FGSV-Nr. FGSV 002/137
Ort Bergisch Gladbach
Datum 19.04.2023
Titel Entwicklung der Luftschadstoffemissionen bei Tempo 30 als innerörtliche Regelgeschwindigkeit
Autoren Matthias Schmaus, Sebastian Eggers, Jörg Uhlig
Kategorien Luftqualität
Einleitung

Hintergrund

In vielen Städten und Gemeinden erzeugt der Kfz-Verkehr große Probleme, die sich u. a. im Unfallgeschehen, in der Lärm- und Luftschadstoffbelastung, der CO2-Bilanz und unzureichenden Aufenthaltsqualitäten zeigen. Eine Möglichkeit zur Reduzierung dieser Probleme ist eine geringere zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts.

Die vom Umweltbundesamt durchgeführten Projekte „Umweltwirkungen einer innerörtlichen Regelgeschwindigkeit von 30 km/h“11 (im Folgenden kurz „Umweltwirkungen von Tempo 30“) und „Flüssiger Verkehr für Klimaschutz und Luftreinhaltung“12 (im Folgenden kurz „Flüssiger Verkehr“) behandeln die Auswirkungen von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts, unter anderem auf die Luftschadstoffemissionen. Für wenige ausgewählte Hauptverkehrsstraßen gehen die Untersuchungen weiterhin von einer höheren zulässigen Höchstgeschwindigkeit aus.

11 FKZ 3720 15 108 1: LK Argus GmbH, ARGUS Stadt und Verkehr, LÄRMKONTOR GmbH

12 FKZ 3719 58 102 0: Lehrstuhl für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik der Universität Stuttgart, Institut für Straßen- und Verkehrswesen der TU Graz, PTV Transport Consult GmbH

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Untersuchungsgegenstand: Modellregionen und Ausgestaltung der Maßnahme

Im Projekt „Umweltwirkungen von Tempo 30“ wird der Verkehr in drei Städten (Halle, Göttingen, Ravensburg) untersucht, das Projekt „Flüssiger Verkehr“ betrachtet den Verkehr in drei Stadtregionen (Dresden, Magdeburg, Stuttgart).

Die betrachteten Beispielstädte und -regionen haben unterschiedliche Strukturen. Mit Blick auf die Bedeutung für die Wirkung einer Absenkung der Regelgeschwindigkeit innerorts sind insbesondere zu nennen: Der Anteil ländlicher Bereiche im Gemeindegebiet bzw. in der Region, die Einwohnerdichte, die Siedlungsstruktur, insbesondere hinsichtlich Dichte, Ausdehnung und Durchmischung, der Anteil von Fernstraßen mit gebietsfremden Verkehren im Gemeindegebiet bzw. in der Region sowie die ÖPNV-Struktur und -Qualität. In Tabelle 1 sind die grundlegenden Strukturgrößen der untersuchten Städte zusammengefasst.

Tabelle 1: Strukturgrößen der untersuchten Städte

Die beiden Vorhaben berücksichtigen die Einführung von Tempo 30 im Innerortsbereich räumlich unterschiedlich:

  • „Flüssiger Verkehr“ nimmt an, dass deutschlandweit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Innerortsbereichen eingeführt wird.
  • „Umweltwirkungen von Tempo 30“ simuliert Tempo 30 nur in der jeweiligen Beispielstadt.

Insofern ist bei der Interpretation der Ergebnisse zu beachten, dass bezüglich der Rahmenbedingungen unterschiedliche Maßnahmen verglichen werden. In beiden Vorhaben wird nur der Straßenverkehr (Fahrzeugkategorien Pkw, Leichte Nutzfahrzeuge LNF, Schwere Nutzfahrzeuge SNF) innerhalb des administrativen Stadtgebiets der Beispielstädte bilanziert.13 Ein- und auspendelnde Verkehre machen davon aber einen bedeutenden Anteil aus. Diese werden bei „Flüssiger Verkehr“ zusätzlich durch die in den umliegenden Gemeinden ebenfalls geltende herabgesetzte Regelgeschwindigkeit beeinflusst. Bei „Umweltwirkungen von Tempo 30“ gibt es diesen Einfluss nicht, da in den Nachbargemeinden der Beispielstädte weiterhin Tempo 50 gilt.

13  Im Projekt „Flüssiger Verkehr“ werden die Wirkungen für die gesamten Stadtregionen untersucht. Um eine Vergleichbarkeit zwischen den Projekten herzustellen, wurden zusätzlich die Wirkungen, die innerhalb der zentralen Städte der Regionen (Stadtgebiete Dresden, Magdeburg und Stuttgart) auftreten, ausgewertet. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse unterscheiden sich damit von denen des

Die Auswahl der Strecken, die durch die Maßnahme betroffen sind, wurde in beiden Projekten vergleichbar getroffen, nämlich Tempo 30 auf allen innerörtlichen Straßen, außer auf ausgewählten mehrstreifigen Magistralen, wo auch im Maßnahmenfall eine höhere Geschwindigkeit zulässig ist. Die Ausnahmen sind in den Projektberichten dargestellt. Trotz vergleichbarer Kriterien ergeben sich in Abhängigkeit von den Strukturen im Gemeindegebiet unterschiedliche Anteile der von Tempo 30 betroffenen Streckenlänge bzw. Fahrleistung in den jeweiligen untersuchten Städten (Tabelle 2). Die von der Maßnahme betroffenen Streckenanteile sind weniger aussagekräftig als die Fahrleistungsanteile, da die berücksichtigte Streckenlänge stark von der Tiefe des Netzmodells in der verwendeten Modellgrundlage abhängen. Die Fahrleistungsanteile beziehen sich auf die Fahrleistung aller modellierten Fahrzeugkategorien (Pkw, SNF, LNF).

Tabelle 2: Von einer Herabsetzung der Regelgeschwindigkeit betroffene Strecken- und Fahrleistungsanteile

Modellierungsansatz

Die verkehrlichen Auswirkungen der Maßnahme wurden in den Verkehrsnachfragemodellen der jeweiligen Städte bzw. Stadtregionen simuliert.

Die Vorhaben treffen bei der Modellierung unterschiedliche Annahmen und verwenden teilweise unterschiedliche Datengrundlagen:

  • „Flüssiger Verkehr“ setzt in der Simulation eine um 10 Prozent geringere Streckenkapazität infolge von Tempo 30 ausgehend von Tempo 50 und eine um 6 Prozent geringere Kapazität bei Tempo 30 ausgehend von Tempo 40 an. „Umweltwirkungen von Tempo 30“ setzt eine unveränderte Kapazität an. Die Ansätze bilden damit die Spannweite der Annahmen ab, die nach derzeitigem Erkenntnisstand möglich In der Praxis bestehen verschiedene Ansätze zur Modellierung der Zeitverluste an Knotenpunkten und auf der freien Strecke. Die Annahme aus „Flüssiger Verkehr“ beruht auf Simulationen, die eine um bis zu 10 Prozent reduzierte Kapazität an LSA-Knoten zeigen. „Umweltwirkungen von Tempo 30“ berücksichtigt, dass sich die Kapazitätsreduzierungen nur auf Fahrbeziehungen mit Sättigungsverkehrsstärke auswirken – was in der Regel nur einen Strom je Phase zu den Tagesspitzen betrifft. Es besteht derzeit keine wissenschaftliche Grundlage dafür, eines der beiden Vorgehensweisen zu bevorzugen. Die an dieser Stelle bestehende Lücke in den wissenschaftlichen Grundlagen wird derzeit in einem BASt-Forschungsvorhaben mit dem Titel „Nachweis der Auswirkungen von Tempo 30 auf die LSA-Steuerung und Kapazität (77.0523)“ bearbeitet.
  • „Flüssiger Verkehr“ geht davon aus, dass die ÖPNV-Angebotsqualität von Tempo 30 nicht in relevantem Umfang beeinträchtigt wird. „Umweltwirkungen von Tempo 30“ berücksichtigt die Wirkung von Fahrzeitverlusten auf die Verkehrsnachfrage auch beim ÖPNV.
  • Die Emissionsfaktoren werden in beiden Projekten aus derselben Version des Handbuchs für Emissionsfaktoren entnommen (HBEFA Version 4.1). Die Zuordnung der Straßenkategorien war bei „Umweltwirkungen von Tempo 30“ bereits in den verwendeten Verkehrsnachfragemodellen hinterlegt. Die Zuordnung war bei „Flüssiger Verkehr“ ein wichtiger Bestandteil des Projektes, die Methodik kann dem Projektbericht entnommen werden.

Wirkungen auf die Verkehrsnachfrage

Die Wirkungen auf den Modal Split sind in Tabelle 3 gegenübergestellt.

Tabelle 3: Änderung der Modal-Split Anteile durch Tempo 30 (Aufkommensbezogener Modal-Split, Quell-, Ziel- und Binnenverkehre)

Es zeigen sich in Summe ähnliche Tendenzen bei den betrachteten Beispielstädten. Grundsätzlich sinkt durch ein Herabsetzen der Regelgeschwindigkeit der MIV-Anteil, die Anteile des Fuß- und Radverkehrs nehmen zu. Lediglich in Ravensburg zeigt der MIV ein positives Vorzeichen, Fuß- und öffentlicher Verkehr dagegen ein negatives, da hier die Fahrzeiterhöhungen für den ÖPNV überwiegen.

Die Reduzierung des MIV-Anteils durch die Maßnahme ist bei „Flüssiger Verkehr“ im Mittel höher, weil die reduzierte Regelgeschwindigkeit nicht nur für Straßen innerhalb der betrachteten Gemeinde angenommen wird, sondern auch Straßen in den Umlandgemeinden betrifft. Verkehre zwischen zwei Gemeinden sind dadurch nicht nur in einer Gemeinde, z. B. am Ziel des Weges, von der verminderten Geschwindigkeit betroffen, sondern auch am Start des Weges und auf allen Innerortsstraßen unterwegs. Die auffällig hohe Fahrleistungsabnahme des MIV in Dresden ist erklärbar durch die große Ost-West-Ausdehnung der Stadt als Band entlang der Elbe, das gleichzeitig sehr gut durch die S-Bahn erschlossen ist. Insgesamt sind die Auswirkungen auf den ÖPNV in „Umweltwirkungen von Tempo 30“ aufgrund der dort berücksichtigten Fahrzeitverlängerungen negativer. Deshalb nimmt der ÖPNV-Anteil bei „Umweltwirkungen von Tempo 30“ tendenziell ab, während er bei „Flüssiger Verkehr“ aufgrund der Verlangsamung des MIV grundsätzlich zunimmt.

Über alle modellierten Fahrzeugkategorien nimmt die Fahrleistung durch die Maßnahme in Summe ab (Tabelle 4). Neben den Verlagerungseffekten hinsichtlich der Verkehrsmittelwahl, die durch die Modal-Split-Änderungen dargestellt werden, ergibt sich aufgrund veränderter Ziel- und Routenwahlentscheidungen ein zusätzlicher Rückgang bei der Fahrleistung. Daraus resultiert auch die Abnahme der Fahrleistung in Ravensburg, obwohl der Wege-Anteil des MIV leicht zunimmt (siehe Tabelle 5).

Tabelle 4: Änderung der Fahrleistung durch Tempo 30 (alle modellierten Fahrzeugkategorien: Pkw, SNF, LNF)

Emissionswirkung

Die Emissionswirkungen der Maßnahmen in den untersuchten Städten sind in Tabelle 5 zusammengefasst.

Tabelle 5: Änderung der Treibhausgas- und Luftschadstoffemissionen (Pkw, SNF, LNF) durch Tempo 30

Die Unterschiede bei den resultierenden Änderungen der verkehrsbedingten Treibhausgasemissionen in den untersuchten Städten erklären sich vornehmlich aus der unterschiedlichen Stärke der Fahrleistungsänderung und weniger aus den Unterschieden bei den kilometerspezifischen Emissionen. Die Änderungen der Treibhausgasemissionen je Fahrzeugkilometer durch Tempo 30 sind mit +1,3 bis +3,4 Prozent im Kfz-Verkehr bei „Umweltwirkungen von Tempo 30“ und +0,7 bis +3,7 Prozent bei „Flüssiger Verkehr“ ähnlich. Die Zunahme der kilometerspezifischen Emissionen ist dadurch bedingt, dass nach HBEFA 4.1 für Pkw die Emissionsfaktoren für Tempo-30-Strecken überwiegend höher sind als für Tempo-50- Strecken. Die dennoch bestehenden Unterschiede der mittleren kilometerspezifischen Änderungsraten sind erklärbar. So ist beispielsweise der Wert in Stuttgart mit +0,7 Prozent so gering, weil dort auf einem beträchtlichen Teil des Hauptstraßennetzes bereits im Bestand ein Tempolimit von 40 km/h gilt. Aufgrund der beschriebenen Maßnahmenausgestaltung und Modellannahmen dominieren die berechneten Fahrleistungsrückgänge bei „Flüssiger Verkehr“ und die Gesamttreibhausgasemissionen nehmen durchweg ab. Bei „Umweltwirkungen von Tempo 30“ ist die Wirkrichtung nicht eindeutig. Die Modellierung zeigt, dass die Maßnahme aufgrund der steigenden kilometerspezifischen Emission innerorts auch zu leicht erhöhten Treibhausgasemissionen führen kann. Der Vergleich zeigt, dass eine kommunal individuelle Tempo-30-Regelung in Bezug auf die CO2-Emissionen weniger günstig ist als eine generelle Tempo-30-Regelung, weil damit die Verkehrsnachfrage weniger stark beeinflusst wird. Bei einer großräumigen Einführung von Tempo 30 als innerörtliche Regelgeschwindigkeit zeigt die Modellierung dagegen, dass der Fahrleistungsrückgang überwiegt und die Treibhausgasbilanz der Maßnahme günstiger ausfällt.

Bei den NOx-Emissionen ergeben sich deutlichere Minderungsraten als bei den Treibhausgasemissionen. In Halle ist die Minderung mit -8,6 % besonders markant. Dies liegt daran, dass die kilometerspezifischen Emissionen in Halle mit - 5,6 Prozent deutlich zurückgehen und damit von den Werten in den anderen Städten (+1,4 bis +2,0 Prozent im Projekt „Umweltwirkungen von Tempo 30“, +0,6 bis +4,6 Prozent im Projekt „Flüssiger Verkehr“) abweichen. Da das HBEFA für Straßen mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit größer 50 km/h niedrigere NOx-Emissionen je Fahrzeugkilometer angibt als für Straßen mit Tempo 50, kann dies durch den höheren Anteil des Verkehrs auf Strecken mit weiterhin höheren zulässigen Höchstgeschwindigkeiten von über 50 km/h (BAB A 14, B 100, Europachaussee) erklärt werden.

Bei den Feinstaubemissionen unterscheiden sich die in Tabelle 5 angegebenen Änderungsraten zwischen beiden Projekten deutlich. Die Unterschiede sind dadurch zu erklären, dass im Projekt „Umweltwirkungen von Tempo 30“ Abrieb und Aufwirbelung (AWAR) berücksichtigt werden und in „Flüssiger Verkehr“ nicht (dort nur Auspuff). Die angesetzten kilometerspezifischen Emissionen und deren Veränderungen durch Tempo 30 sind in Tabelle 6 gegenübergestellt.

Tabelle 6: Mittlere spezifische PM-Emissionen je Fahrzeugkilometer (Pkw, LNF, SNF) im Analysefall und Änderung durch Tempo 30

Die PM-Fahrzeugemissionen setzt das HBEFA für Geschwindigkeiten <80 km/h deutlich höher an (SNF: 0,70 g/km für <80 km/h, 0,13 g/km ab 80 km/h; d. h. 81 Prozent; für Pkw ist der Unterschied mit -9 Prozent deutlich geringer). Daraus resultiert vor allem die relativ hohe Minderung für Halle (-7,3 Prozent pro Fahrzeugkilometer), da sich Verkehre von Strecken mit vormals Tempo 50 (Merseburger Straße, An der Magistrale) auf Strecken mit Tempo ≥80 (Europachaussee, B 80) verlagern. Aufgrund des größeren Bilanzrahmens (AWAR-Emissionen ein- bzw. ausgeschlossen) erfassen die Ergebnisse des Projekts „Umweltwirkungen von Tempo 30“ die realen Wirkungen der Maßnahme besser und sind damit als Entscheidungsgrundlage geeigneter. Da die Gesamtwirkung aus der Multiplikation der Fahrleistung mit den spezifischen Emissionen je Fzg.-km resultiert, ist wegen der höheren Fahrleistungsminderungen bei „Flüssiger Verkehr“ davon auszugehen, dass sich unter Einschluss der AWAR-Emissionen ebenfalls ein Emissionsrückgang, also ein positiver Effekt der Maßnahme für PM, einstellen würde.

Fazit

Die Wirkungen einer innerörtlichen Regelgeschwindigkeit von 30 km/h auf die CO2- und Luftschadstoffemissionen des Straßenverkehrs ergeben sich aus den Veränderungen der Fahrleistung und den Änderungen der kilometerspezifischen Emissionen. Während die Fahrleistung durch eine Absenkung der Fahrgeschwindigkeit generell abnimmt, zeigt sich bei den kilometerspezifischen Emissionen ein differenziertes Bild. Diese steigen bei Treibhausgasen und NOx an, während bei PM unter Berücksichtigung der AWAR-Emissionen ein Rückgang zu erwarten ist. In Summe ergeben sich durch die Maßnahme damit größtenteils positive Effekte im Bereich der Emissionen. Eine großräumige Absenkung der zulässigen Geschwindigkeit (wie im Projekt „Flüssiger Verkehr“ abgebildet) führt zu höheren Emissionsrückgängen, da dadurch die verkehrlichen Effekte stärker überwiegen.

Darüber hinaus sind bei einer Diskussion der Maßnahme auch ihre Wirkungen auf Lärm und Verkehrssicherheit von Bedeutung. Im Projekt „Umweltwirkungen einer innerörtlichen Regelgeschwindigkeit von 30 km/h“ werden auch dazu Aussagen getroffen.