FGSV-Nr. FGSV 002/116
Ort Stuttgart
Datum 22.03.2017
Titel Entwicklung eines kombinierten Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodells für das Multi-Agenten-Modell mobiTopp
Autoren M. Sc. Tim Hilgert, Dr.-Ing. Martin Kagerbauer, Dipl.-Ing. Michael Heilig, Prof. Dr.-Ing. Peter Vortisch, Nicolai Mallig
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Die Verbreitung von neuen Verkehrssystemen wie bspw. Carsharing und Elektrofahrzeugen macht es notwendig, diese auch in Verkehrsnachfragemodellen zu berücksichtigen. Jedoch macht es der noch sehr kleine Anteil dieser Verkehrsmittel am Verkehrsaufkommen sehr schwierig, gute Daten zu bekommen.
In dieser Arbeit stellen wir die Entwicklung eines kombinierten Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodells vor, in dem diese neuen Verkehrssysteme berücksichtigt werden. Das Modell wurde basierend auf zwei Datensätzen (RP und SP) geschätzt. Wir zeigen abschließend, dass die Ergebnisse des neuen kombinierten Modells genauso gut sind wie die des bestehenden zweistufigen Modells.

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1 Einleitung

Um nachhaltige Verkehrssysteme gestalten und planen zu können, sind geeignete Werkzeuge notwendig, welche die Rahmenbedingungen und Anforderung aus infrastruktureller Sicht sowie das Verkehrsverhalten der Menschen unter Berücksichtigung deren Einstellungen und Präferenzen abbilden. Dazu stehen Verkehrsmodelle zur Verfügung, die entweder Personengruppen oder Personen simulieren. Dabei werden üblicherweise die Verkehrsmittel Fuß, Rad, MIV als Fahrer und/oder Mitfahrer sowie der ÖV in entsprechender Differenzierung abgebildet.

Durch die zunehmende Differenzierung des Verkehrsangebots (z.B. durch Car-Sharing-Angebote) oder die flexible Nutzung von verschiedenen Verkehrsmitteln wird die Darstellung der verkehrsmittelspezifischen Nachfrage in Modellen komplexer. Da der Anteil der „neuen“ Verkehrsmittel (beispielsweise Sharingsysteme oder Elektromobilität) am gesamten Modal Split noch relativ gering ist, ist eine Modellschätzung auf der Basis von beobachtetem Verkehrsverhalten (RP-Daten) erschwert. Es sind bisher nur wenige Daten aus RP-Wegetagebüchern verfügbar, die Carsharing oder Bikesharing miteinschließen. Selbst wenn diese erhoben wurden, ist der Anteil dieser neuen Verkehrsmittel noch zu klein, um Daten für Modellschätzungen zu verwenden.

Um diesen Mangel an beobachteten Daten zu umgehen, wird i.d.R. auf Stated-Preference-(SP-) Befragungen zurückgegriffen. Dies hat mehrere Vorteile. Die Rekrutierung von Teilnehmern ist gerade bei neuen Verfahren leichter, da kein beobachtetes Verhalten abgefragt werden muss. SP-Befragungen bieten dem Beobachter zudem eine größere Kontrolle über die Auswahlmöglichkeiten in der betrachteten Situation; die hierdurch erzeugte Variabilität genügt zum Aufbau guter Modelle [1]. SP-Befragungen haben aber auch Nachteile [2]. Je komplexer der Versuchsaufbau, desto größer die Ausfallquote der Teilnehmer. Auch führt die subjektive Selbsteinschätzung der Teilnehmer mitunter dazu, dass sie versuchen, ihr tatsächliches Verhalten positiver darzustellen [3, 4]. Dies nährt den Verdacht, dass Daten aus SP-Versuchen nicht unbedingt eine reale Verteilung der Wahlentscheidungen wiederspiegeln [5]. Dennoch sind Daten aus SP-Versuchen oft die einzige verfügbare bzw. mögliche Datenquelle für die Modellbildung.

Auch die zunehmende Verbreitung von Elektrofahrzeugen stellt die Verkehrsnachfragemodellierung vor neue Aufgaben. Es gilt ein im Vergleich zu konventionellen Fahrzeugen anders geartetes MIV-Verkehrsmittel mit signifikant anderen Eigenschaften (Reichweitenbegrenzungen, Einschränkungen bei den Lademöglichkeiten, Ladezyklen etc.) abzubilden. Darüber hin- aus werden sich die Mobilitäts- und vor allem die Nutzungsmuster mit Elektrofahrzeugen im Vergleich zu heute ändern. Für die Modellierung der Auswirkungen von elektrisch betriebenen Fahrzeugen ist es zum einen notwendig, die Rahmenbedingungen der elektrisch betriebenen Fahrzeuge (Ladezyklen, Ladeinfrastruktur, etc.) abzubilden. Zum anderen müssen diese Modelle in der Lage sein, eine mögliche Verhaltensänderung der Nutzer zu simulieren.

Im Projekt „eVerkehrsraum Stuttgart“ wurde das agentenbasierte Verkehrsnachfragemodell mobiTopp um diese Aspekte erweitert. Schwerpunkt dieser Erweiterung ist ein neues kombiniertes Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodell zur integrierten Berücksichtigung von Reichweitenrestriktionen. Darüber hinaus wurden stationsbasiertes und flexibles Carsharing sowie Pedelecs und Bikesharing als neue Verkehrsmittel berücksichtigt. Für die Modellschätzung wurden Daten aus zwei Datenquellen verwendet: Daten einer großangelegten RP-Befragung, die im Großraum Stuttgart durchgeführt wurde, sowie Daten aus einer SP-Befragung, in welcher Informationen zu Verkehrsmittelwahlentscheidungen in Bezug auf Sharing-Dienste und Elektrofahrräder abgefragt wurden.
Im Folgenden werden die Herausforderungen und Methoden dargestellt, die in der Entwicklung eines kombinierten Ziel-und Verkehrsmittelwahlmodells für die Region Stuttgart auf Basis von zwei unterschiedlichen Datensätzen (RP+SP) von Bedeutung waren.

2 Literaturanalyse

Die erste in dieser Arbeit verwendete Methodik ist die Kombination aus Ziel- und Verkehrswahl in einer hierarchischen Nested Logit (NL)-Struktur. Bereits im Jahr 1956 stellten Beckmann et al. einen Modellansatz mit integrierter Ziel- und Routenwahl [6] vor. Dieses Modell war in der Verkehrsforschung weitgehend unbekannt und so wurde das traditionelle Vier-Stufen-Modell zum Standardwerkzeug der Verkehrsplanung. Ben-Akiva zeigte jedoch, dass eine getrennte und damit sequentielle Abschätzung von Reiseentscheidungen – wie sie für die Schätzungen im Vier-Stufen-Modell verwendet wird – zu unkorrekten Ergebnissen führen kann [7]. Später zeigt Boyce, dass das traditionelle Vier-Stufen-Modell kaum in der Lage ist, die Verknüpfungen zwischen den einzelnen Schritten zu modellieren [8, 9].

Ende der 60er Jahre präsentiert Wilson einen Ansatz für ein aggregiertes kombiniertes Ziel-und Verkehrsmittelwahlmodel auf Basis der Entropiemaximierung [10], welches überwiegend in Großbritannien Anwendung fand. Es folgte noch eine Anzahl weiterer aggregierter Modellansätze, z.B. von Boyce und Bar-Gera [11], Abrahamsson und Lundqvist [12] sowie de Cea et al. [13]. Des Weiteren wurden kombinierte Modelle auch für großflächige Anwendungen eingesetzt, z.B. in Chicago [14], Stockholm [12] und in Santiago de Chile [13].

Im Jahr 1974, entwickelten Richards und Ben-Akiva einen Ansatz für ein nicht-aggregiertes kombiniertes Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodell für Einkaufsfahrten [15]. Vrtic et al. präsentierten eine großflächige Anwendung eines nicht-aggregierten Verkehrserzeugungs-, -verteilungs- und Verkehrsmittelwahlmodell für die Schweiz [16] auf Basis des von Lohse et al. [17] entwickelten EVA-Algorithmus. Und schließlich präsentierten Bowman und Ben-Akiva ein erstes kombiniertes Verkehrsnachfragemodell auf mikroskopischer Ebene, welches auch die Aktivitätenerzeugung mit einschloss [18]. Als weiteres, hauptsächliche für großflächige Anwendungen geeignetes, mikroskopisches Verkehrsnachfragemodell ist MATSim [19] zu nennen. Mit diesem Modell können Ziel-, Verkehrsmittel und Routenwahl durchgeführt werden. Im Gegensatz zu Modellen mit traditionellen Discrete Choice Ansätzen optimiert MATSim mehrstufig die Pläne der Agenten, welche mit dem Ziel eines Nutzergleichgewichts durch eine Scoring- Funktion evaluiert werden.

Die zweite hier verwendete Methode beinhaltet eine zusammengeführte Abschätzung von Discrete Choice Modellen (DCM) mit kombinierten RP/SP-Daten. In den 1970er Jahren wurden SP-Daten und Modelle in der Verkehrsforschung [20] eingeführt und sind heute gängige Praxis. Allerdings gab es zunächst bei der Anwendung von SP-Methoden Kontroversen bezüglich dessen Vor- und Nachteile. So wurde die Eignung von SP-Daten zur Abschätzung zukünftigem Verhaltens zunächst skeptisch betrachtet [21, 22]. Spätere Untersuchungen zeigten jedoch eine hohe Übereinstimmung zwischen RP und SP-Entscheidungen quer durch alle Teilnehmergruppen [23, 24]. Ortúzar und Willumsen stellten fest, dass die Ergebnisse von SP-Modellen brauchbarer werden, je besser die Methoden zur Datengewinnung sind; auch wenn SP-Daten mit hoher Wahrscheinlichkeit größere Verzerrungen enthalten [1].

Ben-Akiva und Morikawa [25] sowie Swait et al. [5] präsentierten schließlich – jeweils in Form eines sequentiellen Verfahrens – Lösungen, welche die Vorteile beider Datenquellen für DCM-Schätzungen verbanden. Bradly und Daly entwickelten eine Methode für die simultane Modellschätzung [26]. Ihr Ansatz verwendet eine künstliche Baumstruktur für die gemeinsame Schätzung von Koeffizienten für die RP- als auch die SP-Daten. Dieser Ansatz wird in der Literatur auch als nested logit trick bezeichnet. In diesem Fall werden zusätzlich zu den Parametern Skalierungsfaktoren (SF) für die SP-Koeffizienten geschätzt. Mit Hilfe dieser Skalierungsfaktoren kann der Einfluss beider Datensätze auf die Entscheidung bestimmt werden. Da das zu schätzende Modell über eine reguläre NL-Struktur verfügt, kann für das Schätzverfahren Standard-Software verwendet werden.

Polydoropoulou und Ben-Akiva präsentierten als Erste die Schätzung eines NL-Modells mit gemischten RP/SP-Daten in einer Untersuchung zu Zugang und Verkehrsmittelwahl für ÖPNV-Technologien. Dissanayake und Morikawa berechneten ein NL-Modell mit gemischten RP/SP-Daten für Entscheidungen bezüglich Fahrzeugbesitz, Verkehrsmittelwahl und gemeinsamen Fahrten in Haushalten [27]. Wen gibt einen Überblick über alternative Baumstrukturen für NL-Modelle mit gemischten RP/SP-Daten und erörtert mehrere NL-Modelltypen für diese Strukturen [28]. Hensher et al. zeigten jedoch in einer späteren Untersuchung, dass NL-Modelle für die Berücksichtigung potenzieller Korrelationen durch wiederholte Beobachtung (Paneleffekt) ungeeignet sind, und stellten zur Lösung dieses Problems ein Mixed Logit (ML)-Modell vor [29].

Mit Ausnahme einiger Ansätze auf der Basis von MATSim [30, 31] gab es jedoch bisher keine agenten-basierte Modellanwendung, welche Elektrofahrzeuge und Sharing-Dienste in der Modellierung von Verkehrsnachfrage berücksichtigt. Somit ist mobiTopp das erste DCM-basierte mikroskopische Verkehrsnachfragemodell, welches die Anwendung eines kombinierten Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodells bei Sharing- und Elektromobilitätsformen leistet.

3 Das mikroskopische Verkehrsnachfragemodell mobiTopp

mobiTopp ([32]; [33]) ist ein mikroskopisches, agentenbasiertes Verkehrsnachfragemodell. Jede Person einer Planungsregion wird im Modell durch einen Agenten abgebildet. Im Unterschied zu vielen anderen Verkehrsnachfragemodellen beträgt der Modellierungszeitraum in mobiTopp eine Woche. Damit wird explizit die Stabilität und Variabilität im Mobilitätsverhalten abgebildet und erlaubt so weitergehende Analysen des Mobilitätsverhaltens. mobiTopp besteht grundsätzlich aus zwei Modellteilen: dem Long-Term- und dem Short-Term-Modell.

Im Long-Term-Modell werden alle langfristigen Entscheidungsprozesse simuliert. Hierzu gehören neben der Bevölkerungssynthese auch Zeitkarten- und Fahrzeugbesitz, Carsharing-Mitgliedschaft sowie die Zuordnung von festen Arbeits- bzw. Ausbildungsplätzen, sogenannten fixen Polen. In der Bevölkerungssynthese werden die Agenten für die Planungsregion auf Basis des Iterational Proportional Fitting (vgl. [34]) innerhalb der Verkehrszellen verteilt, so dass die Personen und Haushalte auf Zellenebene hinsichtlich bestimmter soziodemografischer Merkmale der Realität entsprechen. In einem weiteren Schritt werden die Agenten und Arbeitsplätze innerhalb der Verkehrszelle auf Basis von Flächennutzungsdaten (Urban Atlas, ©European Union) verteilt.

Im Short-Term-Modell werden alle kurzfristigen Entscheidungsprozesse modelliert. Die zu modellierende Woche mit allen Aktivitäten aller Agenten wird in einer zeitlichen Auflösung von einer Minute chronologisch simuliert. Hat ein Agent eine Aktivität beendet, findet für jeden Weg eine Ziel- sowie eine Verkehrsmittelwahl statt. Es wird bei der Zielwahl zwischen festen und flexiblen Zielen unterschieden. Feste Ziele sind der Wohnort sowie die fixen Pole der Agenten. Für Wege mit einem festen Ziel findet keine Zielwahl statt. Aus Gründen der Stabilität von Wahlentscheidungen der Personen, die statistisch belegt sind [35], beeinflussen bereits gewählte flexible Ziele bzw. Verkehrsmittel die Entscheidung. Da je nach Situation Reichweitenrestriktionen von Elektrofahrzeugen entweder in die Ziel- oder in der Verkehrsmittelwahl berücksichtigt werden können, wurden diese beiden Modellschritte in einem kombinierten Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodell integriert.

Das für diese Arbeit verwendete Szenario umfasst ein Modell der Region Stuttgart (Stadt Stuttgart und die fünf angrenzenden Landkreise). Die Region Stuttgart zählt ca. 2,7 Mio. Einwohner, von denen alle 2,5 Mio. Einwohner mit einem Alter von mehr als 5 Jahren im Modell abgebildet sind. Das Modell besteht aus insgesamt 1.174 Zonen, von denen 159 Zonen die für die Zielwahl relevanten Gebiete außerhalb der Region Stuttgart abdecken.

4 Das kombinierte Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodell

Das hier präsentierte kombinierte Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodell hat zwei Ziele. Zum einen soll es das bestehende Modell erweitern, indem es die erwähnten neuen Verkehrsmittel berücksichtigt. Zum anderen soll die Vergleichbarkeit der Ergebnisse so gut wie möglich gewährleistet werden, um so die Verbesserungen durch die neue Modellstruktur messen zu können. Folglich sollen die gleichen Variablen des früheren sequentiellen Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodells auch im neuen kombinierten Modell verwendet werden. Da die hier verwendeten RP-Daten ebenfalls für die Schätzung des ursprünglichen Modells verwendet wurden, ist es Ziel, dass die Variablen des ursprünglichen Modells im neuen Modell ebenfalls signifikant sind.

Bild 1: Neststruktur des kombinierten Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodells

Die Zielwahl und die Verkehrsmittelwahl basieren auf dem in Abbildung 1 gezeigten NL-Modell. Das Modell ist aufgeteilt in einen Zielwahl-Bereich (Level 2) und einen Verkehrsmittelwahl-Bereich (Level 1). Dabei wird die gemeinsame Wahrscheinlichkeit in eine marginale und eine bedingte Wahrscheinlichkeit aufgeteilt (für weitere Details hierzu siehe z.B. [36]):

Formel (1) siehe PDF.

Die Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln ist sowohl für die Zielwahl als auch für die Verkehrsmittelwahl relevant. Wenn der Agent zu Hause ist, sind alle Verkehrsmittel verfügbar. Das Verkehrsmittel Pkw als Fahrer ist jedoch nur verfügbar, wenn der Agent einen Führerschein besitzt und wenn im Haushalt ein Pkw vorhanden ist, und dieser zugleich Vor-Ort ist und nicht von anderen Haushaltsmitgliedern in diesem Moment benutzt wird. Die Verkehrsmittel Bikesharing und Carsharing sind nur verfügbar, wenn der Agent Mitglied bei einem Bikesharing- oder Carsharing-Anbieter ist und wenn ein entsprechendes Fahrrad in der Quellzone verfügbar ist. Wenn der Agent nicht zu Hause ist, hängt die Verfügbarkeit der Verkehrsmittel davon ab, welche Verkehrsmittel zuvor verwendet wurden.

4.1 Datengrundlage

Datengrundlage für die Modellschätzung bildeten zwei Erhebungen: eine Haushaltserhebung der Region Stuttgart und eine innerhalb des Projektes „eVerkehrsraum Stuttgart“ durchgeführte SP-Erhebung. Die Haushaltserhebung der Region Stuttgart [37], angelehnt an das Deutsche Mobilitätspanel ([38]; [39]), beinhaltet alle Wege einer Woche der befragten Personen innerhalb eines Haushalts. Insgesamt wurden 14.179 Personen in 5.568 Haushalten in der Region Stuttgart befragt. Insgesamt wurden so 293.350 Wege mit den Verkehrsmitteln zu Fuß, Fahrrad, MIV als Fahrer, MIV als Mitfahrer und ÖV erfasst. Die Daten dieser Erhebung wurden als RP-Datensatz verwendet. Die durchgeführte SP-Erhebung enthält 278 Datensätze mit je sechs Entscheidungssituationen zur Verkehrsmittelwahl. Insgesamt stehen für die Modellschätzung somit 1.440 Entscheidungssituationen zur Verfügung. Basierend auf einem berichteten Weg wurden neben dem gewählten Verkehrsmittel noch Pedelec, Leihfahrrad, Carsha- ring (stationsbasiert) und Carsharing (flexibel) als Alternative zur Auswahl gestellt.

Tabelle 1: Deskriptive Statistiken der Modellvariablen

Tabelle 1 zeigt die im Modell verwendeten Variablen. Hier sind auch die Unterschiede der RP und der SP Daten erkennbar. So dominieren beispielsweise in der SP-Stichprobe Männer sowie Personen über 65 Jahre. Um die Verbesserungen des Modells durch die neue Modellstruktur möglichst gut messen zu können, wurde darauf verzichtet neue Variablen einzuführen; es wurden lediglich Variablen verwendet, die auch im zweistufigen Modell verwendet wurden. In Gleichung 2 ist dargestellt, wie die für jeden Weg berücksichtigten Kosten berechnet werden. Diese bestehen aus den Kosten des eigentlichen Weges und den Kosten des Weges vom eigentlichen Ziel zum nächsten fixen Ziel (z.B. zu Hause oder Arbeitsplatz). So werden die Einschränkungen in der Verkehrsmittelwahl innerhalb einer Tour berücksichtigt. Die Variablen (Verkehrsmittelwahl) und (Zielwahl) werden entsprechend berechnet.

Formel (2) siehe PDF.

4.2 Modellschätzung - Verkehrsmittelwahlkomponente

Es wurden für die Verkehrsmittel Fuß, Rad, MIV-Fahrer, MIV Mitfahrer und ÖV die Parameter der Nutzenfunktion aus den RP-Daten und für die Verkehrsmittel Leihfahrrad, Carsharing (stationsbasiert) und Carsharing (flexibel) die Parameter der Nutzenfunktion aus den SP-Daten verwendet. Für die Zielwahlkomponente des Modells wurden ausschließlich die RP-Daten genutzt. In der Modellschätzung wurden mehrere durch mobiTopp gegebene Rahmenbedingungen berücksichtigt. mobiTopp simuliert das Verkehrsverhalten für den Zeitraum einer Woche. Obwohl eine heuristische Modellkomponente für eine Stabilität des Verkehrsverhaltens sorgt, sollten dennoch Variablen, welche mit Stabilitätsfaktoren im Zusammenhang stehen (d.h. das zuvor genutzte Verkehrsmittel) Teil der Nutzenfunktion sein. Des Weiteren besteht die Anzahl der Möglichkeiten für die Zielwahl aus 1.174 Zonen. Hierdurch entstehen hohe Rechenzeiten für die Schätzung.

Analog zum zweistufigen Modell wurde für jeden Reisezweck ein separates Modell entwickelt. Auf Grund der Vielzahl von möglichen Ziel- und Verkehrsmittelwahlkombinationen wurde für die Schätzung des Nested Logit Modells ein Limited Information Maximum Likelihood (LIML) Ansatz gewählt (vgl. [36]). Als erstes wurden die Parameter der Verkehrsmittelwahlkompo- nente des kombinierten Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodells geschätzt (vgl. Tabelle 2). Für die Schätzung wurden gemischte RP/SP-Daten auf der Basis des Ansatzes von Bradley und Daly [26] verwendet.

In der SP-Befragung gingen die Entscheidungen zwischen den “alten Verkehrsmitteln” zu Fuß, Fahrrad, Pkw als Fahrer, Pkw als Mitfahrer und ÖPNV aus den beobachteten und somit RP-Entscheidungen hervor. So war lediglich die Wahl zwischen einem “alten Verkehrsmittel” und einem der „neuen Verkehrsmittel“, z.B. E-Bike, Bikesharing, stationsgebundenes oder stationsunabhängigem Carsharing eine tatsächliche SP-Entscheidung. Dies wirft die Frage auf, ob die Variablen der „alten Verkehrsmittel“ im SP-Datensatz die gleiche Varianz wie die „neuen Verkehrsmittel“ haben und ob sie somit als RP, SP oder als separate Komponente in der Modellschätzung betrachtet werden sollen. Um dies zu beantworten, wurde zunächst eine NL-Schätzung mit einem Zweig pro SP-Alternative durchgeführt, ohne den Skalierungsfaktor (SF) anzugleichen (näheres hierzu siehe [40]). Die Ergebnisse zeigen, dass einige SF für die “alten Verkehrsmittel” denen der „neuen Verkehrsmittel“ ähneln, während andere den SF der RP-Verkehrsmitteln ähnlich sind. Daraus kann man folgern, dass die „alten Verkehrsmittel“ in den SP-Daten als separate Komponente behandelt werden sollten. Zur Überprüfung dieser Annahme wurden drei Modelle geschätzt, in denen wir die „alten Verkehrsmittel“ der SP-Daten mit dem SF=1 (RP-Komponente), mit dem gleichen SF wie die SP-Verkehrsmittel (SP-Komponente) und einem separaten SF ansetzten. Die Ergebnisse dieser Schätzung zeigen, dass das Modell die besten Ergebnisse zeigt, wenn diese Verkehrsmittel als separate Komponente betrachtet werden, was wiederum die anfängliche Vermutung bestätigt.

Tabelle 2: Ausgewählte Parameter des Verkehrsmittelwahlmodells, Zweck „Einkaufen“

Tabelle 2 zeigt eine Auswahl der geschätzten Koeffizienten für die Verkehrsmittelwahlkomponente des kombinierten Modells und die entsprechenden Multinomial Logit (MNL) Modelle für die RP- und SP-Daten. Die alternativen spezifische Konstante (ASC) ist dabei für alle Modelle auf Pkw als Fahrer als Referenzwert gesetzt. Des Weiteren zeigten erste Ergebnisse der Schätzung bei Verwendung von gemischten RP/SP-Daten positive Koeffizienten bei den Fahrtkosten. Daher wurde der Kostenparameter aus dem MNL-Modell verwendet. Die grund- legende Annahme jedes Verkehrsmodellierers, dass dieser einen negativen Einfluss auf den Nutzen hat, wurde somit berücksichtigt.
Die Nutzenfunktion der RP-Alternativen unterscheidet sich von der der SP-Alternativen, wie auch in Tabelle 2 zu sehen. Die SP-Daten enthalten keine Informationen über das zuvor genutzte Verkehrsmittel und keine Personen unter 18 Jahren. Folglich enthalten die Nutzenfunktionen für die „neuen Verkehrsmittel“ diesbezüglich keine Variablen. Der Wert für den Pseudo R-squared für das kombinierte Modell ist mit 0,619 deutlich besser als die der einzelnen Modelle (0,336 bzw. 0,255), was eine deutliche Verbesserung der Modellgüte bedeutet.

Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse der Verkehrsmittelwahl des kombinierten Modells verglichen mit denen des zweistufigen Modells und den Befragungsdaten. Die Ergebnisse zeigen, dass das kombinierte Modell die Verkehrsmittel „Rad“ und „MIV Fahrer“ im Vergleich mit den repräsentativen RP-Daten leicht überschätzt, wohingegen die Verkehrsmittel „Fuß“ und „MIV Mitfahrer“ leicht unterschätzt werden.

Bild 2: Vergleich der Modellergebnisse: Verkehrsmittelwahl, Zweck „Einkaufen“

Der Anteil des Carsharing ist sehr gering. So werden 0,0061% aller Wege mit stations-basiertem und 0,0095% aller Wege mit free-floating Carsharing zurückgelegt. Alles in allem zeigen die Ergebnisse, dass die Integration der „neuen Verkehrsmittel“ in das Modell die Modellqualität hinsichtlich der „alten Verkehrsmittel“ nicht beeinflusst hat.

4.1 Modellschätzung - Zielwahlkomponente

Zunächst wurde der IV-Wert für die Verkehrsmittelwahlkomponente für jede einzelne der 20 Zielwahlalternativen berechnet. Im früheren Zielwahlmodell von mobiTopp wurden ein Ansatz verwendet, welcher zusätzlich zur Entfernung zum nächsten Ziel ebenfalls die Entfernung bis zum nächsten festen Ziel zugrunde legt, verwendet. Ein Agent wird daher weniger wahrscheinlich ein Ziel wählen, welches in der entgegengesetzten Richtung zum nächsten festen Ziel liegt. Die Werte für die Entfernungen werden daher auf ähnliche Weise berechnet wie in Gleichung 2.

Tabelle 3: Ausgewählte Parameter des Zielwahlmodells, Zweck „Einkaufen“

Die Koeffizienten der Zielwahl wurden anhand eines MNL-Modells geschätzt einschließlich eines Koeffizienten für den IV-Wert der Verkehrsmittelwahlkomponente. Da für die Schätzung eine begrenzte Menge zufälliger Wahlmöglichkeiten verwendet wurde, musste sichergestellt werden, dass der Parameter IV-Wert für alle Ziele gleich ist. Zudem wurde aufgrund der zufällig gewählten Alternativen für die Schätzung kein ASC für die Nutzenfunktionen berücksichtigt.

Bild 3: Vergleich der Modellergebnisse: Zielwahl, Zweck „Einkaufen“

Abbildung 3 zeigt die Weglängenverteilungen des kombinierten Modells verglichen mit dem zweistufigen Modell und den RP-Befragungsdaten. Die Abweichungen der Modellergebnisse von denen der Befragung wurden in den einzelnen Kilometerklassen mit Hilfe des Root Mean Square Errors untersucht. Der Wert ist für das kombinierte Modell (0,32) etwas besser als der des zweistufigen Modells (0,34).

4.2 Modelleigenschaften

Durch die Kombination von Ziel- und Verkehrsmittelwahl ist es nun möglich, Reichweitenrestriktionen von Elektrofahrzeugen mit allen entscheidungsrelevanten Faktoren in einem Modell zu berücksichtigen. Die nicht mehr erreichbaren Ziele sowie die nicht nutzbaren Verkehrsmittel werden nun bei der Wahlentscheidung nicht mehr berücksichtigt. Somit kann die Entscheidung, ob ein näheres Ziel oder ein anderes Verkehrsmittel genutzt wird, in einem Schritt abgebildet werden.

Für eine detailgetreue Abbildung von Sharing-Systemen waren neben der Einführung als neues Verkehrsmittel noch weitere Modellergänzungen notwendig. Es wurden vier Regeln für die Verkehrsmittel „stationsbasiertes Carsharing“ und „free-floating Carsharing“ im Modell umgesetzt.

1.    Die Verkehrsmittel Carsharing sind nur verfügbar, wenn ein Zugang zum entsprechenden Carsharing-Provider vorhanden ist.

2.    Basierend auf der Annahme, dass die Dichte von Carsharing-Stationen mit der Parkplatzverfügbarkeit korreliert, wurden die Zu- und Abgangszeiten mit der Einflussgröße „Parkdruck“ im Modell abgebildet.

3.    Fahrzeuge eines stationsbasierten Carsharing-Anbieters müssen an der Station zurückgegeben werden, an der sie ausgeliehen wurden. Um diese Einschränkung im Modell abbilden zu können, kann das Verkehrsmittel stations-basiertes Carsharing nur gewählt werden, wenn der Agent zu Hause ist. Darüber hinaus kann das Verkehrsmittel bis zur Rückkehr nicht gewechselt werden.

4.    Fahrzeuge eines free-floating Carsharing-Anbieters können nur innerhalb des Operationsgebietes ausgeliehen und zurückgegeben werden. Das Verkehrsmittel kann somit nicht gewechselt werden, wenn sich der Agent außerhalb des Operationsgebietes befindet.

Die Zu- und Abgangswege sind nicht explizit modelliert, es werden jedoch Zu- und Abgangszeiten im Modell berücksichtigt (siehe Punkt 2). Auch hier wird aufgrund der Unterschiede der beiden Carsharing-Systeme zwischen stationsbasiertem und free-floating Carsharing differenziert und für jedes Carsharing-System unterschiedliche Zu- und Abgangszeiten verwendet.

Die bei der Schätzung berücksichtigten Verkehrsmittel „Pedelec“ und „Leihfahrrad“ wurden bisher aufgrund fehlender Bestandsdaten noch nicht berücksichtigt und stehen daher nicht zur Wahl. Da die Schätzung eines so komplexen Modells sehr aufwändig ist, wurden diese Verkehrsmittel jedoch im Hinblick auf zukünftige Szenarien bereits berücksichtigt.

5 Fazit

Basierend auf RP- und SP-Daten wurde für das agentenbasierte Verkehrsnachfragemodell mobiTopp ein neues kombiniertes Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodell entwickelt. Hierbei wurde ein Verfahren zur kombinierten Schätzung eines Discrete Choice Modells aus Revealed- und Stated-Preference Daten verwendet, um die Datensätze der vorhandenen Haushaltserhebung ebenfalls in die Schätzung einfließen zu lassen. Zudem wurden Carsharing sowie Pedelecs und Leihfahrradsysteme als neue Verkehrsmittel in das Modell integriert. Für die Kalibrierung des Modells wurde ein Status-Quo-Szenario verwendet. Dieses Szenario ist nach Kenntnisstand der Autoren derzeit das einzige eines agentenbasierten Verkehrsnachfragemodells, welches die Wechselwirkungen von Elektromobilität, Carsharing-Angeboten und den traditionellen Verkehrsmitteln zusammen abbildet. Das neue kombinierte Ziel- und Verkehrsmittelwahlmodell ermöglicht die Modellierung von Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Modellschritten.

Mit diesem Modell kann nun ein großer Beitrag zur Abschätzung von Wirkungen von Elektromobilität und innovativen Verkehrssystemen bereits in der Planungsphase geleistet werden. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn noch keine Erfahrungen im großen Stil mit den Auswirkungen neuer Mobilitätsformen gemacht werden konnten.

6 Förderung

Dieser Beitrag präsentiert Auszüge aus dem Projekt „eVerkehrsraum Stuttgart“. Die Autoren bedanken sich beim Bundesministerium für Verkehrs und digitale Infrastruktur für die Förderung dieses Projektes mit dem Förderkennzeichen 16SBW006A.

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[36]    TRAIN, K. E. u. TRAIN, K.: Discrete choice methods with simulation, Bd. 8. Cambridge: Cambridge University Press Cambridge 2002

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[38]    WEISS, C., CHLOND, B., HILGERT, T. u. VORTISCH, P.: Deutsches Mobilitätspanel (MOP) - Wissenschaftliche Begleitung und Auswertungen Bericht 2014/2015: Alltagsmobilität und Fahrleistung, Karlsruhe 2016

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