FGSV-Nr. FGSV 002/106
Ort Stuttgart
Datum 02.04.2014
Titel Ansätze zur statistischen Modellierung von Nachfrageschwankungen auf Stunden- und Minutenskalen im Stadtstraßenverkehr
Autoren Dr.-Ing. Stefan Lämmer, Martin Däumler
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Verkehrsstärken unterliegen systematischen Jahres-, Wochen- und Tagesschwankungen. Auf kleineren Zeitskalen sind die Schwankungen dagegen zufälliger Natur, da sie aus einer Vielzahl individueller Entscheidungsprozesse resultieren. Wie stark Stundenzählwerte von einem Tag zum nächsten schwanken, wird durch stundenspezifische Variationskoeffizienten charakterisiert. Diese lassen sich als ein Maß für die Variabilität des Mobilitätsverhaltens zur jeweiligen Stunde interpretieren. Die Varianz der Stundenzählwerte wird auf Minutenebene von einem zweiten Varianzanteil überlagert, der die zufällige Aufteilung der Verkehrsmenge auf kleinere Zeitscheiben widerspiegelt und sich aus der Poissonverteilung ableitet. Die resultierende Mischverteilung wird durch eine Normalverteilung approximiert. Auf Grundlage von Messdaten aus zehn im Stadtgebiet von Dresden verteilten Pegelzählstellen wird der statistische Modellansatz empirisch validiert. Aus den Ergebnissen lassen sich einfach handhabbare Ansätze zur statistischen Auswertung von Zählstichproben sowie zur kapazitätsgerechten Bemessung von Verkehrsanlagen ableiten.

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1 Einleitung

Um die Entwicklung des motorisierten Verkehrs auf Stadtstraßen besser verstehen und vorhersagen zu können, wurden zahlreiche Methoden zur Abschätzung der Verkehrsnachfrage entwickelt [SKV05, Hen08]. Eines der umfassendsten Verfahren ist das Vier-Stufen-Modell der Verkehrsplanung [SL10b], das aus den Strukturgrößen der Verkehrsbezirke und den Kapazitäten der Netzelemente stundenfein die Belastung einzelner Strecken ableitet. Daneben gibt es empirisch motivierte Verfahren, die aus Kurzzeitzählungen auf die Verkehrsmengen zu anderen Zeiten rückschließen bzw. auf Spitzenverkehrsstärken hochrechnen [ST96]. Hierzu werden typisierte Jahres-, Wochen- und Tagesganglinien herangezogen, die sich beispielsweise mit der Cluster-Analyse bestimmen lassen [Pin05, BA10].

Aus der so gewonnenen Abschätzung, welche Verkehrsmengen im Mittel je Stunde zu erwarten sind, kann mit Hilfe anderer Verfahren eine kapazitätsgerechte Bemessung der Verkehrsinfrastruktur erfolgen [HBS05]. In Stadtnetzen stellt sich insbesondere die Frage, mit welchen Freigabe- und Umlaufzeiten die lichtsignalgeregelten Knotenpunkte zu betreiben sind. Darauf geben unterschiedliche Bemessungsansätze differenzierte Antworten. Das Verfahren zur Bestimmung wartezeitoptimaler Umlaufzeiten [RiL10, SL10a] berücksichtigt die Zufälligkeit der Fahrzeugankünfte implizit durch die Verwendung der empirisch kalibrierten und praktisch bewährten Formel Websters [Web58]. Andere Verfahren gehen bei der Optimierung hinsichtlich diverser Gütemaße von komplexen zeitlichen Ankunftsprofilen aus [HCM10].

Doch die tatsächliche Verkehrsnachfrage kann aufgrund zufälliger Schwankungen an dem einen oder anderen Tag größer ausfallen als eine anhand der mittleren Verkehrsstärke bemessene Verkehrsanlage noch bewältigt werden kann. Zur Bemessung der Kapazität von Verkehrsanlagen ist es folglich sinnvoll, neben der mittleren Verkehrsstärke auch deren Variabilität zu modellieren. Letztere wird in Abb. 1 deutlich, die zeigt, wie die Verkehrsmenge einer gegebenen Stunde von Tag zu Tag schwankt.

Es sind vor allem die Verkehrsschwankungen auf der Zeitebene von Minuten, von denen abhängt, ob alle Fahrzeugankünfte während einer Umlaufzeit tatsächlich bedient werden können, oder ob zusätzliche Fahrzeughalte anfallen sowie Warteschlangen über die vorgesehenen Rückstauräume hinaus anwachsen. Die Verkehrsschwankungen auf kleinen Zeitskalen statistisch zu erklären, ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung. Es werden Modellierungsansätze entwickelt, mit deren Hilfe sich beantworten lassen soll, wie wahrscheinlich bestimmte Verkehrsstärken überstiegen werden und von welchen Einflussgrößen, wie zum Beispiel der Tageszeit, dies abhängt.

Zur empirischen Überprüfung der entwickelten Ansätze werden Zähldaten von zehn über das Stadtgebiet von Dresden verteilten Pegelzählstellen herangezogen. Diese erfassen auf verschiedenen Verkehrsachsen der Stadt in beiden Fahrtrichtungen und auf allen Fahrstreifen die Anzahl der Fahrzeuge je Minute. Der Untersuchungszeitraum umfasst drei Wochen (23.01. bis 11.02.2012) außerhalb der Ferienzeit. In dieser Zeit gab es kaum Niederschläge. Weiterhin sind den Autoren für diesen Zeitraum keine relevanten Störfälle oder Übersättigungen bekannt. Im Falle von Detektorausfällen sind diese Datensätze schlichtweg nicht vorhanden und so von Zählungen unterscheidbar, in denen kein Fahrzeug die Detektoren überfahren hat.

Abbildung 1: Die Tagesganglinien (blaue Linien) zeigen den charakteristischen Verlauf der Verkehrsstärke über die Stunden eines Tages hinweg. Ebenso kann dieVerkehrsstärke einer Stunde von einem Tag zum nächsten schwanken (rote Linie). Für die kapazitätsgerechte Bemessung von Verkehrsanlagen ist esentscheidend, die zu erwartende Verkehrsmenge nicht nur durch ihr Mittelsondern auch in ihrer Variabilität zu berücksichtigen.

2 Schwankungen der Stundenzählwerte über die Tage

In der Verkehrsstärke spiegelt sich das Mobilitätsverhalten der Verkehrsteilnehmer zur jeweiligen Stunde eines Tages wider. Im Folgenden soll untersucht werden, wie stark und innerhalb welcher Schranken der Stundenzählwert einer gegebenen Stunde von Tag zu Tag variiert.

2.1 Methodischer Ansatz

Die Anzahl der Fahrzeuge, die einen betrachteten Messquerschnitt innerhalb der h-ten Stunde eines Tages im Mittel passieren, wird als Verkehrsstärke bzw. Stundenzählwert vh bezeichnet. Wie viele Fahrzeuge man in der h-ten Stunde eines konkreten Tages tatsächlich zählt, hängt jedoch von zahlreichen und im Allgemeinen nicht beobachtbaren Einflussfaktoren ab. Zu diesen zählen beispielsweise die Aktivitäten-, Verkehrsmittel und Routenwahlentscheidungen der Verkehrsteilnehmer aufgrund individueller Präferenzen. Folglich lassen sich die tatsächlichen Stundenzählwerte lediglich als Zufallsgröße modellieren. Unter der Voraussetzung, dass sich die Verkehrsteilnehmer unabhängig voneinander für bzw. gegen eine Fahrt zu dieser Stunde über den Querschnitt entscheiden, und wenn man andere Abhängigkeit erzeugende Faktoren wie beispielsweise Wettereinflüsse oder Störfälle im Straßennetz ausschließt, lässt sich als eine Summe unabhängiger Einzelentscheidungen auffassen. Aufgrund des Zentralen Grenzwertsatzes, der besagt, dass eine solche Summe asymptotisch normalverteilt ist, wird zur statistischen Modellierung der Stundenzählwerte Vh im Folgenden die Normalverteilung herangezogen.

Zum einen ist zu beobachten, dass die absolute Schwankungsbreite der Stundenzählwerte auf Straßen mit höherer Grundbelastung größer ausfällt als auf solchen mit einer niedrigeren, was heißt, dass die Standardabweichung mit der Verkehrsstärke skaliert. Zum anderen ist zu erwarten, dass die relative Schwankungsbreite die stundentypische Variablität der zugrunde liegenden Entscheidungsprozesse charakterisiert. Im morgendlichen Berufsverkehr beispielsweise, in dem hauptsächlich dieselben Fahrer dieselben Fahrten unternehmen, sollten die relativen Verkehrsstärkeschwankungen anders ausfallen als in den Mittags- oder gar Nachtstunden. Aus diesen Überlegungen lässt sich der Ansatz ableiten, die relative Schwankung durch stundenspezifische Variationskoeffizienten ch abzuschätzen. Mit Hilfe der ermittelten Werte kann es auf diese Weise gelingen, von der mittleren Verkehrsstärke auf die Varianz der Stundenzählwerte zu schließen. Im Folgenden soll der Ansatz, den Stundenzählwert als normalverteilte Zufallsgröße mit zu modellieren, anhand empirischer Zähldaten validiert werden.

Formel (1) siehe PDF.

2.2 Empirische Validierung

Für jeden der 20 Messquerschnitte und für jede Stunde h des Tages wurden über alle in der Datenbank verfügbaren repräsentativen Werktage (Di-Do) hinweg die mittleren Verkehrsstärken sowie für jeden Querschnitt und jede Stunde ein Variationskoeffizient ermittelt. Letzterer berechnet sich aus der geschätzten Varianz der Stundenzählwerte als das Verhältnis von ihrer Wurzel zum mittleren Zählwert. Um die Grundannahme normalverteilter Stundenzählwerte zu überprüfen, wurden die z-transformierten Zählwerte einem Kolmogorow-Smirnow-Anpassungstest unterzogen. Im Ergebnis müsste man bei Ablehnung dieser Hypothese eine Irrtumswahrscheinlichkeit von mindestens 80,26 % in Kauf nehmen, weshalb die Normalverteilungsannahme beibehalten wird.

In Abbildung 2 sind die Variationskoeffizienten über alle Messquerschnitte aggregiert als Boxplot für jede Stunde des Tages aufgetragen. In den Nachtstunden sind sowohl die Werte der Variationskoeffizienten als auch deren Streuung über die Messquerschnitte hin- weg relativ hoch. Einerseits weicht die Verkehrsintensität einer Nachtstunde von Nacht zu Nacht teils stark vom Mittelwert ab, und andererseits schlagen sich diese Schwankungen auf den verschiedenen Straßen im Netz unterschiedlich stark nieder. Diese Beobachtung kann dadurch erklärt werden, dass sich der nächtliche Verkehr zum großen Teil aus gelegentlichen und zeitlich wenig fixierten Freizeitverkehren zusammensetzt.
Ganz anders zeigen sich die Variationskoeffizienten in den Hauptverkehrszeiten. Hier weichen die tatsächlichen Stundenzählwerte von der im Mittel gemessenen Verkehrsstärke um nur wenige Prozentpunkte ab. Weiterhin zeigt die geringe Länge der Boxplots an, dass sich die Variationskoeffizienten der unterschiedlichen Messquerschnitte im Netz nur gering unterscheiden.

Unabhängig davon, ob sich die Pegelzählstelle innerhalb oder außerhalb des Stadtzentrums befindet, und unabhängig davon, ob der Messquerschnitt die Richtungsfahrbahn stadtein- oder stadtauswärts erfasst, sind die relativen Schwankungen der Stundenzählwerte annähernd die gleichen.

Am kleinsten fallen die Variationskoeffizienten zu den Zeiten des morgendlichen und nachmittäglichen Berufsverkehrs aus, was sich anhand des charakteristischen Mobilitätsverhaltens erklären lässt. Auf die 7. und 8. Stunde des Tages konzentrieren sich die Fahrten von der Wohnung zur Arbeit. Diese Fahrten finden typischerweise regelmäßig statt, und sie liegen innerhalb eines engen Zeitfensters. Auch im nachmittäglichen Verkehr um die 16. bis 18. Stunde ist dieses Phänomen vorherrschend, wenn auch schwächer ausgeprägt. Im Unterschied zum Arbeitsbeginn ist der Zeitpunkt des Arbeitsendes im Allgemeinen variabler, und es findet eine Menge gelegentlicher Fahrten beispielsweise mit den Wegezwecken Einkaufen oder Freizeit statt.

Abbildung 2: Die Boxplots tragen zu jeder Stunde des Tages die Variationskoeffizienten ch aller untersuchten Messquerschnitte auf. Am geringsten fällt das Verhältnis aus Standardabweichung der Stundenzählwerte zu deren Mittelwert in den Morgen- und Nachmittagsstunden aus, wenn typischerweise viele Fahrtenzu bzw. von den Arbeitsplätzen stattfinden, in den Nachtstunden ist er amgrößten. Somit spiegelt der Variationskoeffizient die Variablität des Mobilitätsverhaltens wider. Die geringe Länge der Boxplots in den Hauptverkehrszeiten zeigt an, dass die ch-Werte weitestgehend vom Messquerschnittunabhängig sind.

2.3 Implikationen

Aus dem Ansatz, die Varianz der Stundenzählwerte auf Grundlage der Variationskoeffizienten direkt aus der mittleren Verkehrsstärke zu berechnen, lassen sich zwei nützliche Schlussfolgerungen ableiten.

Zum einen kann man die Verkehrsmenge  bestimmen, die mit Wahrscheinlichkeit p nicht überschritten wird. Diese ergibt sich für eine angenommene mittlere Verkehrsstärke und den für die betrachtete Stunde h charakteristischen Variationskoeffizienten ch zu wobei für das p-Quantil der tabellierten Standardnormalverteilung steht.

Formel (2) siehe PDF.

Zum anderen ergibt sich aus der Tatsache, dass die Varianz der Stundenzählwerte nicht aus der Stichprobe geschätzt zu werden braucht, ein Ansatz zur statistischen Auswertung von Verkehrszählungen, der bei gleicher Genauigkeit mit weniger kosten- und zeitintensiven Stichproben auskommt. So kann man beispielsweise das Konfidenzintervall berechnen, in dem die wahre“ mittlere Verkehrsstärke mit einer vorgegebenen Irrtumswahrscheinlichkeit α liegt. Die Grenzen des Konfidenzintervalls ergeben sich aus dem mit n Zählungen berechneten Mittelwert vh mit der Formel

Formel (3)) siehe PDF.

Weiterhin können einseitige statistische Tests abgeleitet werden, mit denen sich beurteilen lässt, ob die wahre“ mittlere Verkehrsstärke einen hypothetischen Wert signifikant unter- oder überschreitet. Hierzu sind zu testen. Je nach Anforderung an die Genauigkeit der Abschätzung sind diese Formeln im Extremfall sogar auf eine einzige Zählung anwendbar.

3 Nachfrageschwankung auf Minutenskalen

Zählt man Fahrzeugüberfahrten an einem Messquerschnitt nicht eine ganze Stunde sondern lediglich wenige τ Minuten lang, so ist zur Abschätzung der Schwankung dieser τ-Minuten-Zählwerte neben der Variabilität der Grundlast ein zweiter und qualitativ anderer Effekt zu berücksichtigen. Es ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich die Verkehrsmenge der Stunde nicht gleichmäßig auf die τ-Minuten-Zeitscheiben verteilt, sondern in der einen oder anderen Zeitscheibe zufällig mehr bzw. weniger Fahrzeuge ankommen.

Formel (4) siehe PDF.

3.1 Methodischer Ansatz

In einem Stadtstraßennetz bewegen sich Fahrzeuge im Allgemeinen in Form von Kolonnen. Indem lichtsignalgeregelte Knotenzufahrten während der Rotzeiten gar keine und während der Grünzeiten wartende bzw. herannahende Fahrzeugkolonnen abfließen lassen, wird dem Verkehrsfluss auf Sekunden- und unterster Minutenebene ein dezidiertes Muster aufgeprägt. Doch je mehr Umlaufzeiten das Aggregationsintervall τ umfasst, desto geringer fällt die Wirkung des Kolonneneffekts auf die Zählwerte aus. Deshalb werden nachfolgend ausschließlich Intervalllängen τ ≥ 5 Minuten betrachtet. Unter der Voraussetzung, dass kein Netzelement überlastet ist, spiegeln die Zählwerte so die Verkehrsnachfrage und nicht die Kapazität vorgelagerter Knotenpunkte wider. Zwar verschieben sich aufgrund der Knotensignalisierung die einzelnen Überfahrzeitpunkte am Messquerschnitt, nicht jedoch die über τ Minuten aggregierte Verkehrsmenge.

Falls die Verkehrsstärke vh in der Stunde h, in der die betrachtete τ -Minuten-Zeitspanne liegt, exakt bekannt ist, lässt sich der Zählwert als poissonverteilte Zufallsgröße modellieren. Ihr Erwartungswert und ihre Varianz entsprechen beide der auf τ-Minuten bezogenen Verkehrsstärke

Formel (5) siehe PDF.

Um die diskrete Poissonverteilung in eine kontinuierliche Verteilung zu überführen, kann man sich wieder den Zentralen Grenzwertsatz zunutze machen. Dieser setzt voraus, was im betrachteten Kontext zumeist erfüllt sein sollte. Demnach können die τ-Minuten-Zählwerte bei bekannter Verkehrsstärke vh als normalverteilt angesetzt werden.

Doch die Stundenverkehrsstärke unterliegt, wie im vorherigen Abschnitt 2 herausgearbeitet wurde, charakteristischen Schwankungen mit Varianz. Folglich sind die beiden Parameter der angesetzten Verteilung selbst Zufallsgrößen. Die resultierende Verteilung ist keine Normalverteilung mehr. Sie ist eine Mischverteilung, die beide Effekte, die Grundlastschwankung und die zufällige Aufteilung der Überfahrten auf die Minutenzeitscheiben, miteinander verbindet. Abbildung 3 zeigt ihre Form.

Abbildung 3: Gegenüberstellung der relativen Häufigkeiten der beobachteten z-transformierten 5-Minuten-Zählwerte (Stufenfunktion) mit der Dichtefunktion der Standardnormalverteilung (durchgezogene Linie). Den Zählwerten liegt eine gaußähnliche Mischverteilung zugrunde, die hierdurch eine Normalverteilung approximiert wird.

Um dennoch zu praktikablen Abschätzungen zu gelangen, obwohl die analytische Verteilungsfunktion der gaußähnlichen Mischverteilung nicht bekannt ist, wird folgende heuristische Verteilungsannahme getroffen. Die τ-Minuten-Zählwerte seien um den Erwartungswert normalverteilt. Die Varianz ergebe sich aus der additiven Überlagerung der Einzelvarianzen und der beiden zugrunde liegenden Effekte. Die so approximierte Verteilung wird nachfolgend anhand der Zähldaten empirisch überprüft.

Formel (6) siehe PDF.

3.2  Empirische Validierung

In die Untersuchung flossen die Zähldaten aller repräsentativen Werktage (Di-Do) ab der 6. bis einschließlich der 20. Stunde, d. h. ohne die Nachtstunden, ein. Jede dieser Stunden wurde einmal in zwei 30-Minuten und ein anderes Mal in zwölf 5-Minuten-Zeitscheiben unterteilt, und die entsprechenden Zählwerte für jeden Messquerschnitt bestimmt. Dass die Zählwerte normalverteilt seien, verwirft der Kolmogorow-Smirnow-Anpassungstest wie erwartet.

Ob die Verteilungsannahme dennoch tragbar ist, soll anhand eines Vergleichs unterschiedlicher Quantilswerte gezeigt werden. Das q-Quantil ist der τ-Minuten-Zählwert, der mit Wahrscheinlichkeit q nicht überschritten wird. Eine Gegenüberstellung der theoretischen Quantilswerte mit den empirischen zeigt Abbildung 4.

Formel (7) siehe PDF.

Zum Ersten ist zu beobachten, dass die theoretischen Wurzelkurven sowohl die Lage als auch den prinzipiellen Verlauf der empirischen Quantilswerte widerspiegeln. Die Abweichungen der Median-Zählwerte fallen geringer aus als die am 10%- bzw. 90%-Rand der Zählwertverteilung. Weiterhin ist festzustellen, dass die Addition der beiden Varianz- anteile die Abhängigkeit der Quantile vom Aggregationsintervall τ korrekt abbildet. Welchen Beitrag jeder der beiden Varianzanteile zur Erklärung der Gesamtvarianz liefert, wird durch folgende Abschätzung deutlich. Bei großen Intervallen τ = 30 Minuten (s. Abb. 4 links) bewegen sich die beiden Varianzanteile (ch v30)2 ≈ 225 und v30 ≈ 300 mit ch ≈ 5% in der gleichen Größenordnung. Dagegen spielt bei kleinen Zeitscheiben von τ = 5 Minuten Länge (s. Abb. 4 rechts) der Varianzanteil, der aus den Verkehrsstärkeschwankungen herrührt, mit (ch v5)2 ≈ 1, 6 gegenüber dem, der die Varianz der Fahrzeugaufteilung auf die Zeitscheiben mit v5 ≈ 50 bewertet, praktisch keine Rolle. Diese Beobachtungen legen nahe, dass bei der statistischen Modellierung von Minutenzählwerten mit dem heuristischen Verteilungsansatz die Zusammenhänge zwischen den Variablen sowohl qualitativ als auch quantitativ im Wesentlichen korrekt erfasst sind.

Abbildung 4: Vergleich der empirischen 10%-, 50%- und 90%-Quantile der 30- bzw. 5-Minuten-Zählwerte mit den aus der theoretischen Verteilung abgeleiteten(durchgezogene Linien) Quantilen. Letzte geben sowohl den prinzipiellen Verlauf der Punktewolken als auch deren Abhängigkeit vom Aggregations-intervall τ korrekt wieder.

3.3 Implikationen

Der vorgestellte Modellierungsansatz bietet einen direkten Zugang zur Bewertung der Kapazität von Infrastrukturelementen. Wenn eine lichtsignalgeregelte Knotenzufahrt oder eine Richtungsfahrbahn lediglich Fahrzeuge je τ Minuten bewältigen kann, so lässt sich die Wahrscheinlichkeit dafür abschätzen, dass die Verkehrsnachfrage innerhalb einer Zeitspanne τ in Stunde h diesen Wert nicht übersteigt. Diese Wahrscheinlichkeit berechnet sich mit der Formel

Formel (8) siehe PDF.

Hierbei steht Φ(z) für die kumulierte Verteilungsfunktion der Standardnormalverteilung. Um zu beurteilen, welche Verkehrsmenge mit einer gegebenen Wahrscheinlichkeit nicht überschritten wird, kann man direkt auf die Quantilsformel (7) zurückgreifen.

4 Zusammenfassung und Ausblick

Mit den vorgestellten Modellierungsansätzen können zufällige Nachfrageschwankungen auf kleinen Zeitskalen statistisch erklärt und bemessen werden. Aus der empirischen Analyse von Stundenzählwerten wurden tageszeitspezifische Variationskoeffizienten identifiziert. Von den Nachtstunden abgesehen liegen diese Koeffizienten nahezu unabhängig vom Messquerschnitt bei zirka 5%, in den Stunden des morgendlichen Berufsverkehrs sogar darunter. Sie lassen sich als Maß für die Variablität des Mobilitätsverhaltens interpretieren. Aus der Tatsache, dass sich mit Hilfe der Variationskoeffizienten die Varianz der Stundenzählwerte aus deren Mittelwert abschätzen lässt, eröffnet sich ein neuer Ansatz zur Bestimmung von Verkehrsstärken auf Basis weniger Zählungen.

Auf der Zeitebene von Minuten kommt zusätzlich auch der Effekt zum Tragen, dass sich die Stundennachfrage zufällig auf die Minutenzeitscheiben verteilt. Beide Effekte zusammen resultieren in einer gaußähnlichen Mischverteilung, die als Normalverteilung approximiert wurde. Die Gültigkeit der Approximation wurde durch einen Vergleich der theoretisch vorhergesagten mit den tatsächlich beobachteten Quantilswerten überprüft. Die qualitativen und quantitativen Abhängigkeiten der Quantile von den Verkehrsstärken sowie von der Länge der Aggregationsintervalle werden durch die Approximation im Wesentlichen korrekt wiedergegeben. Aus diesem Ansatz wurde ein Bewertungsverfahren abgeleitet, das bemisst, wie wahrscheinlich die Verkehrsnachfrage innerhalb einer bestimmten Zeitspanne eine gegebene Verkehrsmenge bzw. Kapazität nicht übersteigt.

Die vorgestellte Methodik setzt nicht übersättigte Straßennetze voraus, denn nur dort kann sich die Variablität der Nachfrage über die Messreihen der Pegelzählstellen überhaupt beobachten. Dies war im Beipiel von Dresden im Zeitraum der Erhebung gegeben. Der empirischen Analyse wurden ausschließlich Zähldaten aus repräsentativen Werktagen (Di-Do) zugrunde gelegt. Welche Charakteristiken sich für die anderen Tage der Woche ergeben, ist noch zu untersuchen. Weiterhin ist es im Hinblick auf die Beurteilung der Übertragbarkeit sowie zur statistischen Eingrenzung der spezifischen Variationskoeffizienten notwendig, die empirische Datenbasis sowohl zeitlich zu erweitern als auch andere Stadtnetze einzubeziehen. So könnten veränderte Stadt-Umland-Beziehungen ebenso Auswirkungen auf die Variationskoeffizienten haben, wie unterschiedliche Aufteilungen des Modal Split. Durch einen höheren Fußgänger- und Radfahreranteil kommen Wettereinflüsse stärker zur Geltung und es sind höhere Variationskoeffizienten zu erwarten.

Aufgrund des Kolonneneffekts, der aus der Signalisierung lichtsignalgesteuerter Verkehrsknoten herrührt, wurden lediglich Minutenintervalle mit einer Länge von mehreren Umlaufzeiten betrachtet. Eine lohnende Erweiterung des vorgestellten Ansatzes ist die explizite Einbeziehung der im Zufluss liegenden Lichtsignalanlagen. Aus einem Modell für umlaufzeitbezogene Zählwerte könnte abgeleitet werden, wie wahrscheinlich eine Maximalzahl an Fahrzeugankünften während eines Umlaufs nicht überschritten wird. Dies ermöglicht eine kapazitätsgerechte Bemessung von Freigabe- und Umlaufzeiten. So könnte neben der Wartezeitenminimierung als Zielkriterium der Optimierung zusätzlich auch die Wahrscheinlichkeit herangezogen werden, dass die während eines Umlaufs zufließende Verkehrsmenge während der Grünzeit vollständig abfließen kann.

Danksagung

Die Autoren danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG-Projekt Tr 1102/1-1) für die finanzielle Unterstützung. Großer Dank gebührt auch dem Straßen- und Tiefbauamt der Stadt Dresden sowie dem Lehrstuhl für Verkehrsleitsysteme und -prozessautomatisierung der TU Dresden für die Bereitstellung der Daten.

Literatur

[BA10] Bernard, M.; Axhausen, K.W.: Ein neuer Ansatz für standardisierte Ganglinien. In: Arbeitsbericht Verkehrs- und Raumplanung 540 (2010)

[HBS05] Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen. Köln: Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V., 2005

[HCM10] Highway Capacity Manual. TRB, 2010

[Hen08] Hensher, D.A. (Hrsg.): Handbook of Transport Modelling. Elsevier, 2008 [Pin05] Pinkofsky, Lutz: Typisierung von Ganglinien der Verkehrsstärke und ihre Eignung zur Modellierung der Verkehrsnachfrage, TU Braunschweig, Diss., 2005

[RiL10] Richtlinien für Lichtsignalanlagen – RiLSA.  Köln: Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V., 2010

[SKV05] Steierwald, G.; Künne, H.-D. ; Vogt, W.: Stadtverkehrsplanung. Grundlagen, Methoden, Ziele. Berlin: Springer, 2005

[SL10a] Schnabel, W.; Lohse, D.: Grundlagen der Straßenverkehrstechnik und der Verkehrsplanung, Band 1 Straßenverkehrstechnik. Verlag Bauwesen, 2010

[SL10b] Schnabel, W.; Lohse, D.: Grundlagen der Straßenverkehrstechnik und der Verkehrsplanung, Band 2 Verkehrsplanung. Verlag Bauwesen, 2010

[ST96] Schmidt, G.; Thomas, B.: Hochrechnungsfaktoren für manuelle und automatische Kurzzeitzählungen im Innerortsbereich. In: Forschung Straßenbau und Straßenverkehrstechnik (1996), Nr. 732

[Web58] Webster, F.V.: Traffic Signal Settings. In: Road Research Technical Paper 39 (1958), S. 1–44