FGSV-Nr. FGSV 001/29
Ort Bonn
Datum 23.10.2024
Titel Zügige und sichere Führung des Radverkehrs an Knotenpunkten – Neue Forschungsergebnisse und künftiges Regelwerk
Autoren Dr.-Ing. Simon Hummel, M.Eng. Jan Schappacher
Kategorien Kongress
Einleitung

Der Artikel bietet einen Überblick über aktuelle Entwicklungen aus der Infrastrukturforschung im Feld des Radverkehrs an Knotenpunkten der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) zur aktiven Mobilität. Es werden die zentralen Ergebnisse von vier abgeschlossenen Forschungsprojekten vorgestellt und deren Beitrag im Hinblick auf die Förderung des Radverkehrs und auf die Reduzierung von Verkehrsunfällen eingeordnet. Einleitend wird ein neu-entwickeltes Verfahren zur Gestaltung innerörtlicher Verkehrswegenetze und dessen Auswirkungen auf die Knotenpunktgestaltung erläutert. Daran anknüpfend werden die Ergebnisse einer Evaluation von Kreuzungssituationen zwischen Rad- und motorisiertem Verkehr mit einem Fokus auf der Optimierung des Verhaltens, der Regelung und der baulichen Situation präsentiert. Sind die Verkehrsstärken oder die Geschwindigkeiten zu hoch oder die Knotengeometrie komplex, dann wird der Verkehr mit Lichtzeichen geregelt. Im Forschungsprojekt „Berücksichtigung neuer Forschungsergebnisse und Technologien zur Weiterentwicklung der RiLSA“ wurden mögliche Handlungsfelder zur Überarbeitung der Richtlinien für Lichtsignalanlagen erhoben und ausgewertet. Aus diesem Projekt folgt eine beispielhafte Auswahl möglicher Änderungen in der zukünftigen Richtlinie mit Blick auf den Radverkehr. Abschließend wird ein Forschungsprojekt mit dem Schwerpunkt auf einer optimalen Ausgestaltung von barrierefreien Querungsanlagen vorgestellt. Der in dieser Studie empfohlene breitere Ausbau der Nullabsenkung bzw. die zukünftige Verbreitung einer angerampten Lösung erhöht aus Sicht des Radverkehrs den Fahrkomfort an Knotenpunkten. Dies kommt zusätzlich zu den primären Zielgruppen der Barrierefreiheit vor allem Kindern unter 8 Jahren in Begleitung ihrer Eltern zugute, die sich mit dem Fahrrad auf dem Gehweg bewegen müssen.

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1 Einleitung

Nimmt man die Aktivitäten rund um den Radverkehr im gesamten Bundesgebiet in den Blick, dann sind im Wesentlichen zwei Ziele wahrnehmbar. Ein Ziel ist es, den Radverkehr zu fördern. Im Nationalen Radverkehrsplan 3.0 (NRVP 3.0) sind die Zielvorgaben für den zukünftigen Radverkehr im Bundesgebiet für das Jahr 2030 formuliert. Die Anzahl der Wege, die mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, soll von 120 Wegen pro Person im Jahr 2017 auf 180 Wege pro Jahr und Person im Jahr 2030 erhöht werden. Gleichzeitig sollen auch die Distanzen der mit dem Fahrrad in Deutschland zurückgelegten Wege pro Person verlängert werden. Von 3,7 km pro Person und Jahr auf 6 km pro Person und Jahr im Jahr 2030 (BMDV, 2022). Dies ist ein größerer Anstieg als in den im Vergleich zu ländlichen Gebieten fahrradaffineren Metropolen Deutschlands zwischen den Jahren 2002 und 2017 erreicht werden konnte, (Nobis, 2019).

Das andere wesentliche Ziel ist es, die Anzahl der verunglückten Menschen im Straßenverkehr und damit auch die Unfälle mit Radbeteiligung zu reduzieren. Im Nationalen Verkehrssicherheitsprogramm wird der Radverkehr direkt adressiert. Die dort aufgeführten Zielvorstellungen gehen dabei mit den Zielen des NRVP 3.0 Hand in Hand. So sollen im Jahr 2030 trotz der gestiegenen Fahrleistung rund 40 % weniger Menschen auf dem Fahrrad im Zuge eines Verkehrsunfalles ums Leben kommen als im Bezugsjahr 2019 (BMDV, 2022) (Die Bundesregierung, 2021).

Der Entflechtung der Verkehre wird in beiden Konzepten eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Die Bestrebungen, die aktive Mobilität zu fördern und die Anzahl der Verunglückten zu reduzieren, passen dabei sowohl zur konzeptionellen Ausrichtung auf der europäischen Ebene (Europäische Kommission, 2024) (Europäische Kommission, 2023), (Europäische Union, 2019) als auch in die rahmensetzende Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung (Ziel 3, 9, 10, 11 und 13) (Die Bundesregierung, 2020).

Im Zuge der Umsetzungsbestrebungen in der Praxis nimmt die Komplexität naturgemäß zu. Befragt man Menschen vor Ort, warum jemand sich für einen Weg auf den Fahrradsattel schwingt oder eben nicht, dann gibt es selten nur die eine Ursache. Es kommen in der Regel viele Gegebenheiten zusammen, die zur finalen, meist unbewussten Entscheidung bei der Verkehrsmittelwahl führen. So wurden bei einer Umfrage im Rahmen des Fahrradmonitor 2023 beispielhaft

  • die Abhängigkeit vom Wetter,
  • die Vermeidung von Anstrengung,
  • zu große Distanzen,
  • ein Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber anderen Verkehrsteilnehmenden,
  • die Angst vor Unfällen,
  • andere Routinen
  • oder das soziale Umfeld

als mögliche Gründe von Menschen benannt, die sich gegen eine Fahrradnutzung entscheiden (BMDV, 2024).

Ebenso hat ein Verkehrsunfall mit Radverkehrsbeteiligung nur selten eine einzige Ursache. Auch hier kommen viele Gegebenheiten zusammen, die meist über die von der Polizei protokollierte, und damit recht einfach statistisch-auswertbare Unfallursache hinausgehen. Ein beispielhafter Unfall zwischen einem abbiegenden Kfz und einem geradeaus fahrenden Fahrradfahrenden kann noch viele weitere ursächliche Faktoren wie z. B.

  • schlechte Sichtbeziehungen durch Straßenbegleitgrün oder Falschparker,
  • schlechte Sichtverhältnisse, z. B. durch eine tief stehende Sonne,
  • die Ablenkung durch Bedienung des Telefons oder des Navigationsgerätes,
  • eine verzögerte Reaktion, weil nicht beide Hände am Lenkrad/Lenker waren,
  • eine hohe Komplexität der Situation, z. B. aufgrund einer unklaren Vorfahrtsregelung,
  • eine verzögerte Bremswirkung z. B. aufgrund geringer Griffigkeit der Fahrbahnoberfläche oder Defizite am Fahrzeug und
  • unangepasste Geschwindigkeiten, z. B. aufgrund großer Abbiegeradien oder einer Gefällestrecke, umfassen. (BASt, 2024)(Gerlach, Sicher planen im Bestand, 2020).

Die Gestaltung der Infrastruktur hat sowohl bei der Vermeidung von Verkehrsunfällen als auch bei der Förderung des Radverkehrs ihren Beitrag. Um diesen Beitrag vollumfänglich auszuschöpfen, ist es Aufgabe, bei der Entwicklung von Infrastrukturen für den Radverkehr

  • einladende (Steigerung der Attraktivität der Infrastruktur für möglichst viele Menschen) und
  • standardisierte (Reduzierung von menschlichen und technischen Überforderungssituationen).

Lösungen zu finden. Vor dem Hintergrund der Zwangspunkte, vor allem in städtischen Straßenräumen, und der vielen Ansprüche aller Teilnehmenden im Straßenverkehr, den Anwohnerinnen und Anwohnern, Geschäftstreibenden, Politiker und Politikerinnen, ist dies häufig ein komplexes Unterfangen.

Die folgenden Ausführungen sollen einen Überblick über aktuelle Entwicklungen aus der Infrastrukturforschung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) zur aktiven Mobilität geben und deren Beitrag im Hinblick auf die Förderung des Radverkehrs und auf die Reduzierung von Verkehrsunfällen einordnen. Der thematische Schwerpunkt liegt dabei auf einer zügigen und sicheren Führung am Knotenpunkt. Das technische Regelwerk der FGSV fungiert dabei als Scharnier, um die gewonnenen Erkenntnisse an die Planerinnen und Planer vor Ort weiterzugeben.

2 Gestaltung Innerörtlicher Verkehrswegenetze

Städte und Gemeinden werden in Deutschland mit Straßen verknüpft, um gleichwertige Lebensverhältnisse im Sinne der Raumordnung herzustellen (§ 1, ROG). Anlagen für den Rad- und Fußverkehr wurden und werden dabei meistens nur begleitend zu den Straßen für den Kfz-Verkehr gebaut. Zahlreiche Städte und Kommunen haben, auch mangels Alternativen, in der Vergangenheit diesen zwischengemeindlichen Ansatz für die Planung der eigenen Verkehrsnetze übernommen. Seit einigen Jahren gibt es nun einen Paradigmenwechsel in der innerstädtischen und teilweise auch landesweiten Netzplanungspraxis in Deutschland. Zahlreiche Kommunen und einige Bundesländer haben eigene, vom Kfz-Verkehr losgelöste Verkehrsnetze für den Radverkehr und teilweise auch für den Fußverkehr entwickeln lassen. Im Zuge des von Friedrich, et al. (2024) im Auftrag der BASt durchgeführten Forschungsprojektes „Gestaltung innerörtlicher Verkehrswegenetze“ (FE 77.0517) wurden die Erfahrungen der innerörtlichen Netzplanung nun erstmals systematisch untersucht. Ziel ist, eine auf frei-zugänglichen Daten fußende, übertragbare Methode zur innerörtlichen Netzgestaltung für den Rad-, Kfz- und Fußverkehr zu entwickeln. Zur Erreichung des Ziels wurden die bestehenden Verkehrsnetze von 12 Kommunen analysiert und eine Netzkategorisierung nach Vorgaben der Richtlinien für integrierte Netzgestaltung (RIN) durchgeführt. Weiterhin wurde das methodische Vorgehen in der Netzplanungspraxis von 16 Kommunen untersucht. Die Analyse des aktuellen Standes der Technik wurde durch eine umfangreiche Literaturrecherche im In- und Ausland mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft komplettiert.

Als Ergebnis liefert die Studie eine übertragbare Methode zur innerörtlichen Netzgestaltung für den Rad-, Kfz- und, in ersten Ansätzen, für den Fußverkehr. Aus den Analysen geht zunächst hervor, dass beim Konzipieren von innerörtlichen Netzen das Umland, z. B. die angrenzenden Mittelbereiche einer Gemeinde, in die Untersuchung einfließen sollte[1]. Weiterhin wurde in der Studie herausgearbeitet, dass die bestehenden innergemeindlichen Zentrenkonzepte (z. B. Stadtteile, Stadtbezirke) zu unterschiedlich sind, um darauf eine übertragbare Methode der Netzplanung aufzubauen, wie dies analog für die Zentralen Orte im zwischengemeindlichen Bereich möglich ist. Daher wird in der Studie ein Vorgehen zur Festlegung von neuen, repräsentativen Schwerpunkten für die innergemeindliche Verkehrsnetzplanung dargelegt. Die Studie liefert hierfür, auf Basis der durchgeführten Empirie, Kennziffern zur angemessenen Anzahl und Verteilung der Schwerpunkte z. B. je nach Siedlungsfläche oder Einwohnerzahl (Bild 1). Weiterhin werden Schritte aufgezeigt, wie die Schwerpunkte an das bestehende Verkehrswegenetz angeschlossen werden können. Aus den gesetzten Schwerpunkten können nun eigene Luftliniennetze für den Rad- und für den Kfz-Verkehr abgeleitet werden. Für den Fußverkehr werden keine verbindungsbezogenen Netze entwickelt. Es wird die Ermittlung eines „Umfeldanforderung-Score“ mit fünf Stufen vorgeschlagen, mit dem Aussagen zur Bedeutung des Fußverkehrs möglich sind. Mit dem Ziel, eine verbindungsbezogene Netzplanung für den Fußverkehr zu entwickeln, wird zeitnah ein weiteres Forschungsprojekt mit dem Titel „Fußverkehrsnetze für nachhaltige Mobilität und attraktive öffentliche (Straßen-) Räume“ von der BASt durchgeführt. Abschließend können die entwickelten Netze der einzelnen Verkehrsarten im Gemeindegebiet überlagert werden. Hierdurch werden konfligierende Verkehrswege und -knoten sichtbar. Beispielhaft wurde hierfür eine Konfliktmatrix entwickelt, die aufzeigt, welche Kombinationen von Verbindungsfunktionen problematisch sind. Für eine genauere Analyse der Konflikte sind dann zusätzliche Daten zu Straßenraumbreiten und Verkehrsstärken erforderlich. (Friedrich, et al., 2024)

[1] Mittelbereiche bilden die Verflechtungsbereiche um ein Mittelzentrum oder einen mittelzentralen Verbund ab, in dem eine ausreichende Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen des gehobenen Bedarfs erfolgen soll. (BBSR, 2024)

Bild 1: Bestimmung der Anzahl der Schwerpunkte der Zentralitätsstufe III in Abhängigkeit der Siedlungsfläche des Gemeindegebiets (Friedrich, et al., 2024)

Aus Gründen der Verkehrssicherheit sollten Infrastrukturen möglichst so ausgebildet sein, dass die Verkehrsbedeutung, zu der auch die Netzbedeutung zählt, im Straßenraum vor Ort für die Verkehrsteilnehmenden begreifbar ist. Je Straßenkategorie (nach RIN) gibt es typische Entwurfssituationen in den Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt) bzw. verbindungsbezogene Vorgaben in den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) und in den Hinweisen für Radschnellverbindungen und Radvorrangrouten (H RSV) (FGSV, 2006) (FGSV, 2021) (FGSV, 2010). Es wird angestrebt, die innerörtlichen Entwurfssituationen im Zuge der laufenden Überarbeitung noch enger mit der Netzplanung zu verzahnen, ähnlich wie dies bereits in der zwischengemeindlichen Verkehrsplanung der Fall ist. Aus Sicht des Ressourceneinsatzes erscheint es pragmatisch, dass der tatsächliche Ausbaustandard der Infrastruktur sich dabei nicht allein aus der Verbindungsbedeutung begründet, sondern die Entwurfssituationen je nach (erwarteter) Verkehrsstärken auf- und abgestuft werden können. Gelingt das Zusammenspiel zwischen Entwurf und Netzplanung auch im innerörtlichen Bereich, dann sinkt die Komplexität sowohl im Planungsprozess als auch in der gebauten Praxis. Der Straßenraum wird standardisierter und es steigt die Begreifbarkeit.

Ein anderer Aspekt ist, dass passende Infrastrukturelemente im Sinne der Radverkehrsförderung, z. B. hochrangige und einladende Radverkehrsanlagen (Radschnellwege, Radvorrangrouten) oder attraktive Lückenschlüsse (Brückenbauwerke, Unterführungen, Querungsstellen o. Ä.), vor Ort sehr viel leichter umzusetzen sind, wenn sich diese aus einer übergeordneten Netzplanung ableiten und somit systemisch begründen. Dies gilt insbesondere für eine zügige Führung des Radverkehrs an Knotenpunkten, da sich aus der Netzplanung verbindungsbezogene Vorgaben hinsichtlich möglicher Fahrtgeschwindigkeiten ableiten lassen. Diese Vorgaben werden dann bei der Planung und Bau von Netzabschnitten relevant, wenn ein höherrangiger Verkehrsweg des Radverkehrs auf andere Verkehrswege mit geringerer Verkehrsbedeutung trifft. Eine Evaluation der dann greifenden Entwurfsempfehlungen an Knotenpunkten wird unter Ziffer 3 vorgestellt.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass das Projekt zur Gestaltung innerörtlicher Verkehrswegenetze in der Gesamtschau sowohl auf die Radverkehrsförderung als auch auf die Verkehrssicherheit innerorts einzahlt. Es kann weiterhin als ein zentraler Baustein für die zukünftige Überarbeitung der Regelwerke der AG 1, der AG 2 und der AG 3 der FGSV betrachtet werden.

3 Optimierung von Verhalten, Regelung und baulicher Situation in Kreuzungssituationen zwischen Rad- und motorisiertem Verkehr

Trifft eine Radschnellverbindung (RSV) oder eine Radvorrangroute (RVR) auf einen Kfz-Verkehrsweg mit nur geringer Verkehrsbedeutung, dann sollte die RSV/RVR nach den H RSV bevorrechtigt geführt werden. Empfehlungen für die Gestaltung und Einsatzkriterien solcher baulichen Kreuzungssituationen finden sich in den H RSV sowie in verschiedenen Empfehlungen der Bundesländer. Hier bestand Forschungsbedarf, da die bereits veröffentlichten Empfehlungen zu Gestaltung und Einsatzbereichen von RSV und RVR nur mit wenigen empirischen Untersuchungen untermauert sind.

Bild 2: Bevorrechtigte Kreuzungssituation zwischen Rad- und motorisiertem Verkehr in Detmold. (Gerlach, Gerlach, Leven, Tix, & Schwedler, 2024)

Die von Gerlach et al. (2024) im Rahmen einer von der BASt beauftragten Forschung durchgeführte Evaluation fokussiert auf eine Bewertung der Verkehrssicherheit, die Berücksichtigung wahrnehmungspsychologischer Aspekte sowie auf eine Ableitung möglicher Einsatzkriterien. Für die Untersuchung wurden aus 200 Knotenpunkten 31 Fallbeispiele im Bestand ausgewählt. Das Kollektiv umfasste 14 durch Verkehrszeichen bevorrechtigte Knoten, 10 Knoten mit Wartepflicht für die RSV/RVR und 7 Knoten mit Lichtsignalanlage (LSA). Der Fokus lag auf selbständigen und gemeinsam mit dem Fußverkehr geführten Anlagen (20). Dazu kamen noch Fahrradstraßen (8) und Zweirichtungsradwege (4) als Bestandteil des Kollektivs. Alle ausgewählten Anlagen befanden sich im innerörtlichen Bereich. Im außerörtlichen Bereich konnten nur wenige Untersuchungsstellen mit ausreichend hoher Radverkehrsstärke gefunden werden. Um das oben genannte Ziel zu erreichen, wurden eine Unfallanalyse sowie die Analyse möglicher Sicherheitsdefizite auf Basis der auf der BASt-Homepage zum Download bereitgestellten Defizitlisten für das Sicherheitsaudit von Straßen an allen Standorten durchgeführt. Die Aussagekraft der Unfallanalyse war dahingehend eingeschränkt, dass es bei Radverkehrsunfällen generell eine hohe Dunkelziffer gibt und die Nutzbarkeit der Unfalldaten vom jeweiligen Datum der Fertigstellung der Knotenpunkte abhängt. Im zweiten Teil der Empirie folgten kameragestützte Verhaltensbeobachtungen und Interaktionsanalysen für die morgendlichen (7-10 Uhr) und abendlichen Spitzenstunden (15-18 Uhr). Zusätzlich wurde die verbindungsbezogene Angebotsqualität (Verlustzeiten, durchschnittliche Geschwindigkeiten) der Netzabschnitte auf den Netzmaschen durch eigene Befahrungen erhoben. An vier Standorten erfolgte eine Befragung von insgesamt 228 Nutzerinnen und Nutzern der Anlagen. (Gerlach, Gerlach, Leven, Tix, & Schwedler, 2024)

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass eine Standardisierung von Knoten von RSV und RVR im Bestand noch nicht umgesetzt ist. Aufgrund des Erscheinungsjahres 2021 der H RSV war dies ein erwartbares Ergebnis. Die Ergebnisse der Studie bestätigen im Wesentlichen die Empfehlungen der H RSV. Eine bevorrechtigte Führung des Radverkehrs im Zuge einer RSV oder einer RVR führte in dieser Studie weder zu überdurchschnittlich vielen Unfällen noch zu überdurchschnittlich vielen Konflikten. Grundsätzlich können daher die Gestaltungsempfehlungen der H RSV für eine bevorrechtigte Führung bestätigt werden. Diese umfassen unter anderem

  • eine gute Sichtbeziehung zwischen den Verkehrsteilnehmenden,
  • eine eindeutige und gut sichtbare Beschilderung der Vorfahrtregelung sowie
  • eine (fahrdynamisch wirksame) Fahrbahnanhebung im Bereich der Radverkehrsfurt. (FGSV, 2021).

Für Knoten mit Wartepflicht für den Radverkehr können ebenfalls die Empfehlungen zur Gestaltung aus den H RSV weitestgehend bestätigt werden. In der Empirie zeigte sich ergänzend, dass die Richtungsströme jeweils die gleichen Vorfahrtsregelungen aufzeigen sollten. Dies gilt insbesondere für die Führung des Fußverkehrs. Weiterhin konnte aus der Befragung abgeleitet werden, dass eine bevorrechtigte Führung an Knotenpunkten als subjektiv sicherer bewertet wird als Knotenpunkte mit Wartepflicht für den Radverkehr. In diesem Kontext ist auf den Zusammenhang hinzuweisen, dass an den Knoten mit Wartepflicht für den Radverkehr im Vergleich deutlich höhere Kfz-Verkehrsstärken vorhanden waren. Mit Blick auf die Einsatzkriterien zeigte sich, dass die ausschließliche Berücksichtigung der Kfz-Verkehrsstärke und die zulässige Geschwindigkeit, wie in den H RSV angegeben, nur bedingt geeignet sind. Es wurde vielmehr deutlich, dass der Rad- und Fußverkehr ebenfalls einen großen Einfluss auf die Konflikthäufigkeit im Kollektiv hatte. Auf Basis der Empirie wird empfohlen, an bevorrechtigten Knotenpunkten ein Verhältnis zwischen Rad und Kfz-Verkehr von mindestens 1:1 anzustreben. Wartepflichtige Knoten sollten nur dann zum Einsatz kommen, wenn eine bevorrechtigte Lösung nicht möglich ist sowie planfreie Varianten und Kreisverkehre nicht in Betracht kommen. Auf Grundlage der ermittelten Angebotsqualitäten sowie einer detaillierten Analyse des aktuellen Standes der Wissenschaft und Technik wurden als weiteres Ergebnis in dieser Studie, Unterschiede im bestehenden Regelwerk der FGSV herausgearbeitet. Die Unterschiede zeigen sich in den Zielvorgaben, als auch in den Bezugsgrößen der verbindungsbezogenen Angebotsqualitäten zwischen RIN, ERA und H RSV. Mit Blick auf die in Ziffer 2 erwähnte engere Verzahnung zwischen Netzplanung und Entwurf im Feld des Radverkehrs, ist es erstrebenswert, diese Widersprüche im Zuge der Überarbeitung der Regelwerke aufzulösen (Gerlach, Gerlach, Leven, Tix, & Schwedler, 2024).

Im Kontext der Ziele der Förderung des Radverkehrs und der Verbesserung der Verkehrssicherheit ist die Studie im Zentrum dieser beiden Bewegungsrichtungen zu verorten. Die Bestätigung und Spezifizierung der bestehenden Entwurfsempfehlungen inklusive deren Einsatzkriterien schafft Sicherheit und ebnet den Weg hin zu einer verbesserten Akzeptanz im planerischen Umfeld, was schließlich auch eine weitere Verbreitung und somit eine fortschreitende Standardisierung erwartbar macht. Die H RSV besitzen als W1-Papier nur eine geringe Verbindlichkeit für die Straßenbaulastträger. Nun da die Entwurfsempfehlungen und Einsatzkriterien aus den H RSV im Zuge der Evaluation weitestgehend bestätigt wurden, kann dies die Basis für Diskussionen bzgl. der Weiterentwicklung der H RSV zu einem höherrangigen Regelwerk bilden. Wie aus der Studie hervorgeht, fühlen sich Menschen auf dem Rad im Zuge einer bevorrechtigten Führung am Knoten sicherer. Damit erweitern sich mit der zunehmenden Verbreitung dieser Anlagen auch die Zielgruppen, und damit insgesamt die Anzahl der Menschen, die sich für einen Weg auf den Fahrradsattel schwingen.

4 Berücksichtigung neuer Forschungsergebnisse und Technologien zur Weiterentwicklung der RiLSA

Sind die Verkehrsstärken oder die Geschwindigkeiten zu hoch oder die Knotengeometrie komplex, dann wird der Verkehr mit Lichtzeichen geregelt. Hierbei gibt es neben dem Primus der Verkehrssicherheit bei der Erstellung der Signalprogramme gewisse Freiheitsgrade bei den weiteren Optimierungszielen wie beispielsweise der Verkehrsqualität oder der Bevorrechtigung bestimmter Verkehrsströme. Das maßgebliche Regelwerk hierzu sind die Richtlinien für Lichtsignalanlage (RiLSA). Die derzeit gültigen RiLSA 2015 haben einer Änderung in der Neufassung der StVO 2013 Rechnung getragen und entsprechen ansonsten bis auf wenige Korrekturen den RiLSA 2010. Derzeit besteht somit ein fast 15 Jahre großer zeitlicher Abstand zwischen den Inhalten der RiLSA und der Anwenderpraxis, Forschungsergebnissen und der technologischen Entwicklung bis heute. Das Ziel der von der BASt beauftragten Studie „Berücksichtigung neuer Forschungsergebnisse und Technologien zur Weiterentwicklung der RiLSA“ ist es, eine Zusammenstellung von Aspekten und Themen herauszuarbeiten, die für die Weiterentwicklung der RiLSA aktuell relevant sind bzw. künftig relevant sein werden.

Um diese Aspekte und Themen herauszuarbeiten, erfolgte im Rahmen der Studie eine umfangreiche Sekundäranalyse. Diese umfasste eine Sichtung und Analyse der seitdem veröffentlichten wissenschaftlichen Literatur, als auch eine gezielte Auswertung der Vorgaben, mit welchen die Länder und Kommunen die Empfehlungen der RiLSA weiter spezifiziert haben. Unter anderem wurden für die Studie 13 Erlasse sowie 10 Erfahrungsberichte der Bundesländer mit Bezug zur RiLSA ausgewertet. Hinzu kam noch eine Analyse von Anwendungsleitfäden aus 15 Kommunen. Weiterhin erfolgte eine detaillierte Analyse der internationalen Literatur, mit einem besonderen Fokus auf der Wissensplattform zur Lichtsignalsteuerung der CROW aus den Niederlanden.

Ein weiterer zentraler Bestandteil der Studie war eine umfangreiche Onlinebefragung von Stakeholdern aus dem Umfeld der Lichtsignalsteuerung. Dank einer breiten Beteiligung mit circa 250 Rückmeldungen konnte zu vielen Themen und Aspekten ein ausgeprägtes Meinungsbild und Anregungen aus der Fachwelt generiert werden und somit eine umfangreiche Partizipation in dieser Phase der Regelwerksüberarbeitung sichergestellt werden. Unter den Teilnehmenden der Befragung waren Beschäftigte von Verwaltungen von Gemeinden, Städten, Landkreisen, Ländern und dem Bund am stärksten vertreten (52 %), die weiteren Teilnehmenden sind durch ihre Tätigkeit

  • als Planer/Berater (23 %),
  • in der Herstellung von Signaltechnik (11 %),
  • in Verkehrsbetrieben (6 %),
  • in der Wartung/Verkehrssicherung (2 %),
  • im Bereich der Forschung (5 %),
  • und in Interessensverbänden für Blinde und Sehbehinderte (1 %).

mit den RiLSA vertraut. Ausgewählte Aspekte aus der Befragung wurden zudem im Rahmen von zwei Online-Workshops tiefgehender diskutiert und in einem dritten Online-Workshop für die Empfehlung einer Priorisierung der Themen durch die beteiligten Experten bewertet. (Schendzielorz, et al., 2022)

Als Ergebnis wurde ein bunter Strauß an Anwendungshinweisen, Ergänzungen und Überarbeitungsbedarfen gesammelt. In den folgenden Absätzen werden ausgewählte Ergebnisse im Kontext des Radverkehrs aus dieser Themensammlung beispielhaft vorgestellt.

Der ausgeprägte Wunsch nach einer Konkretisierung der Empfehlungen und Festlegungen in den RiLSA zur Erhöhung der Sicherheit für den Radverkehr ging sehr deutlich aus den Befragungen hervor. Nur 7 % der Befragten halten eine diesbezügliche Überarbeitung für nicht erforderlich. Die Überarbeitung zu

  • gemeinsamer Führung von Radfahrern mit Kfz-Verkehr,
  • Radweg/Radfahrstreifen mit eigener Signalisierung und zur
  • Führung links abbiegender Radfahrer (indirektes Abbiegen).

wird nahezu gleich stark von jeweils knapp 70 % der Befragten gefordert. Rund die Hälfte der Befragten hatte zudem zurückgemeldet, dass in ihrem Zuständigkeitsbereich bereits gezielt Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit von Radfahrenden eingesetzt werden. Zumeist werden markierungstechnische, signaltechnische und bauliche Maßnahmen kombiniert (Bild 3).

Bild 3: Angaben zum Einsatz von Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit von Radfahrenden (Mehrfachnennungen möglich) (Schendzielorz, et al., 2022)

Als konkretes Thema zur Ausarbeitung von Empfehlungen werden beispielsweise in den RiLSA 2015 Ausführungen zu effektiven Maßnahmen hinsichtlich des Rechtsabbiegekonflikts vermisst. Zum Einsatz kommen in der Praxis hierbei u. a. eine

  • Trennung der Freigabe Rad/Kfz durch separates Radsignal bei Radfahrstreifen und separatem Kfz-Rechtsabbiegestreifen,
  • der Rückbau freilaufender Rechtsabbieger und die Verlagerung der Radwege unmittelbar an die Fahrbahn, um die Sichtbeziehung zu erhöhen und diese vom Fußverkehr entkoppeln sowie die
  • Erhöhung der Aufmerksamkeit des rechtsabbiegenden Kfz durch einen Blinker oder evtl. durch ein Rechtsabbiegehilfssignal.

Als weiteres Thema konnte, identifiziert werden, dass das indirekte, signalisierte Linksabbiegen mit Aufstellflächen vermehrt angewendet wird, jedoch auch hierzu weitere Empfehlungen und Anpassungen am Regelwerk gewünscht sind.

Auch eine Betrachtung bestehender Bemerkungen in den aktuellen RiLSA wurden auf Basis der praktischen Umsetzung zur Überprüfung empfohlen. Beispielsweise werden eine gemeinsame Signalisierung mit dem Kraftfahrzeugverkehr, eine gemeinsame Signalisierung mit dem Fußverkehr und die gesonderte Signalisierung des Radverkehrs als drei mögliche Varianten zur Führung des Radverkehrs mit Angabe der Einsatzkriterien beschrieben. Zur letztgenannten Variante der gesonderten Signalisierung wird jedoch bemerkt, dass sie nur zum Einsatz kommen sollte, wenn die sich daraus ergebenden Vorteile für die Sicherheit, die Akzeptanz und die Verkehrsqualität den zusätzlichen Aufwand rechtfertigen. Demgegenüber hat die Analyse der Einführungserlasse und Leitfäden gezeigt, dass in einzelnen Bundesländern und Kommunen gezielt darauf hingewirkt wird, dass die gemeinsame Führung des Radverkehrs mit dem Fußverkehr nur in Ausnahmefällen erfolgt und die gesonderte Signalisierung und eine gemeinsame Signalisierung mit dem Kfz-Verkehrt vielmehr die Regel darstellen sollte. (Schendzielorz, et al., 2022)

Ergänzende Anregungen ergeben sich zudem aus den Hinweisen eines Ländererlass, dass der rechtsabbiegende Radverkehr, der auf der Fahrbahn geführt und gemeinsam mit dem Kfz-Verkehr geschaltet wird, während des Abbiegevorgangs in einem ständigen Konflikt mit dem rechtsabbiegenden Kfz steht. Weiterhin zeigt die Analyse, dass es in manchen Gemeinden die Vorgabe gibt, den LSA-Mast möglichst rechts der Radverkehrsführung im Seitenraum zu platzieren. Bei einer gemeinsamen Signalisierung mit dem Kfz-Verkehr ist die Gültigkeit des gemeinsamen Signalgebers damit eindeutiger erkennbar. Weiterhin profitieren davon Seheingeschränkte und Blinde beim Auffinden des Mastes, wenn sie dabei nicht den Radweg queren müssen (siehe auch Kapitel 5).

Ein weiteres Thema, das im Forschungsprojekt für die Fortschreibung der RiLSA als besonders relevant eingestuft wurde, sind beispielsweise Hinweise zu Detektionstechnologien für unterschiedliche Verkehrsarten, vom Kfz- über den Rad- und Fußverkehr bis hin zum ÖPNV. Hierbei ließen zahlreiche Rückmeldungen aus den Projektworkshops sowohl eine Motivation zur besseren Bevorrechtigung einzelner Verkehrsströme erkennen als auch die Möglichkeit, einseitige Bevorrechtigungen auf Basis bereits implementierter Technologien zukünftig besser auszubalancieren.

Die Ergebnisse der Studie dienen somit insbesondere den Gremien der FGSV, die sich unmittelbar mit der Fortschreibung der RiLSA befassen, als umfangreiche Hilfestellung für die Überarbeitung des Regelwerks. Die in der Studie erneut unterstrichene hohe Bedeutung des Radverkehrs in der Praxis sowie die umfangreichen Anregungen für Ergänzungen und Anpassungen im Regelwerk haben das Potential zu einer Förderung des Radverkehrs und zu einer Verbesserung der Verkehrssicherheit nachhaltig beizutragen.

5 Barrierefreie Gestaltung von Querungsanlagen an Ortsdurchfahrten von Bundesfernstraßen

Gesellschaftliches Ziel ist es, allen Menschen – unabhängig von ihren persönlichen Voraussetzungen – eine selbstbestimmte und sichere Mobilität zu ermöglichen und diese über die gesamte Lebensspanne zu erhalten. Unterschiedliche Menschen haben aber unterschiedliche Ansprüche an die Verkehrsinfrastruktur. Diese hängen nicht nur von den Einstellungen und Lebenssituationen ab, sondern auch von ihren kognitiven und körperlichen Fähigkeiten. Gerade mobilitätseingeschränkte Menschen, einschließlich Kinder, sind auf Fortbewegungsformen der aktiven Mobilität angewiesen. Für eine Mobilitätsteilhabe dieser Bevölkerungsgruppen ist eine entsprechende Infrastruktur existenziell. Einerseits besteht die Herausforderung, diese individuellen Ansprüche bei der Planung der Infrastruktur zu berücksichtigen sind. Andererseits sind widersprüchliche Anforderungen im Rahmen der Standardisierung aufzulösen. So wurden im kürzlich abgeschlossenen BASt-Forschungsvorhaben „Barrierefreie Gestaltung von Querungsanlagen an Ortsdurchfahrten von Bundesfernstraßen“ von Boenke & Rebstock (2023) Zielkonflikte zwischen seheingeschränkten und geheingeschränkten Personen adressiert, welche auch die Belange des Radverkehrs berühren. Ein Teil-Ziel des Projektes war eine Evaluierung der beiden bisherigen Bauformen barrierefreier Querungsanlagen (gemeinsame und getrennte Querungsstelle) sowie die Entwicklung einer dritten Bauform. Diese sollte baulich einfach umsetzbar und aus Sicht der Nutzenden verständlich sowie ohne besondere Erschwernisse zu benutzen sein. Um die Zielvorgaben zu erreichen, wurde eine Befragung von 27 Straßenbaulastträgern aus 13 Bundesländern bezüglich der verwendeten Regelbauweisen durchgeführt. Parallel erfolgte eine verdeckte Videobeobachtung an rund 23 Standorten in 18 deutschen Gemeinden. Dabei wurden insgesamt 8.510 Querungsvorgänge analysiert. Darin enthalten waren Querungsvorgänge von 1.632 Personen mit Kinderwagen, 5.034 Radfahrenden sowie 696 Personen, die ihr Fahrrad über die Fahrbahn schoben. Die Anzahl der Querungsvorgänge von Menschen mit erkennbarer Einschränkung (z. B. infolge der Benutzung eines Hilfsmittels) betrug 1.148 Personen. (Boenke & Rebstock, 2023)

Die Ergebnisse der Untersuchung haben gezeigt, dass die Nullabsenkung vom überwiegenden Teil der Menschen mit Rollator oder Rollstuhl gezielt angesteuert wurde. Personen, die einen Langstock nutzten, stellten sich in der Regel am Lichtsignalmast auf. Bodenindikatoren oder die Art der Bordsteinkante schienen keinen wesentlichen Einfluss auf den Aufstell- bzw. Querungsort zu haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die untersuchten Querungsstellen alle über blindenspezifische Einrichtungen gemäß DIN 32981 (mindestens akustische Orientierungs- und Freigabesignale) verfügten. Auf Basis der Videobeobachtungen schienen diese für die Orientierung relevanter zu sein. Weiterhin hat sich im Projekt gezeigt, dass es bei einer Ausführung der Nullabsenkung in Regelbreite von 100 cm zu regelmäßigen Interaktionen von querenden Personen kommt. Es kam zu Ausweichmanövern, Umwegen oder Personen starteten an signalisierten Furten teils verfrüht, um als Pulkführer Störungen aus dem Weg zu gehen. Insofern wird für die zukünftige Planungs- und Baupraxis auf Basis der Studie eine breitere Ausführung von 200 cm der Nullabsenkung als Regelmaß empfohlen, die den Begegnungsfall ermöglicht. Damit werden auch die Anforderungen aus der neuen europäischen Norm DIN EN 17210 ("Barrierefreiheit und Nutzbarkeit der gebauten Umgebung - Funktionale Anforderungen") erfüllt. Aus dem Ausland ist die Anrampung des Bordsteins im Zuge einer Querungsanlage bereits seit vielen Jahren bekannt und bewährt. Um die Übertragbarkeit in das deutsche Planungsportfolio zu untersuchen, wurden unterschiedliche Ausführungsvarianten einer solchen Anrampung in einer Versuchsanlage errichtet. Die Versuchsanlage wurde von Menschen mit unterschiedlichen Mobilitätseinschränkungen begangen und befahren. Auch Radfahrende waren Teil des Kollektivs. Als Ergebnis zeigte sich, dass eine Anrampung ohne Bordkante mit einer Neigung von in der Regel 10 % (max. 12 %) auf einer Länge von 100 cm, die mit Rippenplatten (Richtungsfeld) belegt ist, eine gute Lösung für alle Nutzer und Nutzerinnen ist. Die Lösung bietet sich beispielsweise im Zuge eines gemeinsamen Geh- und Radwegs (VZ 240 StVO) an, wenn die Querung senkrecht zur Fahrbahnachse liegt oder als seitlich liegende Querungsstelle im Zuge eines Gehwegs. (Boenke & Rebstock, 2023)

Die Ergebnisse der Studie fließen in die Überarbeitung der DIN 18040-3 „Barrierefreies Bauen - Öffentlicher Verkehrs- und Freiraum“ und in den zuständigen Arbeitsausschuss für die Erstellung bzw. Fortschreibung der „Empfehlungen für barrierefreie Verkehrsanlagen“ (H BVA zukünftig E BVA) sowie in die einschlägigen Radverkehrsgremien der FGSV ein.

Bild 4: Testperson im Rollstuhl auf der Versuchsstrecke unterwegs. (Boenke & Rebstock, 2023)

Den höchsten Anteil an allen Verunglückten mit Radverkehrsbeteiligung unter den polizeilich-registrierten Radverkehrsunfällen innerorts, bei denen sich Radfahrende schwere Verletzungen zuziehen, hat der Alleinunfall (Typ 1). Dominant sind dabei Stürze auf der Geraden (Typ 141) (Schüller, et al.). Mögliche Ursachen können Unebenheiten in der Fahrbahnoberfläche wie z. B. Wurzelaufbrüche oder eben auch Bordsteinkanten am Knotenpunkt sein. Verschärfend ist das Dunkelfeld gerade bei Alleinunfällen besonders hoch (von Below, 2016). Eine konsequente Berücksichtigung der geltenden Standards (RASt, ERA) und somit eine Absenkung des Bordsteines auf 3,00 cm bzw. 0,00 cm und 6,00 cm bei Planung und Bau kann dazu beitragen, die Infrastrukturen fehlerverzeihender und somit sicherer zu machen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass insbesondere die Absenkung auf das Fahrbahnniveau optisch und taktil gemäß den Hinweisen für barrierefreie Querungsanlagen (H BVA) abgesichert wird, sodass blinde und seheingeschränkte Menschen nicht unbeabsichtigt auf die Fahrbahn gelangen. Ein breiterer Ausbau der Nullabsenkung bzw. die zukünftige Verbreitung einer angerampten Lösung erhöht aus Sicht des Radverkehrs weiterhin den Fahrkomfort am Knotenpunkt. Dies kommt zusätzlich zu den primären Zielgruppen der Barrierefreiheit vor allem Kindern unter 8 Jahren in Begleitung ihrer Eltern zugute, die sich mit dem Fahrrad auf dem Gehweg bewegen müssen. Ist eine Seitenraumführung vorhanden, z. B. ein gemeinsamer Geh- und Radweg, profitieren auch alle anderen Zielgruppen des Radverkehrs. Damit steigt die Attraktivität und die Infrastruktur lädt mehr Menschen dazu ein, mit dem Fahrrad zu fahren.

6 Fazit

Die vorgestellten Studien zeigen, dass der Radverkehr im Feld der Infrastrukturentwicklung schon seit einigen Jahren angekommen ist. Die Ergebnisse stützen und ergänzen in vielen Fällen die Planungsstandards der FGSV. Dies kann hinsichtlich der Verkehrssicherheit förderlich sein. Mit Blick auf die Förderung des Radverkehrs wird in der Zusammenschau deutlich, dass eine enge Verzahnung zwischen Netzplanung und Straßenentwurf ein Schlüssel für ein zusammenhängendes und einladendes Radverkehrsnetz ist. Dabei sollte die planerische Berücksichtigung verkehrsmittelübergreifender Wegeketten sowie die Bereitstellung von mehreren Verkehrsmittelangeboten auf einer Verbindung, zum Beispiel durch den Öffentlichen Verkehr oder Sharing Fahrzeuge, nicht außer Acht gelassen werden. Nur wenige Menschen fahren ganzjährig und durchgehend Fahrrad. Grundsätzlich bleibt auch festzuhalten, dass die verkehrsmittelbezogene Forschung mit dem Fokus auf den Radverkehr dessen Ansprüche mit Empirie unterfüttert hat. Dies stärkt dessen Belange in der Gesamtabwägung. Angesichts der Konkretisierung einzelner, aber auch bei der Berücksichtigung neuer Ansprüche an die Infrastruktur sind zukünftig weitere Tätigkeiten im Feld der Forschung und Entwicklung erwartbar. Im Lichte der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung rücken weitere Ziele und Themenfelder wie zum Beispiel die Ansprüche aus der Klimafolgenanpassung oder die Beförderungsziele des straßengebundenen Öffentlichen Verkehrs in das Blickfeld.

Im Feld des straßengebundenen Öffentlichen Verkehrs sind schon heute, möglicherweise auch vor dem Hintergrund des fortschreitenden demographischen Wandels, verstärkte Aktivitäten im Feld der Forschung und Entwicklung wahrnehmbar. Beispielsweise liegen bereits erste Forschungsergebnisse aus den BASt-Forschungen mit den Titeln „Qualitätsgerechte Bewertung der LSA-Steuerung für den ÖPNV- Handlungsempfehlungen für das HBS“ und „Nutzung der C2X-basierten ÖV-Priorisierung an signalisierten Knotenpunkten“ vor, die aktuell hinsichtlich einer möglichen Übernahme ins Regelwerk geprüft werden. Zukünftig ist aber auch mit weiteren Forschungsergebnissen zu rechnen, welche die Ansprüche des ÖV durch Empirie greifbarer machen. Beispielhaft ist hier die Thematik einer anforderungsgerechten Einbindung nachhaltiger Mobilitätsformen an signalgeregelten Knotenpunkten zu nennen, welche die drei Länder Deutschland, Österreich und Schweiz aktuell unter dem Projekttitel „CrossConnect“ gemeinsam beforschen. Weiterhin ist an dieser Stelle das geplante Forschungsprojekt „Flächenkonkurrenz von ÖPNV und Radverkehr an Hauptverkehrsstraßen“ zu nennen, welches zeitnah von der BASt ausgeschrieben wird.

Schlussendlich stellen die finalen Standards der FGSV im Feld der Infrastruktur aber immer einen Kompromiss aus den Ansprüchen aller Zielgruppen und Zielfelder dar. Damit die bestmöglichen Kompromisse gefunden werden können, arbeitet die Infrastrukturforschung kontinuierlich daran diese Ansprüche sichtbar, messbar und begreifbar zu machen.

Literaturverzeichnis