, die für die Modellierung des Verkehrsmittelwahlverhaltens von Bedeutung sind.
2.3.1 Methodik
Deskriptive Analysen, in denen die Wege von Personen jeweils in ihrer zeitlichen Reihenfolge betrachtet werden, zeigen, dass es gar nicht so häufig zu einem Wechsel des Verkehrsmittels kommt. Dies hängt damit zusammen, dass ein Verkehrsmittelwechsel im Wesentlichen nur zwischen zwei aufeinanderfolgenden „Ausgängen“ der Person3 auftritt, nicht aber zwischen zwei aufeinanderfolgenden Wegen innerhalb desselben Ausgangs. Daraus leitet sich die Schlussfolgerung ab, dass ein Modell der Verkehrsmittelwahl idealerweise „dynamisch“ sein sollte in dem Sinne, dass das beim „aktuellen“ Weg benutzte Verkehrsmittel ganz wesentlich davon abhängt, mit welchem Verkehrsmittel die betreffende Person den unmittelbar vorausgegangenen Weg zurückgelegt hat.
Die Auswahlwahrscheinlichkeiten für die fünf möglichen Verkehrsmittelalternativen werden mit Hilfe zweier Discrete-Choice-Modelle (bedingte Logit-Modelle; vgl. McFadden 1974 [5]), die auf der Wege-Ebene formuliert sind, berechnet:
• Modell 1: Verkehrsmittelwahl für den ersten „zu Hause“ beginnenden Weg der Woche
• Modell 2: Verkehrsmittelwahl für den zweiten und weitere Wege der Person im Wochenverlauf
Modell 1 dient dazu, für jede Person die Ausgangssituation hinsichtlich der Verkehrs-mittelnutzung zu bestimmen, während mit Hilfe von Modell 2 ermittelt wird, wie sich im weiteren Verlauf die Verkehrsmittelwahl der Person von Weg zu Weg entwickelt. Im Sinne des oben angesprochenen dynamischen Ansatzes ist im Modell 2 das beim vorausgegangenen Weg benutzte Verkehrsmittel ein wesentlicher Bestimmungsfaktor für die Verkehrsmittelwahl beim aktuellen Weg.
Im Folgenden wird für die beiden Modelle 1 und 2 dargestellt, welche allgemeinen (d. h. wege-, personen- und haushaltsspezifischen) und alternativenspezifischen Merkmale sich als signifikante Bestimmungsfaktoren der Verkehrsmittelwahl erwiesen haben.
Haushalts- und personenspezifische Faktoren:
• Haushaltstyp (Einpersonenhaushalt, 2 Erwachsene, Haushalt mit Kindern, Sonstiges) – „hhtyp“
• Allgemeine Pkw-Verfügbarkeit (ja, nein, teilweise) – „pkwverf“
• Zeitkartenbesitz ÖPNV (ja, nein) – „zeitköpnv“
• Personengruppe (Schüler 6-9 J., Schüler ab 10 J., Auszubildende, Studierende, Erwerbstätige bis 40 J., Erwerbstätige ab 41 J., Nicht-Erwerbstätige, Rentner) – „pgrup“
• Pendelwegentfernung (in km) – „pendelkm“Wegspezifische Faktoren:
• Wochentagstyp (Werktag, Samstag, Sonntag) – „wtagtyp“
• Kurzweg, d.h. Wegeentfernung ≤ 1 km? (ja, nein) – „kurzweg“
• Wegezweck (Arbeit, Ausbildung, dienstlich, Einkauf, Freizeit, Rundweg, Service, private Erledigung, in Modell 2 zusätzlich Heimweg) – „zweck“
• Parkdruck (Parkplatzsuchdauer in Min.) in der Zielverkehrszelle – „parkdruck“
• Wegeentfernung (in km) – „km“
Alternativenspezifische Faktoren
• Reisezeit (in Min.)
• Reisekosten (in Cent) pro km
Die Reisekosten wurden als „spezifische“ Reisekosten (Kosten pro km) in das Modell eingeführt. Grund hierfür ist die hohe Korrelation zwischen Reisezeit (in Minuten) und Reisekosten (in Cent). Unter „Pendelwegentfernung“ ist die beim ersten Weg der Person zur Arbeits- bzw. Ausbildungsstätte (sofern vorhanden) zurückgelegte Entfernung zu verstehen.
Als dynamisches Modellelement wurde in Modell 2 zusätzlich das von der betreffenden Person beim zeitlich direkt vorausgegangenen Weg benutzte Verkehrsmittel („vmlast“) eingestellt.
2.3.2 Ausgewählte Ergebnisse
Der Test des bedingten Logit-Modells für die Verkehrsmittelwahl beim ersten zu Hause beginnenden Weg der Woche (ab Montag) zeigt die in Tabelle 2 dargestellten Ergebnisse4.
Tabelle 2: Bedingtes Logit-Modell für die Verkehrsmittelwahl beim ersten zu Hause beginnenden Weg ab Montag
An den Chi-Quadrat-Werten lässt sich die Einflussstärke der einzelnen Faktoren grob ablesen. In diesem Modell geht somit vom Besitz einer Zeitkarte für den ÖPNV der stärkste Einfluss auf die Verkehrsmittelwahl aus – gefolgt vom Wegezweck und der Pkw-Verfügbarkeit. Auch hängt die Wahl des Verkehrsmittels davon ab, ob es sich um einen kurzen Weg (Distanz bis 1 km) handelt sowie davon, wie schwierig es ist, in der Zielzone einen Parkplatz zu finden.
Da die Zahl der Parameter des bedingten Logitmodells sehr groß ist, soll hier auf eine Darstellung verzichtet werden. Als Beispiel können die Parameterschätzwerte für die Variablen Reisezeit (-0,0102) und -kosten (-0,0282) genannt werden. Mit wachsender Reisezeit und wachsenden Reisekosten pro km sinkt also die Wahrscheinlichkeit der Wahl des betreffenden Verkehrsmittels. Das „Chancenverhältnis“ (Odds Ratio) ist dementsprechend jeweils kleiner als 1 und beträgt
0,990 für den Faktor Reisezeit (exp(-0,0102) = 0,9899)
bzw.
0,972 für den Faktor Reisekosten pro km (exp(-0,0282) = 0,9722).
Konkret bedeutet dies Folgendes: Eine Zunahme der Reisezeit um 1 Minute bzw. der spezifischen Reisekosten um 1 Cent/km führt zu einer Verringerung der Auswahl-wahrscheinlichkeit für die betrachtete Verkehrsmittelalternative um 1,0 % bzw. 2,8 % (gemeint ist hier die prozentuale Änderung der Auswahlwahrscheinlichkeit, nicht die absolute Änderung der Auswahlwahrscheinlichkeit in Prozentpunkten).
Auch in den anderen Parameterschätzwerten spiegeln sich zu erwartende Strukturen wider, so z. B., dass mit zunehmender Pkw-Verfügbarkeit
• der Anteil der Wege, bei denen das Verkehrsmittel „MIV-F (MIV-Fahrer)“ gewählt wird, steigt und
• der Anteil der Wege, die mit anderen Verkehrsmitteln (zu Fuß, ÖV, MIV-MF (MIV-Mitfahrer) und Rad) durchgeführt werden, sinkt.
Das um die Variable „beim zeitlich direkt vorausgegangenen Weg benutztes Verkehrsmittel(vmlast)“ ergänzte Discrete Choice-Modell für die Verkehrsmittelwahl beim zweiten und den weiteren Wegen im Wochenverlauf sieht im Hinblick auf das Bedeutungsgewicht der einzelnen Einflussgrößen wie in Tabelle 3 dargestellt aus.
Tabelle 3: Bedingtes Logit-Modell für die Verkehrsmittelwahl bei zweiten und weiteren Wegen ab Montag
Die gegenüber dem ersten Modell zusätzlich aufgenommene Variable „vmlast“ übt hier bei weitem den stärksten Einfluss auf die Verkehrsmittelwahl beim aktuellen Weg aus, d.h. die Wahlwahrscheinlichkeit hängt mit Abstand am stärksten davon ab, mit welchem Verkehrsmittel der vorausgegangene Weg durchgeführt worden ist. Durch die Hinzunahme dieses Faktors erhöht sich die Zahl der zu schätzenden Parameter nochmals deutlich, allerdings nimmt dadurch auch die Anpassungsgüte des Modells zu. Aus den Parameterschätzwerten lassen sich Wahlwahrscheinlichkeiten für die einzelnen Verkehrsmittelalternativen bestimmen, die dann im Multi-Agenten-Modell zur Simulation der Verkehrsmittelwahl benutzt wird.
3 Modellablauf mobiTopp
mobiTopp ist ein agentenbasiertes Verkehrsnachfragemodell, d. h. jede Person des Planungsraums wird im Modell als virtuelle Person, als sogenannter Agent, abgebildet. Die Verkehrsnachfrage wird chronologisch über den Verlauf einer Woche simuliert, indem alle Agenten simultan ihre jeweiligen Aktivitäten und die dazu notwendigen Wege durchführen.
Für die Aktivitäten führen sie jeweils eine Zielwahl, für die Wege eine Verkehrsmittelwahl durch. Ergebnis der Simulation ist eine Wege-Datei, die für alle Agenten über den Verlauf einer Woche sämtliche Wege mit ihren Attributen wie Startzeit, Dauer, genutztes Verkehrsmittel, Zweck etc. enthält.
Der Ablauf von mobiTopp gliedert sich in zwei Phasen: Eine Initialisierungsphase, in der die längerfristigen Entscheidungen modelliert werden, die über den Ablauf der kompletten Simulation konstant bleiben und eine Phase der chronologischen Simulation des Verkehrsverhaltens, in der die kurzfristigen verkehrsrelevanten Entscheidungen modelliert werden.
In der Initialisierungsphase findet die Bevölkerungssynthese mit Zuordnung der Aktivitätenprogramme (Wochentag, Zweck, Dauer, geplanter Beginn) statt. Außerdem werden in dieser Phase die festen Ziele der Personen wie Schul-, Ausbildung- oder Arbeitsplatz, der Pkw-Besitz des Haushalts und der ÖV-Zeitkartenbesitz zugeordnet. Dabei bilden Daten aus regionalen oder nationalen Mobilitätserhebungen, wie etwa dem Deutschen Mobilitätspanel, die Grundlage für die Bevölkerungssynthese. Die Bevölkerungssynthesefindet sukzessiv für alle Verkehrszellen statt. Dabei wird für jede Verkehrszelle des Planungsraums anhand vorgegebener Randsummen für Variablen auf Haushalts- bzw. Personenebene zufällig eine Stichprobe aus den Mobilitätsdaten gezogen, so dass die Stichprobe mit den vorgegebenen Randsummen möglichst gut übereinstimmt. Die Ziehung erfolgt dabei haushaltsbasiert, d. h. es werden immer komplette Haushalte mit allen zugehörigen Personen gezogen, wodurch die Konsistenz des Haushaltskontexts sichergestellt ist. Anschließend wird jeder Person ein Aktivitätenprogramm für den Verlauf einer Woche zugeordnet, indem das Aktivitätenprogramm einer korrespondierenden Person aus der Mobilitätserhebung übernommen wird. Das Aktivitätenprogramm besteht aus einer Sequenz von Aktivitäten, wobei für jede Aktivität die Informationen Wochentag, Dauer der Aktivität, gewünschter Beginn und Zweck der Aktivität, z. B. Arbeiten, Einkaufen(untergliedert nach täglicher Bedarf und sonstiger Einkauf), mehreren Arten von Freizeit etc., hinterlegt sind. Der Pkw-Besitz des Haushalts wird aus den Daten der Mobilitätserhebung übernommen. Die Zuordnung der Arbeitsplätze erfolgt anhand vorgegebener Pendlermatrizen, wie sie etwa aus Daten der Bundesagentur für Arbeit gewonnen werden können. Bei der Zuordnung der Arbeitsplätze wird darauf geachtet, dass die Pendelweglänge der Agenten im Modell der Pendelweglänge der jeweiligen zugehörigen Person aus derMobilitätserhebung ähnlich ist. Mittels eines Logit-Modells wird anschließend der Besitz von ÖV-Zeitkarten bestimmt und mit den vorliegenden Daten z B. der Verkehrsverbünde kalibriert.
In der Simulationsphase führen die Agenten die Aktivitäten ihrer Aktivitätenprogramme durch. Die Simulation erfolgt chronologisch in 1-Minuten-Schritten über den Zeitraum einer kompletten Woche. Agenten, die im aktuellen Zeitschritt eine Aktivität beendet haben, betrachten die nächste Aktivität in ihrem Aktivitätenprogramm und führen dann unter Berücksichtigung des Zwecks ihrer nächsten Aktivität eine Zielwahl für diese Aktivität durch. Für den sich daraus ergebenden Weg führt der Agent unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel eine Verkehrsmittelwahl durch und führt den Weg durch. Sofern der Agent von zuhause startet und MIV als Verkehrsmittel gewählt hat, reduzieren sich dadurch die im Haushalt aktuell verfügbaren Pkw um die Anzahl eins. Agenten, die im aktuellen Zeitschritt einen Weg beendet haben, beginnen nun ihre Aktivität durchzuführen. Falls sie gerade nach Hause zurückgekehrt sind, geben sie gegebenenfalls zuvor ihren Pkw ab, so dass dieser anderen Agenten desselben Haushalts ab diesem Zeitpunkt wieder zur Verfügung steht. Nachdem alle Agenten in diesem Zeitschritt eine Aktivität oder einen Weg beendet haben, wird die Uhr einen Zeitschritt weitergezählt und die Agenten bestimmt, die in diesem nächsten Zeitschritt eine Aktivität oder einen Weg beenden.
3.1 Input
mobiTopp benötigt als Input verschiedene Daten. Für die Bevölkerungssynthese werden soziodemografische Daten auf Verkehrszellenebene genutzt, die die Struktur der Bevölkerung beschreiben (Altersgruppe x Geschlecht, Berufsstatus, Haushaltsgröße x Pkw-Besitz). Aus Mobilitätserhebungen werden die Haushalte und Personen mit ihren Attributen benötigt sowie die Aktivitätenprogramme der Personen, die für jede Aktivität die Attribute Wochentag, Beginn, Dauer und Zweck umfassen. Für die Zuordnung der festen Ziele, d. h. Arbeitsplatz, Schul- bzw. Ausbildungsplatz werden sogenannte Pendlermatrizen benötigt, d. h. die Beziehungen Wohnzelle-Arbeitsplatzzelle bzw. Wohnzelle-Schul/-Ausbildungs-platzzelle. Für die chronologische Verkehrsverhaltenssimulation werden Gelegenheiten (z. B. Einkaufgelegenheiten, Freizeitmöglichkeiten etc.) je Zweck verkehrszellenfein sowie Entfernungs-, Kosten- und Reisezeitmatrizen benötigt.
3.2 Initialisierung
Die Bevölkerungssynthese erfolgt auf Verkehrszellenebene Zelle für Zelle. Sie besteht aus der eigentlichen Bevölkerungssynthese, bei der basierend auf 12 Haushaltstypen (Haushaltsgröße x Anzahl Pkw im HH) die notwendige Anzahl Haushalte aus den Daten der Mobilitätserhebung zufällig gezogen wird. Mit dem Haushalt werden gleichzeitig alle zum Haushalt gehörenden Personen mit ihren Aktivitätenprogrammen (Wochentag, Zweck, Dauer, geplanter Beginn) ausgewählt.
Die zufällige Ziehung der Haushalte erfolgt folgendermaßen: Basierend auf den auf Verkehrszellenebene vorgegebenen Verteilungen für die Haushalte (Haushaltsgröße x Pkw-Besitz) und Personen (Altersgruppe x Geschlecht, Berufsstatus) wird für jeden Haushalt aus den Mobilitätsdaten eine Wahrscheinlichkeit zur Ziehung berechnet. Anhand dieser Wahrscheinlichkeiten wird dann die notwendige Anzahl an Haushalten zufällig ausgewählt, d. h. für jeden der zwölf Haushaltstypen wird die vorgegebene Anzahl Haushalte zufällig aus den Daten der Mobilitätserhebung gezogen (gewichtete Zufallsstichprobe mit Zurücklegen). Mit der Haushaltsziehung erfolgt gleichzeitig die Zuordnung der Personen, da alle in der Mobilitätserhebung zum Haushalt gehörenden Personen mit ihren soziodemografischen Attributen auch im Modell dem Haushalt zugeordnet werden. Dabei wird unter anderem auch die Pendelentfernung zum Arbeits-/Ausbildungsplatz aus den Erhebungsdaten übernommen. Außerdem wird den Personen ihr Aktivitätenprogramm, das in der Mobilitätserhebung berichtet wurde, zugeordnet.
Die Zuordnung des Pkw-Besitzes (Anzahl Pkw im Haushalt) erfolgt implizit bei der Haushaltsziehung, indem die Anzahl der Pkw aus der Mobilitätserhebung übernommen wird.
Für Ziele, die regelmäßig aufgesucht werden, wie etwa Arbeitsplatz oder Schule, wird im Verlauf der Simulation keine Zielwahl durchgeführt. Stattdessen werden diese Ziele im Kontext der Bevölkerungssynthese einmal zugewiesen und sind dann für die gesamte Simulation fix.
Die Verteilung der Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze wird aus Pendlermatrizen übernommen. Bei der Modellierung in der Region Stuttgart wurden die Matrizen aus einem bereits existierenden makroskopischen Verkehrsmodell übernommen. Es wird abhängig vom Berufsstatus unterschieden zwischen folgenden Typen von festen Zielen: Arbeitsplatz, Grundschule, weiterführenden Schule, Berufsschule, Hochschule, sonstige Ausbildung. Für jeden dieser unterschiedlichen Typen wird für die vorgegebene Heimatzelle die Anzahl der Personen für jede potentielle Zielzelle aus der zugehörigen Pendlermatrix ausgelesen. Diese Anzahlen werden so skaliert, dass sie mit der Anzahl der Personen für diesen Typ der Heimatzelle übereinstimmt. Die Zielzellen werden dann so auf die Personen verteilt, dass eine möglichst gute Übereinstimmung mit der berichteten Pendelentfernung aus der Mobilitätserhebung besteht, d. h. Personen mit einer kleinen Pendelentfernung aus der Erhebung erhalten auch einen kurzen Pendelweg im Modell, Personen mit großer Pendelentfernung in der Erhebung erhalten einen langen Pendelweg im Modell. Damit wird sichergestellt, dass die Aktivitätenprogramme der Personen zu ihren Pendelweglängen kompatibel sind.
Die Zuordnung des Zeitkartenbesitzes erfolgt auf Personenebene mittels eines Logit-Modells. Hierzu wurde ein Logit-Modell basierend auf den Variablen Landkreis, Beruf, Pkw-Verfügbarkeit, Geschlecht und Pkw pro Person im Haushalt geschätzt.
3.3 Zielwahl
Die Zielwahl berücksichtigt, dass bestimmte Ziele wiederholt aufgesucht werden. Dabei wird unterschieden zwischen Aktivitäten (Arbeiten, Ausbildung), bei denen immer wieder dieselben Ziele aufgesucht werden und Aktivitäten, bei denen die Ziele im Prinzip flexibel sind (z. B. Freizeit, Einkaufen), bei denen es aber auch zum wiederholten Aufsuchen desselben Ziels kommen kann. Hierzu ist das Zielwahlmodell zweistufig aufgebaut, wobei in der ersten Stufe entschieden wird, ob ein bereits gewähltes Ziel erneut aufgesucht wird oder ein neues Ziel gewählt wird (Längsschnittmodell der Zielwahl, vgl. Kap. 2.2) und in der zweiten Stufe das konkrete Ziel gewählt wird.
Bei der Zielwahl wird unterschieden, ob es sich um eine Aktivität mit einem festen Ziel handelt (Wohnen, Arbeit, Ausbildung) oder um eine Aktivität mit einem flexiblen Ziel. Im Falle einer Aktivität mit festem Ziel wird das Ziel verwendet, das in der Initialisierungsphase bestimmt wurde. Im Falle einer Aktivität mit flexiblem Ziel wird überprüft, ob im Verlauf der Woche bereits eine Aktivität desselben Typs durchgeführt wurde. Falls noch keine Aktivität desselben Typs (Zwecks) durchgeführt wurde, wird mit Hilfe eines auf einem Gravitations-modell beruhenden Zielwahlmodells unter allen Zellen ein Ziel bestimmt.
Falls bereits eine oder mehrere Aktivitäten desselben Typs durchgeführt wurden, wird mit Hilfe des Längsschnittmodells der Zielwahl ermittelt, ob ein bereits gewähltes Ziel erneut aufgesucht oder ein neues Ziel gewählt werden soll. Falls das Längsschnittmodell ergibt, dass ein bereits gewähltes Ziel aufgesucht werden soll, wird mit Hilfe des Zielwahlmodells unter allen bereits für diesen Zweck genutzten Zielen gewählt. Ergibt das Längsschnitt-modell, dass ein neues Ziel gewählt werden soll, wird mit Hilfe des Zielwahlmodells unter den bisher für diesen Zweck noch nicht gewählten Zielen ein neues Ziel bestimmt.
Bei dem auf dem Gravitationsmodellansatz basierenden Zielwahlmodell werden die Gelegenheiten in den potentiellen Zielen, die Reisezeiten, Kosten sowie die verfügbaren Verkehrsmittel berücksichtigt. Dabei werden nicht nur Reisezeit und Kosten zum potentiellen Ziel betrachtet, sondern zusätzlich auch noch Reisezeit und Kosten vom potentiellen Ziel zum nächsten festen Ziel (vgl. [6]).
Für eine Person, die sich in Zelle i befindet, ergibt sich die Wahrscheinlichkeit Zelle j als Ziel zu wählen wie in Gleichung (1) beschrieben:
Formel (1) siehe PDF.
Dabei sind ??? die Gelegenheiten für Zweck z in Zelle j, ??? und ??? die Reisezeiten bzw. Kosten für einen Weg von Zelle i nach Zelle j, p die Zelle des nächsten festen Ziels (Arbeit, Ausbildung, Wohnen) und I das monatliche Haushaltseinkommen geteilt durch die Personenzahl des Haushalts. ??,??,?? sind Modellparameter für den Zweck z.
Die Modellparameter für jeden Zweck wurden mittels eines Logit-Modells geschätzt. Hierzu wurden zu jedem gewählten Ziel zufällig 100 nicht gewählte Alternativen gezogen und auf dieser Basis das Modell geschätzt.
3.4 Verkehrsmittelwahl
Als Verkehrsmittelwahlmodell wird in mobiTopp ein Logit-Modell verwendet. Um zu berücksichtigen, dass die Verkehrsmittelwahl für einen Weg nicht immer unabhängig vom auf dem vorhergehenden Weg genutzten Verkehrsmittel ist, kommt das Modell 2 aus Abschnitt 2.3.1 zum Einsatz. Außerdem wird die Verkehrsmittelverfügbarkeit berücksichtigt.
Bei der Verkehrsmittelwahl im Modell wird unterschieden, ob es sich um den ersten Weg des Agenten in der Woche oder um einen weiteren Weg handelt. Im Falle des ersten Weges kommt das Verkehrsmittelwahlmodell für den ersten Weg (Modell 1 in Abschnitt 2.3.1) zum Einsatz, da keinerlei Information über das davor genutzte Verkehrsmittel zur Verfügung steht. Für alle weiteren Wege kommt prinzipiell das Verkehrsmittelwahlmodell für die weiteren Wege (Modell 2 in Abschnitt 2.3.1) zum Einsatz. Um das Modell realistischer zu gestalten, wird hier allerdings die Einschränkung gemacht, dass nicht immer alle Verkehrsmittel zur Verfügung stehen: Wenn sich eine Person außer Haus befindet, ohne dass der Weg dorthin mit dem Pkw zurückgelegt wurde, soll der Pkw auch nicht zur Verfügung stehen. Im Modell wird das so gehandhabt, dass das volle Choice Set (MIV, ÖV, zu Fuß, Rad, Mitfahrer) immer nur dann vorhanden ist, wenn der Agent sich zu Hause befindet und momentan ein Auto verfügbar ist. Befindet sich der Agent nicht zu Hause, so sind in Abhängigkeit vom zuvor genutzten Verkehrsmittel unterschiedliche Choice Sets vorhanden. War das letzte genutzte Verkehrsmittel MIV, so steht auch nur der MIV zur Verfügung. War das letzte Verkehrsmittel Rad, so steht nur das Verkehrsmittel Rad zur Verfügung. War das letzte genutzte Verkehrsmittel zu Fuß, ÖV oder Mitfahrer so steht das Choice Set bestehend aus zu Fuß, ÖV und Mitfahrer zur Verfügung.
3.5 Output
Der Output von mobiTopp besteht aus drei Dateien: Haushalts-, Personen- und Wegedatei. Die Haushaltsdatei enthält neben der Haushalts-ID die Attribute der Haushalte wie Haushaltsgröße und Anzahl Pkw sowie die Verkehrszelle, in der sich der Haushalt befindet. Die Personendatei enthält neben Personen-ID und Haushalts-ID die Attribute der Personen wie Alter, Geschlecht, Berufsstatus, Zeitkarten- und Führerscheinbesitz sowie die Verkehrszelle, in der sich der Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz befindet. Die Wegedatei enthält neben Haushalts-ID und Personen-ID die Attribute der Wege: Wochentag, Uhrzeit Beginn, Uhrzeit Ende, Dauer, Verkehrszelle, in der der Weg begann, Verkehrszelle, in der der Weg endete, Länge des Weges, Modus, Zweck der folgenden Aktivität sowie die Dauer der folgenden Aktivität.
4 Ergebnisse der Längsschnittmodellierung
Mit der mikroskopischen Datei, die aus dem Multi-Agenten-Modell mobiTopp resultiert, kann eine Vielzahl von verschiedenen Auswertungen durchgeführt werden (z. B Weglängenverteilung nach Zweck, Beruf, Modus, Wochentag, Zweck und Beruf, Beruf und Modus etc. oder Weglängen, Modal Split nach Berufsstaus, Zweck, Haushaltsgröße, Geschlecht u. v. m.). Hierbei sind alle Freiheitsgrade vorhanden, die auch bei der Auswertung einer Haushaltsbefragung gegeben sind, jedoch mit dem Unterschied, dass die modellierten Daten Auswertungen bis ins tiefste Detail erlauben, da keine Einschränkungen hinsichtlich der Fallzahlen in den Auswertungen vorhanden sind, weil modellierte Daten über alle Personen eines Planungsraums zur Verfügung stehen.
Im Folgenden werden beispielhaft drei Auswertungen gezeigt, die sich auf die räumliche und zeitliche Differenzierung beziehen und die mono- bzw. multimodale Verhaltensweisen darstellen. Abbildung 1 zeigt den Modal Split nach dem Wohnort der Personen. Die blauen Balken basieren auf den modellierten Daten mit mobiTopp, die roten Balken stammen aus der Erhebung.
Abbildung 1 Modal Split nach Wohnort der Personen
Wie zu erwarten war, existieren Unterschiede im Verkehrsmittelwahlverhalten in urbanen Räumen (z. B. Stuttgart) und eher suburbanen Räumen (z. B. Vaihingen/Enz) beispielsweise hinsichtlich der ÖV-Nutzung. Diese Verhaltensunterschiede, die erhoben wurden, bildet auch das Modell ab.
Abbildung 2 zeigt den Modal Split für die gesamte Region Stuttgart hinsichtlich der unterschiedlichen Wochentage (Montag bis Sonntag). Hier ist zu sehen, dass die Erhebungsdaten und die modellierten Daten im Wesentlichen übereinstimmen. Die Wochentage Montag bis Freitag sind untereinander relativ ähnlich, während der Samstag und v. a. der Sonntag einen unterschiedlichen Modal Split aufweist.
Abbildung 2 Modal Split nach Wochentag
In Abbildung 3 ist eine Auswertung der Verkehrsmittelnutzungsmuster der Personen in der Region Stuttgart zu sehen.
Abbildung 3 Multimodales Verkehrsverhalten in der Region Stuttgart
Der linke Teil der Abbildung beschreibt die Nutzung der Verkehrsmittelkombinationen aller Personen im Laufe einer Woche. Dabei können die genannten Verkehrsmittel mehrfach benutzt worden sein. Der rechte Teil der Abbildung beschreibt den Anteil der Personen, die im Laufe einer Woche mindestens einmal das genannte Verkehrsmittel genutzt hat, unabhängig von anderen Verkehrsmittelnutzungen.
Die Abbildung zeigt, dass die Ergebnisse des Modells ähnlich mit den Ergebnissen der Befragung sind. In der Region Stuttgart gibt es einen hohen Anteil der Personen, die nur den Pkw nutzen. Allerdings ist auch die multimodale Verkehrsnutzung sehr verbreitet in der Region Stuttgart. Es ist möglich, diese Auswertungen auch nach der Soziodemografie der Nutzer oder weiteren Kriterien zu differenzieren.
5 Zusammenfassung und Ausblick
Mit dem vorliegenden mikroskopischen Multi-Agenten-Modell ist es nun möglich, das Mobilitätsverhalten für jeden Einwohner eines Planungsraums über den Zeitraum einer Woche mit den gewählten Verkehrsmitteln und den Zielen in räumlicher (Verkehrszellenebene) und zeitlicher Hinsicht zu beschreiben.
In Rahmen der Zielwahl wurden Algorithmen entwickelt, die die Variabilität und Stabilität der gewählten Ziele im Verlauf einer Woche beschreiben. Das Verkehrsmittelwahlmodell modelliert Gewohnheiten in der Verkehrsmittelnutzung im Laufe einer Woche. Es berücksichtigt sowohl Personen, die eher ein monomodales Verkehrsmittelwahlverhalten haben, als auch Personen, die sich multimodal verhalten. Das Ergebnis des Multi-Agenten-Modells ist eine Datenbasis, die aufgebaut ist wie eine Haushaltsvollerhebung und mit der auf Haushalts-, Personen- und Wegeebene Auswertungen durchgeführt werden können.
Entscheidend beim mikroskopischen Modell ist, dass die Beibehaltung des Haushalts- und Personenkontextes deutlich verbesserte kausale Zusammenhänge bei speziellen Fragestellungen liefert als bisherige Modellansätze. Mit den mikroskopischen Daten sind alle Freiheitsgrade gegeben und es können z. B. folgende Auswertungen durchgeführt werden:
• Differenzierte Auswertung in räumlicher (z. B. Verkehr der Einwohner eines Planungsraums oder eines Teiles davon (Stadtteile)) und zeitlicher Hinsicht (z. B. Verkehrsmittelnutzung in unterschiedlichen Zeiträumen am Tag bzw. in einer Woche)
• Identifikation von Nutzerkreisen bestimmter Verkehrsmittel für gezielten Marketingeinsatz, Identifikation von Verkehrsmittelnutzungsmustern (multimodale Personen, gelegentliche ÖV-Nutzer, Captives (Nutzergruppen, die nur oder nie ÖV nutzen))
• Abbildung von Kosten für Mobilität z. B. auf Haushaltsebene
• Des Weiteren fallen diese modellierten Daten im Vergleich zu einer Haushaltserhebung nicht unter Datenschutzaspekte, so dass diese auch weitergegeben werden können.
Mit Hilfe dieses Modells können Untersuchungen durchgeführt werden, die Maßnahmen oder Szenarien berechnen, die auf Einzelentscheidungen von Personen wirken und über Verhaltensänderungen abgebildet werden. Diese sind z. B. Auswirkung von Maut, Elektromobilität, Kohorten- und Alterseffekte etc.
Dieses Modell ist darüber hinaus geeignet, um Nutzungsmuster von Pkw und Ladevorgänge für Elektromobilität durch die mikroskopische Modellierung der einzelnen Personen bzw. Fahrzeuge abzubilden. Im baden-württembergischen Schaufensterprojekt „eVerkehrsraum Stuttgart“ im Rahmen des Living Labs BWe mobil wird derzeit das Modell dahingehend erweitert.
6 Literatur
[1] Institut für Mobilitätsforschung (ifmo) (2011). „Mobilität junger Menschen im Wandel – multimodaler und weiblicher,“ Institut für Mobilitätsforschung (ifmo), München.
[2] Lanzendorf M. und R. Schönduwe, (2010). „Wandel mobilitätsbezogener Wertorientierungen junger Erwachsener? Stand der Forschung“; Studie im Auftrag des Instituts für Mobilitätsforschung (ifmo), Goethe Universität, Frankfurt am Main.
[3] Kagerbauer, M.; Manz, W. und D. Zumkeller (2013). „Analysis of PAPI, CATI and CAWI Methods for a Multi-Day Household Travel Survey.” in: Transport Survey Methods: Best Practice for Decision Making; Herausgeber: Johanna Zmud, Martin Lee-Gosselin and Juan Antonio Carrasco; Kap. 15; Emerald Group Pub.; ISBN-10: 1781902879, ISBN-13: 978-1-78190-287-5; Bingley, United Kingdom.
[4] Verband Region Stuttgart (Hrsg.) (2011). „Begleituntersuchungen zur Fortschreibung des Regionalverkehrsplans – Band 1: Mobilität und Verkehr in der Region Stuttgart 2009/2010. Regionale Haushaltsbefragung zum Verkehrsverhalten.“ Schriftenreihe Verband Region Stuttgart, Nummer 29. (http://www.region-stuttgart.org/vrsuploads/Mobilitaet-Band1_Schriftenreihe_Nr29_Maerz2011.pdf).
[5] McFadden, D. (1974). “Conditional Logit Analysis of Qualitative Choice Behaviour.” In: Zarembka, P. (Hrsg.). Frontiers in Econometrics, Academic Press, New York, S. 105-142.
[6] Waßmuth, V. (2001). „Modellierung der Wirkungen verkehrsreduzierenden Siedlungskonzepte.“ Karlsruhe: Heft 60, Schriftenreihe des Instituts für Verkehrswesen, Universität Karlsruhe. |