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1 Problemstellung
Geschwindigkeitsempfehlungen im Fahrzeug oder am Straßenrand ermöglichen dem Fahrer, seine Geschwindigkeit bei Annäherung an einen signalisierten Knotenpunkt so anzupassen, dass er die LSA bei Grün erreicht. In der Berechnung von solchen Geschwindigkeitsempfehlungen wurde in der Vergangenheit viel Forschungsarbeit geleistet. In den 80er Jahren wurde von der Volkswagen Forschung ein Pilotprojekt zur Geschwindigkeitsempfehlung im Fahrzeug durchgeführt (siehe Zimdahl 1983, [1]). Darauf aufbauend wurden in den vergangenen Jahren weitere fest verbaute (Ampelphasenassistent, Menig et al. 2008, [2]) und in mobilen Endgeräten implementierte (Otto und Hoyer 2009, [3] und Bezemer et al. 2009, [4]) Lösungen entwickelt. Des Weiteren wurden am Straßenrand Wechselverkehrszeichen zur Anzeige der nötigen Geschwindigkeit installiert.
Die Verfahren nutzen vorrangig Schaltzeitpunkte der LSA und die Positionen der mit der Geschwindigkeitsempfehlung ausgestatteten Fahrzeuge zur Berechnung einer optimalen Geschwindigkeit. Bisher unberücksichtigt ist der zeitliche Verzug, der durch einen eventuell vorhandenen Rückstau entsteht. Nach Umschalten auf Grün muss sich der vorhandene Rückstau zunächst abbauen. Das heißt, zu dem Umschaltzeitpunkt auf Freigabe muss ein zeitlicher Versatz addiert werden, welcher der Dauer des Abfließens des Rückstaus entspricht.
Die Relevanz von diesem Zeitintervall für die Geschwindigkeitsempfehlung ist in Dittrich et al. 2010, [5] beschrieben. In dem simulierten Szenario mit Festzeitsteuerung und geringer Verkehrsstärke zeigte sich, dass sich die maximal mögliche Geschwindigkeit, die gefahren werden kann, um den nächsten Knotenpunkt bei Grün zu erreichen, mit und ohne Berücksichtigung der Rückstaulänge deutlich unterscheidet. Der Unterschied beträgt, trotz relativ kurzen Rückstaus von maximal 40 Metern, bis zu 6 km/h. Deshalb ist es wichtig, die Rückstaulänge und die benötigte Zeit zum Abfließen der angestauten Fahrzeuge abzuschätzen und in die Berechnung der Geschwindigkeitsempfehlung mit einzubeziehen. Eine Lösung dafür wird hier dargestellt.
Das derzeit implementierte Schätzverfahren nutzt Daten von Detektoren zur Schätzung an einem lokalen Knotenpunkt. Des Weiteren wird eine Optimierung des Verfahrens vorgestellt. Sie stützt sich auf Daten von kommunizierenden Fahrzeugen, welche im Gegensatz zu den existierenden Arbeiten nicht nur Informationen über die eigene Position beinhalten, sondern auch Informationen über umliegende Fahrzeuge.
Daher wird in dem Artikel unterschieden zwischen:
- Heuristisches Schätzverfahren basierend auf Detektordaten
- Optimierung des Verfahrens durch Car2X-Daten (selbstlernendes Verfahren)
2 Stand der Wissenschaft
Zur Schätzung der maximalen Rückstaulänge wurden einige Verfahren entwickelt, welche sich auf Daten von Induktivschleifen oder auf Daten von kommunizierenden (Car2X) Fahrzeugen stützen. Die Induktivschleifendaten zeigen an, ob die Induktivschleife an diesem Knotenpunkt belegt oder frei ist. Die bisher verwendeten Fahrzeugdaten beschränken sich auf Positionsmeldungen und Zeitstempel der Fahrzeuge in der Zufahrt.
Beispiele für auf Induktivschleifendaten basierende Verfahren sind das Verfahren von Mück 2002, [6] und die Schätzung nach Liu et al. 2009, [7]. Mück stützt sich auf einen von ihm nachgewiesenen Zusammenhang zwischen der Rückstaulänge und der sogenannten Füllzeit, nach dem sich Fahrzeuge im übersättigten Bereich schneller wieder hinter der Haltelinie aufstellen, als im untersättigten Bereich. Die Rückstaulänge wird ermittelt, indem die aktuell gemessene Füllzeit mit einer Referenzdauer verglichen wird. Das Verfahren geht von einer konstanten Ankunftsrate aus, welche in der Realität insbesondere bei koordinierten Lichtsignalanlagen nicht der Fall ist. Liu et al. stützen sich auf das Lighthill-Whitham-Richards-Modell (LWR-Modell). Sie ermitteln die Staulänge aufgrund einer messbaren Änderung im Verkehrszustand nach Abfließen der gestauten Fahrzeuge. Dies geschieht durch Berücksichtigung der Zeitpunkts, zu dem die Induktivschleife in der Freigabephase gerade wieder frei wird und des Zeitpunkts, zu dem das Ende des Staus den Detektor passiert und den entsprechenden Geschwindigkeiten der Stoßwellen. Da diese Zeitpunkte erst nach Abbau des Rückstaus bekannt sind, ist ihr Verfahren nicht für die Schätzung der zukünftigen maximalen Rückstaulänge geeignet.
Ein Verfahren zur Rückstauschätzung, welches sich mit der Verwendung von fahrzeuggenerierten Daten befasst, ist die Methode von Priemer und Friedrich 2008, [8]. Sie schätzen die Rückstaulänge ausgehend von Positionsmeldungen kommunizierender Fahrzeugen in dem Rückstau. Abgeleitet von der Ankunftszeit und der Position des kommunizierenden Fahrzeugs schließen die Autoren auf die zukünftige Ankunftsrate. Diese wird durch Anwendung des Gesetzes nach Little 1961, [9] mit der noch verbleibenden Wartezeit multipliziert, um die maximale Ausdehnung des Rückstaus ab dem kommunizierenden Fahrzeug im Stau abzuschätzen. Dieses Verfahren basiert allein auf Car2X-Daten. Es muss mindestens ein kommunizierendes Fahrzeug im Rückstau stehen. Daher wird eine relativ hohe Ausstattungsrate von Car2X-Fahrzeugen benötigt, um eine Schätzung an jedem Knotenpunkt zu ermöglichen.
Comert und Cetins Verfahren [10] setzt ebenso eine Car2X-Kommunikation voraus. Im Gegensatz zu Priemer und Friedrich gehen sie jedoch einem heuristischen Ansatz nach. Ihr Verfahren schätzt den Rückstau, indem es die Verteilung der Fahrzeuge allgemein und ebenso die Verteilung der kommunizierenden Fahrzeuge im Netzwerk betrachtet. Basierend auf unterschiedlichen Ausstattungsraten von Fahrzeugen mit Car2X-Kommunikation und der Position des letzten kommunizierenden Fahrzeugs im Rückstau wird die Rückstaulänge geschätzt.
3 Lösungsansatz
Zur geeigneten Verwendung von Detektordaten wird mittels statistischer Analyse überprüft, ob ein Zusammenhang zwischen Fahrzeuganzahl und Rückstaulänge besteht. Es wird die Annahme „Je mehr Fahrzeuge über den Knotenpunkt fahren, desto länger ist der Rückstau“ überprüft. Zu diesem Zweck wurden in Ingolstadt Verkehrsbeobachtungen an den in Bild 1 markierten Knotenpunkten D2 (Geradeaus, Richtung Norden), E1b (Rechtsabbieger, Richtung Westen) und E2 (Geradeaus, Richtung Süden) durchgeführt.
Bild 1: Kartenausschnitt von Ingolstadt [Amt für Verkehrsmanagement und Geoinformation, Stadt Ingeolstadt]. Betrachtete Knotenpunkte sind D2, E1b und E2
Im Rahmen dessen wurden Zeitstempel von allen Fahrzeugen aufgezeichnet, die über die Induktivschleife fahren. Außerdem wurde die maximale Länge des Rückstaus protokolliert. Zusätzlich wurde die Zeitdauer ermittelt, die jedes gestaute Fahrzeug benötigt, um nach Umschalten auf Grün abzufahren. Die zeitliche Entwicklung der Rückstaulänge am Knotenpunkt E2 ist in Bild 2 dargestellt.
Durch das sprunghafte Verhalten der Rückstaulänge scheint ein zeitlicher Zusammenhang, wie „zwischen 10 und 11 Uhr stehen immer ungefähr 3 Fahrzeuge im Rückstau“ nicht sinnvoll.
Bild 2: Rückstaulänge in Anzahl Fahrzeugen (Ingolstadt, E2, Richtung Süden, 18.05.2010)
Deshalb wird mittels Produkt-Moment-Korrelation überprüft, ob ein linearer Zusammenhang zwischen der Fahrzeuganzahl und der Rückstaulänge besteht. Dazu werden alle Fahrzeuge, die in einem festgelegten Zeitintervall über den Detektor fahren, ermittelt und mit der maximal beobachteten Rückstaulänge in demselben Umlauf in Korrelation gesetzt. Da ein Umlauf an dem Knotenpunkt etwa 90 Sekunden dauert, werden die Fahrzeuge in 90 Sekunden Intervallen mit 10 Sekunden Versatz (dargestellt in Bild 3) aggregiert und der maximalen Rückstaulänge gegenüber gestellt.
Bild 3: Q 90s Sliding Window mit 10s Versatz (Ingolstadt, E2, Richtung Süden, 18.05.2010)
Jeweils zu Rotzeitende wird die Anzahl der Fahrzeuge, die in den vergangenen 90 Sekunden über die Induktivschleife gefahren ist, mit der maximalen Rückstaulänge des aktuellen Umlaufs in Korrelation gesetzt. Es wird eine signifikante Korrelation zwischen der Fahrzeuganzahl und der Rückstaulänge gefunden, r = .506, p < .01.
Aus dem gefundenen Zusammenhang kann folglich eine Schätzung über den maximalen Rückstau erfolgen. Da für die Geschwindigkeitsempfehlung im Fahrzeug jedoch der aus dem Rückstau resultierende Zeitverzug benötigt wird, wurde an zwei Knotenpunkten zusätzlich die Zeitdauer zum Abfahren von jedem gestauten Fahrzeug ermittelt. Die Studie bezieht sich auf Beobachtungen zwischen 10-12 Uhr und 14-16 Uhr. Aus der jeweils benötigten Zeitdauer zwischen Umschalten der LSA auf Grün und dem Überfahren der Haltelinie wird der durchschnittliche Zeitabstand zwischen allen zuvor abgeflossenen Fahrzeugen ermittelt. Der durchschnittliche Zeitabstand zwischen aufeinander folgenden Fahrzeugen ist in Bild 4 dargstellt.
Bild 4: Durchschnittlicher Zeitabstand zwischen aufeinander folgender Fahrzeugen
Es ist ersichtlich, dass die Fahrtrichtung Einfluss auf den Zeitbedarf hat. Die Zeitabstände zwischen abbiegenden Fahrzeugen sind um ca. 0,3 s höher. Das erste Fahrzeug auf der D2 benötigt nach Umschalten auf Grün knapp 3 s zum Abfließen, das erste abbiegende Fahrzeug an der E1b benötigt jedoch ca. 3.3 s. Die Zeitabstände nehmen an beiden Knotenpunkten exponentiell ab bis zum längsten beobachteten Rückstau von 6, bzw. 8 Fahrzeugen. Dabei erreichen sie jedoch nicht den im Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen 2009, [11] angegebenen Zeitbedarfswert von 1,8 s bei der hier geschalteten Freigabezeit von durchschnittlich 11 s (D2), bzw. 42 s (E1b).
Im Rahmen der Rückstauschätzung noch nicht betrachtet, ist die Verwendung von Sensorinformationen über den Abstand zu umliegenden Fahrzeugen und deren relative Geschwindigkeiten. Diese Daten werden zukünftig in immer mehr Fahrzeugen zur Verfügung stehen, da mit der zunehmenden Nachfrage nach Fahrerassistenzsystemen wie dynamische Abstandskontrolle (ACC) auch die Verbreitung der Fahrzeugsensoren steigt. Der Vorteil von deren Nutzung in der Rückstauschätzung besteht darin, ein präzises Wissen über einen Bereich in der Zufahrt der LSA zu erhalten. Der Bereich beinhaltet zusätzlich zu der aktuellen Position des kommunizierenden Fahrzeugs und seiner Fahrzeuglänge, welche in anderen Verfahren berücksichtigt wurden, die Distanzen zu den Fahrzeugen davor und dahinter plus deren geschätzte Länge. Er ist daher dreimal so groß ist wie in den bisher entwickelten Verfahren zur Rückstauschätzung.
Mit den skizzierten Daten aus Fahrzeugsensoren kann eine Rückstauschätzung allein aufgrund von Car2X-Daten gemacht werden. Da jedoch aktuell in der Realität kaum Car2X- Fahrzeuge vorhanden sind und selbst bei gegebener technischer Vorraussetzung der Car2X-Kommunikation nur selten Car2X-Daten zu erwarten sind, werden diese hier primär dazu genutzt, die Rüchstaulängenschätzung aus Detektordaten exemplarischer anhand einzelner Car2X-Fahrzeuge zu kalibrieren.
4 Umsetzung
Aus dem ermittelten Zusammenhang von Fahrzeuganzahl und Rückstaulänge wird ein System aufgebaut, welches in Bild 4 dargestellt ist. Initial wird es mit einer empirisch ermittelten Zuordnung von Anzahl Fahrzeugen zu Rückstaulänge belegt, wie in dem Diagramm in Bild 5 dargestellt. Die Zuordnung kann durch Verwendung von Informationen über kommunizierende Fahrzeuge im laufenden Betrieb dynamisch angepasst werden. In dem Fall kalibriert das System diesen Zusammenhang selbst, indem es kontinuierlich die Anzahl der Fahrzeuge aus der Detektorbelegung und zusätzlich im Nachhinein den Rückstau ermittelt (siehe Tabelle und Komponenten unten im Bild 5).
Bild 5: Systemübersicht der Rückstaulängenschätzung
Zur Ermittlung der Rückstaulänge (RSL) im Nachhinein kann das Verfahren von Liu et al. 2009, [7] verwendet werden. Die Autoren stützen ihre Schätzung auf eine messbare Änderung im Verkehrszustand nach Abfließen der gestauten Fahrzeuge. Bei Beginn der Freigabezeit fließen die Fahrzeuge am Detektor mit der Sättigungsverkehrsstärke ab. Ab dem Moment, wo alle gestauten Fahrzeuge abgeflossen sind, ist die Abflussrate am Detektor deutlich geringer als die Sättigungsverkehrsstärke. Diesen Moment ermitteln Liu et al. durch Vergleich der detektierten Zeitlücken. Ist die Zeitlücke kleiner als 2,5 s hat das Ende des Rückstaus den Detektor bereits passiert und die Rückstaulänge kann bestimmt werden. Nachteil dieses Vorgehens ist, dass es nur bei einem messbaren Unterschied in den Zeitlücken zwischen gestauten und ungehinderten Fahrzeuge funktioniert. Im Fall schlecht funktionierender Detektoren, bei übersättigtem Verkehr, und im Fall gut koordinierter Lichtsignalanlagen, wo Fahrzeugpulks bei Beginn der Freigabezeit eintreffen, ist der Zeitpunkt jedoch nicht mittels Detektoren feststellbar. Letzt genannter Fall ist in Bild 6 dargestellt. Während die gestauten Fahrzeuge abfließen, trifft der nächste Fahrzeugpulk ein. Der durchschnittliche Zeitabstand zwischen den Fahrzeugen ändert sich nicht.
Bild 6: Eintreffen von nächstem Fahrzeugpulk ohne Änderung in den Zeitlücken
In Ingolstadt zeigt sich genau dieses Verhalten. Daher ist hier geplant, alternativ Informationen von kommunizierenden Fahrzeugen zur nachträglichen Ermittlung der Staulänge zu verwenden. Wenn ein Car2X-Fahrzeug meldet, dass es mit einer Distanz d zur Haltelinie im Stau steht und vor und hinter ihm stehen auch Fahrzeuge, wird der aktuelle Rückstau geschätzt: LR = d / LF + 2 * LF wobei LF die Fahrzeuglänge kennzeichnet.
Die maximal zu erwartende Rückstaulänge kann dann nach dem Verfahren von Priemer und Friedrich 2008, [8] geschätzt werden.
Die maximale Rückstaulänge wird mit der zuvor ermittelten Fahrzeuganzahl in eine Tabelle geschrieben. Es wird je Signalprogramm eine Tabelle im System gehalten. Existiert eine ausreichend große Menge an Stichproben, wird die Zuordnung von Rückstaulänge zu Fahrzeuganzahl durch den Mittelwert der Fahrzeuganzahl aus den Stichproben aktualisiert.
Die Implementierung erfolgt auf einem zentralen Server der Stadt Ingolstadt, in dem die Daten der betrachteten Knotenpunkte zusammen laufen. Aktuell ist die Version basierend auf Detektordaten mit statischer Zuordnung implementiert. Die Detektordaten, Signalbilder und Signalprogramme laufen sekündlich ein. Der Detektorstatus wird in einem Vektor gehalten, der jeweils die Daten des vergangenen Umlaufs von 90s umfasst. Ältere Daten werden verworfen. Die maximale Rückstaulänge wird nach dem oben beschriebenen Verfahren geschätzt. Da die im Fahrzeug integrierte Geschwindigkeitsempfehlung nicht die Rückstaulänge, sondern den daraus resultierenden Zeitverzug benötigt, wird die Rückstaulänge mit dem im Lösungsansatz beschriebenen Zeitbedarfswert multipliziert. Der zu erwartende Zeitverzug aus dem Rückstau wird sekündlich über WLAN und UMTS ausgesendet. Ein sich näherndes Fahrzeug mit integrierter Geschwindigkeitsempfehlung empfängt diesen Wert und addiert ihn zu dem prognostizierten Umschaltzeitpunkt von Rot auf Grün, um eine korrekte Geschwindigkeitsempfehlung zu geben. Bei korrekter Schätzung kann das Fahrzeug den Knotenpunkt ohne Anhalten passieren (siehe Bild 7).
Bild 7: Informiertes Fahrzeug (iCar) erhält korrekte Geschwindigkeitsempfehlung
5 Evaluierung
Aktuell ist das Schätzverfahrens basierend auf Detektordaten implementiert. Dieses wurde im Feld evaluiert. Die Feldbeobachtungen konzentrierten sich auf den in Bild 8 skizzierten Knotenpunkt. Betrachtet wurden Fahrstreifen 1 (passiver Infrarot Überkopfsensor mit Erfassungsbereich von ca. 25-30 m zur Haltelinie) und Fahrstreifen 5 (Induktivschleife im Abstand von ca. 10 m zur Haltelinie) in einem Zeitraum von 25 Minuten. Die geschätzten Werte von Fahrstreifen 1 mit Überkopfsensor weisen einen unerwarteten Verlauf für das beobachtete Verkehrsaufkommen auf. Beim Überprüfen der Sensordaten stellte sich heraus, dass nicht alle Fahrzeuge erfasst wurden. Dies kann auf die Witterung an dem Beobachtungstag (Schneefall) oder auf die Ausrichtung des Infrarotsensors zurückzuführen sein.
Die Induktivschleifendaten des Fahrstreifens 5 stimmen dagegen relativ gut mit der beobachteten Anzahl der Fahrzeuge überein, weswegen nur Ergebnisse des Fahrstreifens 5 vorgestellt werden.
Bild 8: Dreiarmiger Knotenpunkt mit Zwei-Phasenprogramm
Die Rückstaulänge an dem Fahrstreifen 5 wurde in 4 von 16 Umläufen richtig geschätzt, in 10 Umläufen um durchschnittlich 2 Fahrzeuge überschätzt und in zwei Fällen um 1 und 8 Fahrzeuge überschätzt. Die Gegenüberstellung der geschätzten und beobachteten Rückstaulängen an diesem Fahrstreifen ist in Bild 9 dargestellt. Der Vergleich zeigt, dass die Rückstaulänge tendenziell überschätzt wird. Die Zuordnung Fahrzeuganzahl zu Rückstaulänge müsste daher durch Verkehrsbeobachtungen an diesem Knotenpunkt oder durch die oben beschrieben online Kalibrierung durch Verwendung von Fahrzeugdaten angepasst werden.
Bild 9: Gegenüberstellung der geschätzten und beobachteten Rückstaulängen
Gegen 15:20 Uhr wurde ein langer Rückstau beobachtetet, der daraus resultierte, dass ein links abbiegendes Fahrzeug vom Gegenstrom gehindert wurde und ein Teil der gestauten Fahrzeuge erst nach Umschalten auf Rot abfließen konnte. Das Fahrzeugaufkommen war bereits in den beiden vorherigen Umläufen relativ hoch, weshalb der Rückstau vorher deutlich überschätzt wurde. In dem Umlauf, in dem sich der lange Rückstau gebildet hat, wurden lediglich Fahrzeuge aus dem vorherigen Rückstau detektiert. Denn durch den spät abfließenden Rückstau konnten keine neu ankommenden Fahrzeuge detektiert werden. Dadurch hat sich die Anzahl der Fahrzeuge in dem 90 Sekunden Intervall stark reduziert (3 Fahrzeuge) und der Algorithmus gibt eine geringe Rückstaulänge aus. Daraus zeigt sich, dass der Algorithmus in seiner einfachen Version für übersättigten Verkehr nicht geeignet ist. Den übersättigten Fall ließe sich jedoch berücksichtigen, indem die Zeit der Dauerbelegung während der Freigabezeit überprüft wird. Übersteigt sie einen Schwellwert, kann davon ausgegangen werden, dass gestaute Fahrzeuge nicht abfließen können. Der Rückstau entspricht dann der geschätzten Rückstaulänge aus dem vorherigen Umlauf abzüglich der detektierten abgeflossenen Fahrzeuge und zuzüglich der neu ankommenden. Die Anzahl der neu ankommenden kann aus der vorherigen Zuflussrate bestimmt werden.
6 Zusammenfassung und Ausblick
In dem Artikel ist ein selbst lernendes Verfahren beschrieben, welches sich auf einen empirisch belegten Zusammenhang zwischen Fahrzeuganzahl in einem definierten Zeitintervall und der Rückstaulänge stützt. Das Verfahren ist selbstlernend, da es die Zuordnung der Intervallgrenzen „Fahrzeuganzahl zu Rückstaulänge“ im laufenden Betrieb durch selbst ermittelte Staulängen dynamisch anpassen kann. Dazu werden Sensordaten aus kommunizierenden Fahrzeugen genutzt, mittels derer eine genauere Rückstaulängenschätzung erfolgt. Die Schätzung mittels Sensordaten aus Car2X-Fahrzeugen fließt zur Optimierung in den Algorithmus zur Rückstaulängenschätzung basierend auf Detektordaten ein. Die Anbindung der Fahrzeugdaten ist aktuell in Bearbeitung.
Da die Sensoren zur Messung der für den Algorithmus notwendigen Eingangsdaten unterschiedliche Qualität aufweisen und damit nicht immer verlässlich sind, ist geplant, weitere Untersuchungen der Eingangsdaten aus Induktivschleifen, Überkopfsensoren und Fahrzeugdaten durchzuführen. Abhängig von der Qualität sollen verschiedene Varianten der Schätzung entwickelt werden.
Das hier entwickelte Verfahren zur Rückstaulängenschätzung wird zur verbesserten Geschwindigkeitsempfehlung in den Ampelphasenassistenten aus TRAVOLUTION integriert.
7 Literatur
[1] Zimdahl, W. (1983). Wolfsburger Welle – Ein Projekt der Volkswagen Forschung. Forschungsbericht, Wolfsburg, 1983.
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[3] Otto, T. und Hoyer, R (2009). Geocoding Approach to V2I Communication assisted Traffic Lights using Nomadic Devices. Proceedings of the 16th ITS World Congress. Stockholm, Schweden, September 21-25, 2009.
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[7] Liu, X., Wu, X., Ma, W., and Hu, H. (2009). Real time queue length estimation for congested signalized intersections. Transportation Research, Part C, 17(4), S. 412-427.
[8] Priemer C. und Friedrich B. (2008). Optimierung von modellierten Warteprozessen im Rahmen adaptiver Netzsteuerungen durch C2I - Daten. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Hrsg.) In HEUREKA '08, Optimierung in Verkehr und Transport - Tagungsband, FGSV Verlag, Köln, 2008.
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[10] Comert, G. und Cetin, M. (2009). Queue length estimation from probe vehicle location and the impacts of sample size. European Journal of Operational Research, 197(1), S. 196- 202, August 2009.
[11] FGSV (2009). Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS 2001, Fassung 2009), Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Hrsg.), Köln. |