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1 Hintergrund und Stand der Technik
Sicherheitsmanagement der Straßeninfrastruktur in Deutschland
Die bisherigen Verfahren des Sicherheitsmanagements der Straßeninfrastruktur in Deutschland sind im Bild 1 dargestellt. Übergeordnete Grundlage dafür sind die EU-Direktiven EU-Richtlinie 2008/96/EG sowie deren Aktualisierung mit EU-RL 2019/1936. Demnach sind grundsätzlich vier Verfahren zu unterscheiden: Sicherheitsabschätzung, Sicherheitsaudit (Planung), Sicherheitseinstufung und -management (Sicherheitsanalyse Straßennetze und Örtliche Unfalluntersuchung) sowie Sicherheitsüberprüfung (Verkehrsschau, Streckenkontrolle, Bestandsaudit).
Konkretisiert werden die Verfahren für die Anwendung in Deutschland durch das existierende oder derzeit in Er- bzw. Überarbeitung befindliche FGSV-Regelwerk.
Bild 1: Standardisierte Verfahren des Sicherheitsmanagements der Straßeninfrastruktur in Deutschland
Sicherheitsanalyse von Straßennetzen in Deutschland
Die bisherige Sicherheitsanalyse von Straßennetzen aus der ESN (FSGV 2003) stellt ein reaktives Verfahren (unfallbasiert) zur flächendeckenden Bewertung des Bestands dar. Die Ergebnisse der ESN sollen ihrerseits in die Überlegungen zur Netzplanung und Maßnahmenfindung (Um- und Ausbauplanung) einfließen. Im Unterschied zur punktuellen Bewertung der Örtlichen Unfalluntersuchung berücksichtigt das ESN-Verfahren auch die Fahrleistung sowie eine Unfallkostenbewertung. Die Bewertung der ESN basiert auf der Abschätzung des Sicherheits(verbesserungs)potenzials (SIPO). Das SIPO grenzt den Teil der Unfallkosten eines Abschnitts ab, der potenziell durch infrastrukturelle und verkehrstechnische Maßnahmen beeinflussbar ist. Im Ergebnis werden die bewerteten Abschnitte entsprechend des SIPOs priorisiert.
Die Akzeptanz der ESN ist seit deren Einführung als verbesserungswürdig zu bewerten. Dies hat mehrere Ursachen. Hierzu gehören u. a. eine eingeschränkte Aussagefähigkeit der Ergebnisse aufgrund beispielsweise zu kurzer Analyseabschnitte, fehlende oder nicht bekannte Ansätze zum Umgang mit den Ergebnissen, vergleichsweise hohe Aufwände für die Erstanwendung, fehlende Daten und/oder Daten mit eingeschränkter Qualität sowie bisher nicht aktualisierte Grundunfallkostenraten.
Mit der Fortschreibung der EU-Direktive über ein Sicherheitsmanagement für die Straßenverkehrsinfrastruktur im Jahr 2019 wurde vor allem Artikel 5, in dem die Anforderungen für die Netzanalyse beschrieben sind, grundsätzlich überarbeitet. Folgende Anforderungen wurden ergänzt oder verändert:
- Ergänzung der bisherigen unfallbasierten Bewertung um eine proaktive Bewertung („Untersuchung der Entwurfsmerkmale der Straße (inhärente Sicherheit)“)
- Die „Untersuchung der Entwurfsmerkmale der Straße“ kann entweder vor Ort oder mit elektronischen Mitteln (Befahrungsdaten, Straßendatenbanken) erfolgen.
- Für hoch priorisierte Netzbereiche sind entweder „gezielte Sicherheitsüberprüfungen“(analog Bestandsaudit in Deutschland) oder direkte Abhilfemaßnahmen einzuleiten.
- Es bedarf einer „begründeten Entscheidung“ zum Umgang mit den Ergebnissen, was analog zum Umgang mit den Auditergebnissen als eine Art dokumentierte Auseinandersetzung des Straßeneigentümers mit den Ergebnissen interpretiert wird.
- Neben der bisherigen Priorisierung der Abschnitte nach dem SIPO wird zusätzlich ein nach „Prioritäten gestaffelter, risikobasierter Aktionsplan“ gefordert. Dies wäre eine Priorisierung der Abschnitte entsprechend der Wirksamkeiten der dort vorgesehenen Maßnahmen und dem dadurch zu erreichenden Reduktionspotenzial, was entsprechend quantifizierte Maßnahmenwirksamkeiten notwendig machen würde.
- Grundsätzlich sind die ungeschützten Verkehrsteilnehmenden explizit mit bzw. stärker im Verfahren zu berücksichtigen.
Die bisherigen Probleme bei der Umsetzung der ESN in Deutschland sowie die Konsequenzen aus der Fortschreibung der EU-Richtlinie wurden in einem Forschungsprojekt der BASt (FE 03.0547/2016/FRB, Schüller et al. 2021) behandelt. Das Projekt wurde von einem Forschungsbegleitkreis u. a. bestehend aus Personen aus Länderverwaltungen und der Autobahn GmbH des Bundes (AdB) betreut. Die vorliegenden Vortragsdokumentation beschreibt wesentliche Erkenntnisse der Forschungsarbeit.
2 Methodik
Kernziel des Forschungsprojektes war es, die bisherigen Erkenntnisse der ESN-Anwendungen auf nationaler und internationaler Ebene zusammenzuführen, neue Ansätze zur Umsetzung der europäischen Anforderungen zu entwickeln und im Rahmen von Pilotanwendungen zu testen.
Eine umfassende Literaturanalyse inklusive der Dokumentation von Überlegungen in anderen europäischen Ländern zur Umsetzung der EU-Richtlinie stellt eine zentrale Grundlage dar. Aus Gründen der Lesbarkeit und Übersichtlichkeit wird auf die finale Dokumentation der Ergebnisse im BASt-Schlussbericht verwiesen. Ein weiterer Teil der Grundlagenanalyse stellen Telefoninterviews mit Anwenderinnen und Anwendern des ESN-Verfahrens in den Bundesländern dar. Hieraus sollten die zentralen Anforderungen der Praxis an eine Fortschreibung der ESN abgeleitet werden. Die Grundlagenanalyse wurde komplettiert durch eine – das ganze Projekt begleitende – Beurteilung der Datengrundlagen für die Umsetzung der erweiterten Anforderungen an die ESN-Analyse aus der EU-Richtlinie. Vor allem die neue proaktive Bewertung bedarf umfangreicher Datensätze.
Basierend auf dem derzeitigen Entwurf des „Handbuchs für die Bewertung der Verkehrssicherheit von Straßen“ (HVS) wurde eine Fortschreibung der Grundunfallkostenraten für den Außerortsbereich vorgenommen. Da entsprechende Grundlagen für den Innerortsbereich noch nicht in Gänze vorliegen, beschränkte sich die Fortschreibung und damit auch die Pilotanwendung auf Autobahnen und Landstraßen, Innerortstraßen sowie Ortsdurchfahrten waren nicht Teil des Forschungsprojektes.
Der neu entwickelte Verfahrensvorschlag wurde in drei Bundesländern (Autobahnen in Baden-Württemberg, Bundes- und Staatsstraßen in vier Landkreisen in Sachsen sowie Bundes- und Landesstraßen in zwei Landkreisen in NRW) getestet und entsprechend validiert bzw. weiterentwickelt. Aufbauend auf den Ergebnissen wurden dann verschiedene Materialien für die weitere Verwendung in der Praxis entwickelt, welche vor allem ein besseres Verständnis der Vorgehensweisen unterstützen sollen.
3 Ergebnisse
Ergebnisse Befragung von Praxisvertretern
Aus den Interviews wurde deutlich, dass derzeit nur in vier Bundesländern und beim Bund (BASt) eine regelmäßige Anwendung der ESN oder eines alternativen Verfahrens der Netzanalyse stattfindet. Dabei werden vor allem höher klassifizierte Straßen bewertet.
Die Gründe für die fehlende Akzeptanz sind vielfältig. Es beginnt mit einem fehlenden Verständnis für das Verfahren bei Bearbeitenden und Entscheidungsträgern. Das betrifft vor allem auch den Nutzen des Verfahrens u. a. gegenüber der örtlichen Unfalluntersuchung. Der fehlende direkte Zwang (i. V. zur Örtlichen Unfalluntersuchung) zur Anwendung, fehlende finanzielle und vor allem personelle Ressourcen sowie fehlendes Know-how tragen zur seltenen Anwendung in der Fläche bei. Von manchen Anwendenden der ESN werden die Ergebnisse der Netzanalyse als nicht plausibel, stark schwankend (analog Häufungsbetrachtung) und teilweise als zu grob und wenig detailliert eingeordnet. Der hohe Aufwand für die manuelle Bearbeitung war anfangs und ist teils auch heute noch zentral für die nicht vollständige Umsetzung des Verfahrens in der Praxis. Von denjenigen, die die ESN anwenden, wird vor allem die fehlende Weiterverwendung der Ergebnisse als Problem benannt.
Die Praxis wünscht sich im Hinblick auf die Netzanalyse mehrfach konkretere Vorgaben durch den Bund, eine stärkere Einheitlichkeit bei den Anwendungen, einen klaren Handlungszwang zur Umsetzung sowie die Möglichkeit eines höheren Automatisierungsgrades bei der Datenaufbereitung.
Aktualisierung Grundunfallkostenraten für den Außerortsbereich
Zur Berechnung des SIPOs sind Grundunfallkostenraten notwendig. In der ESN 2003 wurden Grundunfallkostenraten sehr vereinfacht aus durchschnittlichen Unfallkostenraten eines bestimmten Straßentyps abgeschätzt. Mit den Forschungen zum HVS und den dort verwendeten multikriteriellen Unfallmodellen konnten erstmals sehr detaillierte Abgrenzungen von Grundunfallkostenraten vorgenommen werden. Allerdings sind die gUKR des HVS zu detailliert und zu aufwändig für eine Anwendung im Rahmen der ESN, da u. a. flächendeckend entsprechende Daten für eine Bewertung fehlen. Es bedurfte daher einer Anpassung dieser Werte für die neue Netzanalyse. In diesem Zuge wurden gUKR flexibler als bisher aufbereitet, das heißt die gUKR lassen sich („modulhaft“) noch stärker für die jeweilige Anwendung anpassen. Abhängig vom Erkenntnisstand und der Datenlage der Anwendenden sind damit auch. unterschiedlich detaillierte Anwendungen möglich. Außerdem wurden nicht-lineare Zusammenhänge zwischen Unfallhäufigkeit und DTV berücksichtigt, damit stehen Unfallkostenraten in Abhängigkeit des DTV zur Verfügung.
Autobahnen
Grundunfallkostenraten für Autobahnen setzen sich aus einem Anteil für die freie Strecke sowie einem Anteil für die an den Enden oder entlang der Strecke befindlichen Ein- und Ausfahrten zusammen. In der Tabelle 1 sind die gUKRESN für zwei und mehrstreifige Richtungsfahrbahnen in Abhängigkeit der verfügbaren Unfallkategorien dokumentiert. Es wird dabei unterschieden nach Stadtautobahnen (EKA 3) und restlichen Autobahnen. Für Schwerverkehrsanteile größer 15 % müssen die dokumentierten Werte um einen entsprechenden Anpassungsfaktor erhöht werden. Die Werte für die freie Strecke können dann additiv mit den gUKRESN für Ein- oder Ausfahrtbereiche entsprechend deren Anzahl an dem bewerteten Abschnitt verknüpft werden. Wichtig ist dabei, dass die Länge des Abschnitts nur in die gUKRESN der freien Strecke einfließt.
Tabelle 1: gUKRESN für die freie Strecken von Autobahnen
Tabelle 2: gUKRESN für Teilbereiche von Knoten an Autobahnen
Straßen außerorts außerhalb von Autobahnen
Grundunfallkostenraten für Landstraßen berücksichtigen ebenfalls einen Anteil für die freie Strecke sowie für größere Knotenpunkte. Auch hier werden die Strecken wieder nach dem Querschnitt unterschieden, da diese Information praktisch am besten verfügbar ist. Erneut wird auch der nicht-lineare Zusammenhang zwischen DTV und Unfallhäufigkeit besser als bisher abgebildet. Bei den Knotenpunkten wird nach der Anzahl der Knotenarme unterschieden. Falls die Information zu der Anzahl an Knotenarmen nicht vorliegt, kann eine durchschnittliche gUKR verwendet werden. Grundsätzlich sollten nur relevante bzw. größere Knotenpunkte separat bewertet werden. Es wird empfohlen, nur diejenigen Knotenpunkte separat zu bewerten, welche zwischen den bewerteten Straßenkategorien liegen bzw. mit einer höheren Straßenkategorie (im Beispiel von Bundesstraßen: nur Knotenpunkte zwischen Bundesstraßen sowie Anschlüsse an die Autobahn) existieren. Es können aber auch – wie bisher – nur Straßenzüge als kombinierte Abschnitte von freier Strecke und Knotenpunkt bewertet werden. Hierfür wurde über eine mittlere Knotenpunktdichte von 0,6 KP/km eine gUKR abgeleitet. Dies kann durch den Nutzenden selbst bei Kenntnis der vorhandenen Knotenpunktdichten auch modular angepasst werden.
Tabelle 3: gUKRESN für freie Strecken von Landstraßen
Tabelle 4: gUKRESN für separate Knotenpunkte auf Landstraßen
Tabelle 5: gUKRESN Straßenzüge von Landstraßen (Annahme: Knotenpunktdichte KN = 0,6 KP/km)
Konzept proaktives Bewertungsverfahren und Verknüpfung mit reaktivem Verfahren
Für die Fortschreibung der ESN wird ein neues Netzanalyseverfahren vorgeschlagen, welches auf zwei Säulen der Bewertung ruht. Einerseits soll die bisherige ESN-Analyse unter Berücksichtigung neuer Anforderungen beibehalten werden (reaktiver Teil des Verfahrens). Ergänzt wird der Ansatz um einen sogenannten proaktiven Verfahrensteil. Damit werden auf Basis von Einzelbewertungen von Teilbereichen der Infrastruktur Risikokategorien beschrieben. Beispielsweise wird der Seitenraum hinsichtlich des Vorhandenseins von Hindernissen bewertet. Treten beispielsweise innerhalb eines Abschnitts ungeschützte Hindernisse bis zu einem gewissen Abstand zum Fahrbahnrand auf, wird dieser Abschnitt in die ungünstigste Risikokategorie eingeordnet. Die Gewichtung der Ergebnisse der reaktiven und proaktiven Sicherheitsbewertungen werden erfolgt durch Punkte. Aus der schlechtesten Bepunktung wird dann die Gesamtbewertung eines Abschnitts abgeleitet. Der aktuelle Vorgehensvorschlag ist in dem Ablaufdiagramm im Bild 2 dargestellt.
Eingangs sind Festlegungen bezüglich des Untersuchungsraums und der separaten Betrachtung von Knotenpunkten, zum Detaillierungsgrad des Vorgehens sowie zur Auswahl der zu berücksichtigenden indikativen Elemente zu treffen. Als nächstes ist die Netzgrundlage aufzubereiten, es sind die relevanten Daten mit dem Netz zu verschneiden und die Netzein- teilung für die sich anschließende Bewertung vorzunehmen. Nach der Ableitung der Gesamt- bewertung soll das Ergebnis nochmals auf Basis der Betrachtung einzelner Bewertungsgrößen geprüft werden, bevor abschließend ein Aktionsplan aufgestellt wird, der die Netzteile mit dem höchsten Potenzial für Verbesserungsmöglichkeiten adressiert.
Reaktive Bewertung
Der bisherige reaktive Ansatz wird neben der Aktualisierung der gUKR um folgende Neuerungen erweitert:
- Vorgabe von einzuhaltenden Mindestlängen für unterschiedliche Ortslagen, um kurze Abschnitte zu vermeiden, welche ansonsten die Bewertungsergebnisse verzerren könnten.
- Es werden Hinweise gegeben, wie kurze Abschnitte aggregiert werden können. Auf Basis dieser konkreten Hinweise kann eine automatisierte Netzaufbereitung abgeleitet bzw. entwickelt werden.
- Hinweise auf die Verwendung der nach Unfalltyp und Unfallart differenzierten Unfallkostensätze des H Uks (FGSV 2017) und damit die Abkehr von der getrennten Bewertung von Unfällen mit leichtem und schwerem Personenschaden (Ziel: Reduzierung von zufallsbedingten Schwankungen in der Schwerebewertung).
- Hinweise zu Maximallängen, damit Abschnittslängen nicht allzu stark streuen und damit Abschnitte vergleichbarer sind.
- Möglichkeit der separaten Bewertung von solchen Knotenpunkten, die für einen nicht unerheblichen Anteil des Sicherheitspotenzials verantwortlich sind.
- Ergänzende Hinweise, um zusätzliche Auffälligkeiten im Unfallgeschehen direkt mit dem Analyseabschnitt verlinken zu können, welche dann Hinweise auf weiterführende Aktionen und Beurteilungen ermöglichen.
- Alternative Vorgehensweisen für die Bewertung unabhängig von der Bewertung des Sicherheitspotenzials (u. a. im Rahmen der integralen Methode).
Das Ergebnis der reaktiven Bewertung ist neben dem absoluten SIPO eine Rangreihung und Kategorisierung der Netzelemente in vier Kategorien:
- Hohe Priorität - obere 20% der absolut vermeidbaren Unfallkosten,
- Mittlere Priorität - 20% - 60% der kumulierten absolut vermeidbaren Unfallkosten,
- Niedrige Priorität - 60% - 100% der kumulierten absolut vermeidbaren Unfallkosten,
- Kein Sicherheits(verbesserungs)potenzial.
Bild 2: Vorschlag Verfahrensablauf für ein neues Netzanalyseverfahren inklusive einer proaktiven Bewertung
Proaktive Bewertung
Für die proaktive Bewertung wurden im ersten Schritt die wichtigsten Risikofaktoren basierend auf den Effektstärken aus dem HVS (Entwurf) ermittelt (siehe Tabelle 6). Dem gegenüber stehen die Verfügbarkeit und Qualität von flächendeckend für eine Bewertung notwendigen Daten. Um bspw. ungesicherte Hindernisse im Seitenraum bewerten zu können, bedarf es Daten zu Lage und Art dieser Hindernisse, dem Vorhandensein und der Lage von Fahrzeugrückhaltesystemen sowie den Fahrbahnbreiten. Für die Pilotanwendung konnten diese Datensätze tatsächlich aufbereitet werden. Für die Haltesichtweiten war dies noch nicht möglich. Somit stellt der Verfahrensvorschlag hier auch kein geschlossenes Verfahren, sondern ein modulhaft erweiterbares Verfahren dar, welche mit der Verfügbarkeit zusätzlicher Daten ergänzt werden kann.
Tabelle 6: relevante Risikofaktoren des HVS
Für die Pilotanwendung sowie die Empfehlungen aus der Forschung wurden Faktenblätter entwickelt (Beispiel in Tabelle 7), in denen die Anforderungen für verschiedene (wahrscheinlich vorhandene) Datensätze und deren Aufbereitung im Rahmen der proaktiven Bewertung beschrieben sind. Diese betreffen die Defizite in der horizontalen und vertikalen Trassierung, ungeschützte Bäume (da nur auf Daten aus Baumkatastern vorlagen) im Seitenraum, den Fahrbahnzustand (trotz eher geringer Effektstärke auf das Unfallgeschehen), entwässerungsschwache Zonen, Vorhandensein von Fuß- und Radverkehrsanlagen im Längsverkehr sowie Linksabbiegefahrstreifen an Knotenpunkten. Der Vorschlag für die proaktive Bewertung ist dabei nur ein erster Schritt, um zukünftig die Unfallbewertung auf Netzebene mit Infrastrukturdaten zu ergänzen. Zentrale Herausforderung bleibt die Datenlage sowie die Möglichkeiten der Datenaufbereitung. Im Ergebnis der proaktiven Bewertung besteht für jedes proaktive Element eine Bewertung in drei Kategorien:
- Kategorie 1 – Rot: deutliches Defizit,
- Kategorie 2 – Gelb: bedeutendes Defizit,
- Kategorie 3 – Grün: akzeptables Defizit kein Defizit.
Tabelle 7: Beispiel für ein Faktenblatt der proaktiven Bewertung
Gesamtbewertung
Für die Kombination der Bewertung werden Punkte verwendet, die den kategorialen Einzelbewertungen zugeordnet sind. Dabei sollen einzelne Teilbewertungen der proaktiven Elemente nochmals gewichtet werden. So weisen Sicherheitsdefizite bspw. hinsichtlich des Straßenzustands nicht die gleiche Relevanz wie ungeschützte Hindernisse im Seitenraum auf, was durch die Bewertung berücksichtigt wird. Weiterhin wurde – auch in Absprache mit dem Forschungsbegleitkreis – festgelegt, dass nur die schlechteste proaktive Teilbewertung in die Gesamtbewertung eingeht. Eine Mittelwertbildung wurde abgelehnt, da ein schwerwiegendes Sicherheitsdefizit durch ein anderes weniger relevantes Defizit nicht relativiert werden soll. Außerdem kann durch diese Vorgehensweise die proaktive Bewertung jederzeit erweitert werden, sobald weitere Datensätze zur Verfügung stehen.
In der Kombination von proaktiver und reaktiver Bewertung soll zudem eine schlechte reaktive, also unfallbasierte Bewertung nicht durch eine günstige proaktive Bewertung relativiert werden. Insofern dient die proaktive Bewertung vor allem einer Ausdifferenzierung der reaktiven Bewertung. Zusätzlich werden aber somit zukünftig auch bisher nicht im Unfallgeschehen auffällig gewordene Abschnitte priorisiert bzw. gekennzeichnet.
Erkenntnisse aus Pilotversuchen
Der Aufwand für die Umsetzung des neuen Vorschlags für eine Netzanalyseverfahren in Pilotversuchen war massiv davon abhängig, in welcher Qualität und Aufbereitung die Daten vorlagen. Die größten Einschränkungen waren für den bei der BASt vorhanden Datensatz zu Autobahnen in Baden-Württemberg festzustellen (u. a. mit Daten aus BISStra, dem Bundesinformationssystem Straße). Grundsätzlich wurde aber die Machbarkeit des Ansatzes nachgewiesen. Vor allem die reaktive Bewertung weist aufgrund der Einhaltung der Anforderungen zu den Mindestlängen nicht mehr die bekannten Probleme der hoch priorisierten kurzen Netzabschnitte auf, welche „kaum“ Unfälle aufweisen. Beispielhafte Auszüge der Pilotanwendungen finden sich in der Tabelle 8. Es sind zwei mögliche Varianten der Darstellung zu sehen. Die tabellarische Darstellung in der Tabelle 8 ermöglicht die gleichzeitige Betrachtung der Teilergebnisse, die der Gesamtbewertung zu Grunde liegen. Zusätzliche Informationen zum Unfallgeschehen können direkt eingesehen werden. Kartendarstellungen ermöglichen den direkten örtlichen Bezug, wobei diese um weitere Einzellayer ergänzt werden können.
Tabelle 8: Auszug Rangliste Gesamtbewertung (reaktiv mit SIPO und proaktiv)
Im Bild 4 ist links das SIPO über den DTV aufgetragen sowie die Prioritätskategorien sind farblich dargestellt. Es wird deutlich, dass kein DTV-Einfluss mehr vorhanden ist bzw. sich Abschnitte mit einer hohen Priorität bzw. Rangfolgenplatz sich in allen Belastungsklassen wiederfinden. Dies deutet auf eine korrekte Berücksichtigung der Nichtlinearität des DTV- Einflusses sowie der reduzierten Relevanz kurzer Abschnitte hin. Im rechten Bild sind typische Knotenpunktunfälle (Abbiegen Typ 2 und Einbiegen-/Kreuzen Typ 3) vom restlichen Unfallgeschehen für die oberen 50 Rangfolgenplätze der reaktiven Bewertung abgegrenzt. Deutlich wird, dass das Unfallgeschehen an Knotenpunkten für einen Teil der Abschnitte das Unfallgeschehen eines Analyseabschnitts dominiert. Die separate Bewertung von „größeren“ Knotenpunkten kann also durchaus zielführend sein.
Bild 4: Verteilung des SIPO über den DTV (links) und Aufteilung der Unfallkosten der Top 50 Abschnitte aus der reaktiven Bewertung (rechts)
Die proaktive Bewertung wurde im Anschluss an die Analysen mit stichprobenhaften Orts- begehungen und Ortsbefahrungen überprüft. Dabei konnte eine gute Übereinstimmung, vor allem der Bewertung der horizontalen Trassierung, des Querschnitts sowie der Hindernisse im Seitenraum festgestellt werden. Es werden also mit dem proaktiven Verfahren Abschnitte anhand der Daten identifiziert, welche tatsächlich Sicherheitsdefizite aufweisen oder zumindest ein detaillierteres „Hinschauen“ rechtfertigen.
Weitere Erkenntnisse aus den Pilotanalysen betreffen:
- Die proaktive Bewertung sowie die Gesamtbewertung sollte auf Ebene der Netzknotenabschnitte (NKA) (aber ohne Vermischung von innerorts und außerorts) Veränderungen der infrastrukturellen Merkmale innerhalb eines Abschnitts können über Längenanteile an den NKA berücksichtigt werden. Diese Art der Netzeinteilung lässt sich mit dem geringsten Aufwand umsetzen.
- Ziel der proaktiven Bewertung ist es „vielversprechende“ Abschnitte für eine detailliertere Analyse Die Konkretisierung der Defizite sowie gegebenenfalls der darauf aufbauenden Ableitung von Maßnahmen erfolgen erst im zweiten Schritt bspw. durch ein Bestandsaudit oder eine vereinfachte Begutachtung/Validierung von potenziellen Defiziten vor Ort (z. B. fehlendes Rückhaltesystem vor einem Hindernis).
- Die Bewertung der Daten, also die Kategorisierung des Einzelabschnitts in einer Bewertungskategorie, kann flexibel weiterentwickelt werden. So ist eine weitere Ausdifferenzierung mit mehr als nur drei Kategorien denkbar. Genauso sind auch Anpassungen der Grenzen zwischen den Kategorien (also ab wann ist etwas als kritisch zu bewerten) denkbar. Auch die Berücksichtigung von Fehlerdichten wäre eine Möglichkeit, um detaillierter eine Bewertung für das eigene Netz vornehmen zu können. Dadurch werden die Ziele einer Straßenbauverwaltung besser berücksichtigt. Bisher führt jedes maßgebliche Defizit – egal wie häufig es vorkommt – gegebenenfalls zu einer schlechten Bewertung.
- Es wird erwartet, dass anfangs maßgebliche Aufwände für die Erstellung der proaktiven Bewertung anfallen. Sobald sich dafür ein System entwickelt hat, sollte es jedoch einfacher sein, weitere Bewertungsindikatoren zu ergänzen.
4 Fazit und Empfehlungen
Die Aktualisierung der EU-Direktive für das Sicherheitsmanagement der Straßeninfrastruktur hat erhöhte Anforderungen an die netzweite Sicherheitsanalyse aufgestellt. Das bisher in den ESN beschriebene unfallbasierte Verfahren (reaktiv) wird neu durch ein proaktives Verfahren zur risikobasierten Bewertung von konkreten Sicherheitsdefiziten der Straßeninfrastruktur ergänzt. Dieser Ansatz bietet neue Möglichkeiten, um zukünftig schneller und direkter zu einer Verbesserung der Straßeninfrastruktur bzw. deren Sicherheit zu kommen.
Im Rahmen eines BASt-Forschungsprojektes wurde ein neuer Verfahrensvorschlag entwickelt, anhand von Pilotanwendungen im Außerortsbereich getestet und die Machbarkeit nachgewiesen. Während der reaktive Verfahrensteil – jetzt auch mit den aktualisierten gUKR für Außerortsstraßen sowie den Anforderungen an Mindestlängen von Abschnitten – die Erfahrungen von vielen Jahren Praxisanwendung berücksichtigt, steht die Anwendung des proaktiven Verfahrensteils erst am Anfang.
Zentrale Herausforderung stellen die für das proaktive Verfahren notwendigen Daten dar. Grundsätzlich sollte ein großer Teil der in Frage kommenden Daten in den Straßeninfor- mationsdatenbanken enthalten sein, was sich aber sowohl bei Diskussionen mit Ländervertretern als auch bei Einsicht in die tatsächlichen Datenbestände als nichtzutreffend herausstellte. Diese Daten sollen grundsätzlich auch eine andere Zwecke erfüllen. Daher stellt sich die Frage, inwiefern diese Synergien noch besser genutzt und wie diese Daten flächendeckend erhoben werden können. Zentral dabei ist es, dass vorab konkrete Anforderungen an die Datenerhebung aus der Analyse und den Analysezielen herausgestellt werden. Das neue Verfahren wurde modulbasiert aufgebaut, sodass bereits heute mit vorhandenen Daten begonnen und zu einem späteren Zeitpunkt die Analyse ergänzt und komplettiert werden kann.
Bis zur erstmaligen Durchführung der netzweiten Sicherheitsanalyse für die Straßen im Geltungsbereich der EU-Richtlinie im Jahre 2024 wird es darum gehen, das proaktive Verfahren in der Praxis zu testen und weiterzuentwickeln. Die Aufbereitung der Daten hat dabei auch noch andere Nutzen. Beispielsweise können anhand der Ausstattungsraten von Kurven mit passiven Schutzeinrichtungen im Straßennetz Zielvorstellungen, welcher Ausstattungsgrad für die nächsten Jahre angestrebt wird, definiert werden. Dies kann dann auch viel besser, weil exakter und eindeutiger (im Vergleich zum Unfallgeschehen) einem Monitoring unterzogen werden.
Der modulare Aufbau des Verfahrens lässt genügend Freiheitsgrade für andere Bewertungs- ansätze bzw. Vorgehensweisen wie z. B. der integralen Methode für die reaktive Bewertung. Auch hierzu finden sich im Forschungsbericht Ansätze, um eine aussagekräftige Bewertung im Rahmen des Gesamtverfahren zu erreichen.
Viel wichtiger aber ist es, die Erkenntnisse aus der Netzanalyse auch tatsächlich für die Verkehrssicherheitsarbeit zu nutzen und Verkehrssicherheitsaspekte aus der Netzanalyse in andere Prozesse des Sicherheits- und Infrastrukturmanagements einzubringen. Ansätze für die weitere Nutzung sind in der Tabelle 9 aufgeführt.
Tabelle 9: Verwendung der Ergebnisse der Netzanalyse
Literaturverzeichnis
Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2003): Empfehlungen für die Sicherheits- analyse von Straßennetzen (ESN), Ausgabe 2003, Köln (FGSV 383)
Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union (2008): Richtlinie 2008/96/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Sicherheitsmanagement für die Straßeninfrastruktur. Amtsblatt der Europäischen Union
Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union (2019): Richtlinie 2019/1936 des Euro- päischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2008/96/EG über ein Sicherheits- management für die Straßeninfrastruktur. Amtsblatt der Europäischen Union
Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2017): Hinweise zu Unfallkostensätzen (H Uks), Teil 1: Ermittlung von Kollektivgrößen zur Berechnung von Unfallkostensätzen, Ausgabe 2017, Köln (FGSV 297/1)
Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (20XX). Handbuch für die Bewertung der Verkehrssicherheit von Straßen (HVS Entwurf)
Schüller, H.; Niestegge, M.; Butz, B.; Skakuj, M. (2021): Evaluierung der Sicherheitsanalyse von Straßennetzen. Bundesanstalt für Straßenwesen (bisher unveröffentlichter Bericht zum FE 03.0547/2016/ FRB), Bergisch Gladbach |