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1 Definition und Erfassung von Zuverlässigkeit
Eher umgangssprachlich wird eine Fahrt von A nach B als unzuverlässig bewertet, wenn der Reisende dabei in einen Stau gerät bzw. sein Zug oder Flieger verspätet ist. Betrachtet man jedoch einen Berufspendler, der jeden Morgen in „demselben“ Stau steht, so ist dieser Stau sehr zuverlässig. Zuverlässigkeit definiert sich also in erster Näherung als Abweichung von einem erwarteten Mittelwert der Reise- oder Transportzeit bzw. einem Abweichen von der erwarteten Ankunftszeit, wobei neben den Verspätungen auch Verfrühungen zu betrachten sind. Abweichungen von der erwarteten Reisezeit lassen sich mathematisch durch die Verteilungen von Reisezeiten bzw. Ankunftszeiten beschreiben. Im Fall des „sicheren Staus“ ergibt sich also ein größerer Erwartungswert für die Reisezeit, wobei die Streuung um diesen Erwartungswert sehr gering sein kann. Das Bild 1 macht diese Zusammenhänge schematisch deutlich: die Verteilung auf der rechten Seite zeigt eine starke Häufung der Reisezeiten auf einem engen Wertebereich. Sie repräsentiert somit eine zuverlässigere Route.
Als Maße bezeichnet man mathematische Funktionen, die geeigneten Teilmengen einer Grundmenge Zahlen zuordnet, die als Maß bzw. Beschreibung für die Größe dieser Mengen interpretiert werden können. Als Grundmenge kann hier – bezogen auf eine Relation von A nach B – die Menge aller innerhalb einer Zeiteinheit (Tag, Woche, Jahr etc.) durchgeführten Fahrten mit den von ihnen benötigten Reise- oder Transportzeiten angenommen werden. Durch die Einführung eines Quantils, das z. B. die 20 % aller Fahrten mit den höchsten Reisebzw. Transportzeiten umfasst, kann diese Teilmenge als unzuverlässig klassifiziert werden. Bei einer Auswertung über alle Relationen eines Teilnetzes kann die auf eine einheitliche Länge normierte Standardabweichung der Reisezeiten verwendet werden. Hierbei wird dann wiederum ein Quantil festgesetzt, das die unzuverlässigen Streckenabschnitte umfasst.
Bild 1: Schematische Reisezeitverteilungen Schon in den achtziger Jahren wurden ökonometrische Modelle zur Erfassung und Bewertung der Variabilität von Reisezeiten geschätzt. Dabei wurden sogenannte Mittelwert-VarianzModelle (mean-variance-models) aufgestellt, die die Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit einer Reise in Abhängigkeit vom Erwartungswert der Reisezeit und deren Varianz ermitteln. Später wurden diese Modelle um einen Kostenterm erweitert und der Erwartungswert der Nützlichkeit einer Reise durch diese Größen bestimmt. Durch die Einführung eines Kostenterms können monetäre Austauschrelationen für die Standardabweichung und den Mittelwert der Reisezeit bestimmt werden. Somit kann dann auch der Trade off zwischen einer Einheit sicher verbrauchter Reisezeit inkl. Pufferzeit und einer Einheit mit Unsicherheiten behafteter Reisezeit erfasst werden (Li, Hensher et al. 2009):
Formel siehe PDF. Mittlerweile werden in der Literatur im Wesentlichen drei Ansätze für die Erfassung und Bewertung von Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit benannt (de Jong et al. 2012): die Standardabweichung der Reisezeitverteilung, die Abweichung von vereinbarten Ankunftszeiten in fahrplangebundenen Systemen (schedule delay) in Häufigkeit (Prozentsatz der Ankünfte) und Ausmaß (Verspätung in z. B. Minuten) sowie (antizipierte) Pufferzeiten, um Verspätungen zu vermeiden. Diese Ansätze werden auch im Rahmen der Weiterentwicklung der Methodik zur BVWP und der dort vorgesehenen Berücksichtigung der Zuverlässigkeit betrachtet (vgl. Abschnitt 2).
Unzuverlässigkeiten im Verkehrssystem wirken sich in der ersten Stufe auf die Transportgefäße aus, also auf Kfz, Züge etc. In der zweiten Stufe sind die Personen oder Güter betroffen, die mit den Transportgefäßen befördert werden. Häufig, und so auch bei der Methodik zur neuen Bundesverkehrswegeplanung, werden ausschließlich die Effekte auf der zweiten Stufe bewertet, also die Betroffenheiten von Personen und Gütern durch die Unzuverlässigkeiten eines oder mehrerer Verkehrsträger. Das heißt eine von der Bahn mit großen zeitlichen Schwankungen bediente Relation leistet keinen relevanten Beitrag zu einem Indikator „Unzuverlässigkeit“, wenn die Züge dieser Relation ausschließlich niedrige Auslastungsgrade aufweisen. Im Rahmen der Bundesverkehrswegeplanung als erste Stufe der Verkehrsinfrastrukturplanung des Bundes dürfen nur Veränderungen der Zuverlässigkeit des Verkehrsablaufs in die Bewertung mit aufgenommen werden, die durch die zu untersuchenden infrastrukturellen Maßnahmen hervorgerufen werden. Das Bild 2 zeigt hingegen die Vielfalt der Einflussfaktoren, die auf die Zuverlässigkeit einwirken. Die über einen Zeitraum messbaren Reisezeiten auf einer Relation, die in einer Verteilung derselben zusammengefasst werden können und die Zuverlässigkeit repräsentieren, resultieren zunächst aus den Variabilitäten auf der Angebots- und der Nachfrageseite. Als Angebotsseite wird die zu Verfügung stehende Infrastruktur bezeichnet, deren durch die Straßengeometrie gegebene Kapazität bzw. Leistungsfähigkeit durch Unfälle, Baustellen, Maßnahmen des Verkehrsmanagements, aber auch durch Wetterverhältnisse temporär schwanken kann. Die Schwankungen der Nachfrage ergeben sich durch die mit den Tagesabschnitten variierenden Fahrtwünsche und Fahrtzwecke der Bevölkerung, deren Akzeptanz von möglichen Alternativrouten und Verkehrsinformationen sowie durch saisonale Effekte. Es stellt eine Herausforderung an die gesuchten Modellansätze dar, die infrastrukturellen Effekte auf die Zuverlässigkeit bei der Bewertung solcher Maßnahmen zu isolieren. Bild 2: Einflussgrößen auf die Zuverlässigkeit im Straßenverkehr (Quelle Li; Hensher et al. 2009) Bei schienengebundenen Verkehren sind die Einflussgrößen auf die Zuverlässigkeit ähnlich vielfältig. Hinzu kommen hier jedoch noch die Effekte eines Betriebs in einem Netz. Kann z. B. die Abfahrt wegen Problemen mit dem Rollmaterial oder zur Wahrung von Anschlüssen nicht wie geplant stattfinden, so kann sich auch die geplante Dauer der Reisezeit in Abhängigkeit von der realen Startzeit verändern. Häufig führen dann belegte Trassen zu zusätzlichen Wartezeiten und auch insgesamt längeren Reisezeiten (Bild 3). Bild 3: Weitere Komponenten der Zuverlässigkeit im schienengebundenen Verkehr
Exkurs
Zur Definition der Zuverlässigkeit gehört ihre Abgrenzung gegenüber dem Begriff der „Robustheit“. Der Begriff der Robustheit oder „Resilience“ wird sehr häufig im Bereich der Zivilen Sicherheit von Verkehrsinfrastrukturen angewendet. Im angelsächsischen Sprachraum wird im Gegensatz zum universellen deutschen Wort „Sicherheit“ zwischen „safety“ und „security“ unterschieden. Im Kontext von „safety“ werden alle Ereignisse betrachtet, die sich aus dem Verkehrssystem selbst ergeben. Diese sind häufig Unfälle aufgrund hoher Verkehrsdichte, unangemessenem Fahrverhalten oder schwieriger Sichtverhältnisse im Straßenraum. Zu „security“ zählen alle Einwirkungen von außen auf das Verkehrssystem, also Extremwetter, terroristische Anschläge etc. Folgt man der Abgrenzung, dass Robustheit die Widerstandsfähigkeit gegen Extremereignisse ist, wobei diese sehr selten aber mit großen Auswirkungen auftreten, dann führen diese Ereignisse bei der Verteilung der Reise- bzw. Transportzeiten auf den äußeren rechten Rand der oben dargestellten Verteilung (Bild 1). Mit diesem Ansatz ist Robustheit in das vorgestellte Konzept der (Un-)Zuverlässigkeit integrierbar. Für den Bundesverkehrswegeplan, in dessen Rahmen Änderungen der Zuverlässigkeit in Folge von Angebotsänderungen betrachtet und bewertet werden, ist dieser Aspekt jedoch kaum von Bedeutung.
2 Berücksichtigung der Zuverlässigkeit im Bewertungsverfahren der Bundesverkehrswegeplanung
In diesem Abschnitt stehen die Ergebnisse von Forschungsarbeiten im Fokus der Betrachtung, die im Rahmen der Überarbeitung der Methodik für den Bundesverkehrswegeplan 2015 erzielt wurden. Hierbei wird auf die unterschiedlichen Ansätze für den Personen- und Güterverkehr sowie für die verschiedenen Verkehrsträger eingegangen. Entsprechend den vorangestellten Erläuterungen werden im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans nur Verbesserungen der Zuverlässigkeit berücksichtigt, die auf infrastrukturelle Maßnahmen zurückgeführt werden können.
2.1 Indikatoren für den Verkehrsträger Straße
Im Folgenden wird zunächst der Untersuchungsansatz für den Verkehrsträger Straße dargestellt, da hier bereits sehr weitgehende Ergebnisse vorliegen. Das Untersuchungsdesign wurde wie folgt festgelegt:
- Funktionale Ermittlung der Standardabweichung der Reise- bzw. Verlustzeit als Kenngröße der Zuverlässigkeit.
- Berücksichtigung ausschließlich der überlastungsbedingten Variabilität der Reisezeit. Dies entspricht der Logik, dass im Rahmen des BVWP nur infrastrukturelle Veränderungen der Zuverlässigkeit bewertet werden können. Darüber hinaus können im hochausgelasteten Bereich dieselben Geschwindigkeiten für Pkw und Lkw verwendet werden.
- Der funktionale Zusammenhang zwischen Auslastungsgrad und Standardabweichung wird bezogen auf einzelne Streckenabschnitte auf Basis von Simulationen geschätzt, wobei eine Korrelationsanalyse die gegenseitige Unabhängigkeit der Störungen auf benachbarten Streckenabschnitten nachweisen muss.
Auf Basis der Simulationen für reale Engpassbereiche auf Bundesautobahnen wurde der untenstehende Modellzusammenhang ermittelt, für den noch eine Gewichtung mit einer Bezugslänge eingeführt wurde, bei der angenommen werden kann, dass Ereignisse auf benachbarten Streckenabschnitten nicht korreliert sind (Geistefeldt, Hohmann 2014).
Das Modell ist auf jede einzelne Strecke in Abhängigkeit vom (maximalen) Auslastungsgrad der Strecke (gegebenenfalls unter Zusammenfassung aufeinander folgender Teilstrecken desselben Engpasses) anzuwenden:
Formel sieh PDF.
Aus den Standardabweichungen der n einzelnen Strecken innerhalb einer Route ist anschließend die Standardabweichung der Reisezeit für die Gesamtroute nach folgender Gleichung zu ermitteln: Formel siehe PDF. Eine empirische Überprüfung der Zusammenhänge ist nicht unmittelbar möglich, da im Rahmen der Simulationen für die Schätzung der Funktion die Einflüsse der Infrastruktur isoliert werden konnten, während in der Realität Wetter, Unfälle etc. zusätzlichen Einfluss auf die Unzuverlässigkeit und damit die Standardabweichung haben.
Im Bild 4 wird für einen ausgewählten Streckenabschnitt die Abhängigkeit der Standardabweichung der Reisezeit vom Auslastungsgrad und von der Bezugslänge L dargestellt. Hierbei steigt die Standardabweichung bei zunehmender Bezugslänge. Die Bezugslänge beschreibt die notwendige Länge von Streckenabschnitten (in der Regel Autobahnabschnittes) in einem Teilnetz, damit Störereignisse auf jedem von ihnen auch komplett wieder ihre Auflösung erfahren. Es ist plausibel, dass die Bezugslänge mit der Nachfrage im Teilnetz und damit der Auslastung der einzelnen Streckenabschnitte ansteigt. Die Standardabweichung der Reisezeit wächst gemäß regrediertem Zusammenhang ebenfalls mit zunehmender Auslastung der Streckenabschnitte. Die gleiche Wirkrichtung von Bezugslänge und Standardabweichung in Abhängigkeit von der Auslastung erscheint insgesamt konsistent. Bild 4: Standardabweichung der Reisezeit in Abhängigkeit von der Bezugslänge L Zuverlässigkeit wird immer für eine Relation, also eine Fahrt von A nach B, ermittelt. Sie stellt damit große Herausforderungen an Modellierung und Bewertung insbesondere im Sektor Straße dar, die sich traditionell an kantenbezogenen Verfahren orientieren. Insbesondere sehen Verkehrsmodelle in der Regel nicht vor, Routenbäume für alle Wege einer Relation vorzuhalten.
2.2 Indikatoren für die anderen Verkehrsträger
Für den Verkehrsträger Schiene wurde ein dem Straßenverkehr analoges Untersuchungsdesign verwendet, um auch zu Standardabweichungen der Reise- bzw. Transportzeiten als Indikator für die Zuverlässigkeit zu gelangen. Dabei sollten Funktionen für die Reisezeitverteilungen in Abhängigkeit verschiedener Einflussgrößen geschätzt werden (IGES, RMCon, 2014). Es wurden folgende Aspekte berücksichtigt bzw. Analysen durchgeführt:
- Analyse von realen Verspätungen, die im Leitsystem Disposition (LeiDis) der Deutschen Bahn AG, zum Teil sogar mit Verspätungsursache, abgespeichert sind.
- Reproduktion der Verspätungen in einem von der Ausrichtung her mikroskopischen betrieblichen Simulationsmodell für den Schienenverkehr.
- Berücksichtigung von Störungen bzw. Verspätungen auf Streckenabschnitten und in Knoten.
- Variation betrieblicher und infrastruktureller Parameter des Simulationsmodells, um die isolierten Auswirkungen auf die Reise- bzw. Transportzeiten zu ermitteln.
- Schätzung von Funktionen zur Beschreibung der Reisezeitverteilungen je Zeitscheibe und Zuggattung für einzelne Netzabschnitte und Ableitung von Kennwerten der Verteilungen (Mittelwert und Standardabweichung).
- Überprüfung der Korrelation von Störfällen bei benachbarten Netzabschnitten.
Diese Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Als schwierig hat sich erwiesen, dass die Simulationen bezüglich der relevanten Einflussgrößen Sprungstellen ergeben haben, ab denen sich die Zuverlässigkeit signifikant ändert. Eine Absicherung gegenüber der Korellation der Reisezeitverteilungen benachbarter Streckenabschnitte ist aufgrund der Netzwirkungen nicht einfach möglich. Darüber hinaus werden in der Bundesverkehrswegeplanung makroskopischen Modelle im Bahnbereich eingesetzt, bei denen keine Informationen über Einbruchsverspätungen vorliegen, die aber die entscheidende Ausgangsgröße für Folgeverspätungen sind (IGES, RMCon 2014).
Im Bereich der Binnenschifffahrt wird ausschließlich der Güterverkehr betrachtet. Einfluss auf die generellen Transportmöglichkeiten und die Transportzeiten haben die Wasserstände und damit die Abladetiefen sowie Wartezeiten an Schleusen. Aufgrund der im Bereich der Gütertransporte relativ großen Zeitfenster der Anlieferung und der gut kalkulierbaren Wartezeiten an Schleusen können Ausbauten von Schleusen aus der Betrachtung für Verbesserungen der Zuverlässigkeit ausgenommen werden.
Das Risiko durch die in den letzten Jahren vermehrt auftretenden stark schwankenden Wasserstände kann durch eher „punktuelle“ Vertiefungen des Flussbettes, die zudem hohe ökologische Risiken mit sich bringen, nicht wesentlich gemindert werden. In der Praxis werden deswegen diese Unzuverlässigkeiten des Transports mit dem Binnenschiff eingepreist, das heißt bei den Transportpreisen berücksichtigt (Versicherungen für den Transportausfall etc.). Insofern kann bei der Bewertung der Zuverlässigkeit im Bereich Gütertransport mit dem Binnenschiff von einem eigenen Indikator abgesehen werden, das heißt Veränderungen der Zuverlässigkeit werden in den relationenbezogenen Transportkosten gespiegelt. Bei der Betrachtung intermodaler Transporte im Güterverkehr unter Einschluss des Binnenschiffs können somit die Transportzeiten des Binnenschiffs als zuverlässig gesetzt werden und die Umschlagspunkte auf Bahn oder Lkw zusätzliche Pufferzeiten bieten.
2.3 Differenzierung nach Verkehrsträgern und Verkehrsarten
Im vorangegangenen Abschnitt wurde gezeigt, mit welchen Methoden und Ergebnissen der Ansatz der Standardabweichung als Maß bzw. Indikator für die Zuverlässigkeit für die Verkehrsträger Straße und Schiene umgesetzt wurde. Dabei gibt es in der Realität deutliche Unterschiede zwischen Straße und Schiene jenseits des schienengebundenen und des individuellen Fahrens. Während im Güterverkehr beim Verkehrsträger Schiene für die Ankunftszeiten von einer Normalverteilung ausgegangen werden kann, die annähernd gleichermaßen Verfrühungen und Verspätungen repräsentiert, so sind beim Verkehrsträger Straße insgesamt und beim Schienenpersonenverkehr deutlich mehr Verspätungen als zu frühe Ankünfte festzustellen, weshalb hier eine Betaverteilung die Realität besser wiederspiegelt (Bild 5). Im Bereich der Schiene werden zudem Verfrühungen auf einzelnen Streckenabschnitten beim jeweils nächsten Halt wieder ausgeglichen. Bild 5: Realitätsnahe Verteilungen der Reisezeiten für die Verkehrsträger Schiene (Normalverteilung) und Straße (Betaverteilung), jeweils die Dichtefunktionen Wählt man nun eine Differenzierung der Betrachtung der Zuverlässigkeit nach den Verkehrsarten Personenverkehr und Güterverkehr, kann man sehr unterschiedliche Anforderungen feststellen und daraus auch andere Maße für die Erfassung der Zuverlässigkeit ableiten. Während im Personenverkehr die Reisezeit die entscheidende Größe ist und unmittelbar die Ankunftszeit bestimmt, ist im Güterverkehr – mit Ausnahme der Transportzeit als Indikation für die Kapitalbindung der Güter während des Transports – die rechtzeitige Ankunft an der Rampe des Zielunternehmens entscheidend. Dabei ist letztlich nicht relevant, ob der eigentliche Transport schnell oder langsam vor sich geht. Der Begriff „just in time“ ist daher immer ankunftsbezogen zu interpretieren. Extreme Beispiele gibt es in der Chemieindustrie, wenn beim Transport mit der Bahn diese über mehrere Tage als rollendes Lager benutzt wird, um teure Zwischenlagerungen beim Produzenten/Versender oder beim Empfänger zu vermeiden.
Für den Güterverkehr haben sich daher die Größen „Anzahl der verspäteten Ankünfte“ in Prozent und mittlere Verspätung der verspäteten Ankünfte in Stunden als Indikatoren ergeben. Kongruent dazu erfolgt auch die Ermittlung der Wertansätze für die Zuverlässigkeit im Rahmen der Bundesverkehrswegeplanung getrennt nach den Personen- und Güterverkehr (Abschnitt 2.4). In einem Nachtrag zu (BVU, TNS 2014) wurde von den Autoren untersucht, ob die beiden genannten Maße für die Zuverlässigkeit im Güterverkehr als Momente aus entsprechenden Verteilungen abgeleitet werden können und damit der Zusammenhang mit dem Indikator Standardabweichung für die Zuverlässigkeit wieder hergestellt werden kann. Stand der Untersuchung ist, dass diese Zusammenhänge nur für die Normalverteilung hergeleitet werden können, die aber, wie eingangs erwähnt, im Wesentlichen den Schienenverkehr repräsentiert. Für den Straßengüterverkehr stehen somit potenziell zwei verschiedene Ansätze zur Verfügung (Abschnitt 2.1).
Die Praxis des Güterverkehrs zeigt noch ein ganz anderes Vorgehen: es werden Pufferzeiten bei der Planung der Route integriert, die eine Pünktlichkeit der Ankunft am Zielort mit mehr als 95 % auf Basis von Erfahrungswerten garantiert. Mit diesem Vorgehen werden nicht sicher benötigte Mehrreisezeiten in sichere Verlustzeiten überführt. Das Bild 6 zeigt, dass nur noch ein sehr kleines Quantil der Verteilung die dann noch verbleibenden Verspätungen repräsentiert. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass im Güterverkehr auch viele Relationen mit intermodalen Transporten bedient werden. Hier können die Umschlagspunkte je nach eingeplanter Aufenthaltsdauer zusätzliche Zeitpuffer darstellen. Für intermodale Transporte besteht Forschungsbedarf, ob und in wie weit eine Erfassung der Zuverlässigkeit über die Pünktlichkeit bezogen auf die gesamte Relation einerseits und die monomodale Erfassung der Zuverlässigkeit auf den Teilrelationen zuzüglich der Berücksichtigung von Puffern und Zeitrisiken in den Umschlagpunkten andererseits in monetärer Bewertung zu ähnlichen Größenordnungen führt. Bild 6: Überführung der Unzuverlässigkeit in Zeitpuffer im Straßengüterverkehr
2.4 Bewertungsansätze
Im Rahmen der neuen BVWP-Methodik wurden zwei Projekte zur Ermittlung von Wertansätzen für Reise- bzw. Transportzeiten und Zuverlässigkeit initiiert. Das eine Projekt beschäftigt sich mit dem Personenverkehr (TNS; ETH 2014), das andere mit dem Güterverkehr (BVU; TNS 2014). In beiden Projekten wurden Revealed und Stated Preferences-Befragungen durchgeführt. Im Personenverkehr wurden ca. 3.200 Personen und im Güterverkehr ca. 450 Unternehmen befragt. Es zeigte sich, dass eine Standardabweichung der Reisezeit und deren Bewertung bei den Probanden nur schwer zu erfragen war. Im Personenverkehr wurde mit Toleranzen gegenüber verspäteten Ankünften in Verspätungsintervallen gearbeitet. Das Bild 7 zeigt das Erhebungsdesign im Personenverkehr. Im Güterverkehr wurde das Interviewdesign so aufgebaut, dass die Pünktlichkeit bzw. Unpünktlichkeit von Transporten im Mittelpunkt stand (Prozentsatz der verspäteten Ankünfte und mittlere Verspätung der verspäteten Transporte).
Sowohl für den Personen- wie für den Güterverkehr erfolgte die Bestimmung der Zeitwerte und der Werte für die Zuverlässigkeit auf Basis der Schätzung eines Modalwahl-Modells. Die dabei gewonnen Nutzenfunktionen erlauben Austauschrelationen zwischen den verschiedenen Attributen/Eigenschaften der Alternativen und somit auch zwischen z. B. Zuverlässigkeit und Reise- bzw. Transportkosten. Für den Personenverkehr wurde letztlich ein nicht-lineares Modell präferiert, dass für die wichtigsten Attribute eine verschoben logarithmische Repräsentierung hat. Damit wurden die im Bild 8 dargestellten Werte für verschiedene Fahrtzwecke bestimmt.
Bild 7: Zuverlässigkeit Personenverkehr: Design der Erhebung Für den MIV wurde der Wertansatz, wie durch die Untersuchung von Geistefeldt und Hohmann (2014) vorgegeben, für die Standardabweichung als Indikator der Zuverlässigkeit ermittelt. Der Wertansatz stellt die Zahlungsbereitschaft des Reisenden dar, die Variabilität seiner Reisezeit zu reduzieren. Für den öffentlichen Verkehr und den Flugverkehr, also fahrplangebundene Systeme, wurde die durchschnittliche, mittlere ungeplante Verspätung als Indikator der Zuverlässigkeit unterstellt und der Wertansatz hierfür ermittelt. Durchschnittlich bedeutet, dass die Werte über alle Probanden ermittelt wurden, mittlerer Wert, dass die berücksichtigten Verspätungsdauern mit ihren Eintrittswahrscheinlichkeiten multipliziert wurden. Insgesamt liegen die Wertansätze eher unter denen für die Reisezeiten, das heißt die Reduktion der Unsicherheit bezüglich der Reisezeit wird niedriger eingeschätzt als die „sichere“ Reduktion des Erwartungswertes der Reisezeit (z. B. durch Infrastrukturausbau). Bild 8: Zahlungsbereitschaft für Zuverlässigkeit für das nichtlineare Modell in €/h (gewichtetes Mittel über alle Entfernungen, vorläufige Ergebnisse 11/2014)
Auch im Güterverkehr wird der Wertansatz für die Indikatoren der Zuverlässigkeit aus den Nutzenfunktionen des Modalwahl- bzw. Verhaltensmodells gewonnen. Die benötigten Größen, hier Anteil der verspäteten Transporte in Prozent und mittlere Verspätung der verspäteten Transporte, können in Relation zu den Transportkosten gesetzt werden. Mathematisch berechnet sich der monetäre Wert der genannten Größen als Absolutbetrag des Quotienten der partiellen Ableitung der Nutzenfunktion nach der Zuverlässigkeitsgröße und dem Transportpreis (BVU, TNS 2014): Formel siehe PDF. Analog lässt sich der Wertansatz VoP (value of punctuality) für die Zuverlässigkeit bezogen auf den Prozentsatz der verspäteten Transporte herleiten.
Diese Werte sind relationsspezifisch, da die Verspätungsgrößen in der Prognose gegenüber im Verkehrsmodell ermittelten Leitwegen mit Solltransportzeiten ermittelt werden. Da die Transportpreise von den Partiegrößen abhängen, ist noch eine Normierung auf eine transportierte Tonne notwendig. Darüber hinaus sind die Werte nach Transportsegmenten (z. B. KV, Metalle, Chemie etc.) differenziert. Der Value of Delay (VoD) schwankt zwischen 0,077 und 53,608 Euro pro Stunde und Tonne, der mediane VoD beträgt 2,256 [t-h]. Der Value of Punctuality (VoP) schwankt zwischen 0,097 und 1,376 Euro pro Stunde und Prozentpunkt, der mediane VoP beträgt 0,458 [h-%].
3 Randbedingungen des Stadt- und Regionalverkehrs bei der Berücksichtigung von Zuverlässigkeit
Die bisher dargelegten methodischen Ansätze bzw. daraus abgeleiteten Indikatoren für die Zuverlässigkeit des Verkehrsablaufs beziehen sich insgesamt auf überregionale Verkehrsbeziehungen, wie es auch dem Planungsauftrag der Bundesverkehrswegeplanung entspricht. Dabei wurde gezeigt, dass die Quantifizierungen am präzisesten sind, wenn sie für einen Verkehrsträger und ein Verkehrsmittel, z. B. den Güterverkehr auf der Straße, durchgeführt werden. Intermodale Verkehre werden nicht auf ihrem Gesamtweg berücksichtigt, das heißt die Umsteige- oder Verladepunkte, die als Zeitpuffer aber auch als Risiko Anschlüsse zu verpassen fungieren können, werden nicht in die Betrachtung einbezogen. Ebenso wurden die Auswirkungen von Unfällen, Baustellen und Streckenbeeinflussungsanlagen auf die Zuverlässigkeit ausgeklammert. Darüber hinaus mussten Bezugslängen eingeführt werden, die die Auswirkungen von Störereignissen auf einen Streckenabschnitt begrenzen und damit die Unabhängigkeit der Standardabweichung von Reisezeiten auf so normierten, benachbarten Streckenabschnitten absichern.
Der Stadt- und Regionalverkehr weist eine Vielzahl von Eigenschaften auf, die eine einfache Übertragung der bisherigen Erkenntnisse nicht zulässt. In den engmaschigen Netzen des Stadt- und Regionalverkehrs sind viele Verkehrsmittel im Einsatz, zusätzlich spielen Fahrrad und Fußgängerverkehr eine große Rolle. Die Nutzung der verschiedenen Verkehrsmittel findet häufig intermodal statt, Umsteigezeiten als Puffer wie auch harte Grenzen für die Zuverlässigkeit einer Gesamtrelation spielen eine große Rolle in hochausgelasteten ÖPNV-Netzen. Die sehr kurzen Streckenabschnitte zwischen Knoten bewirken, dass Störereignisse auf einem Streckenabschnitt Auswirkungen auf mehrere folgende Streckenabschnitte haben. Darüber hinaus sind viele Kreuzungen durch Lichtsignalanlagen geregelt, teilweise ganze Korridore im Rahmen von Verkehrsmanagementmaßnahmen (Grüne Welle, ÖV-Priorisierung etc.) gesteuert. Insofern beeinflussen sich die verschiedenen Verkehrsmittel auch gegenseitig. Für viele Relationen bestehen sehr viele mögliche Wege, die für eine Zuverlässigkeitsbetrachtung insgesamt zu erfassen sind.
Rad- und Fußverkehre folgen völlig eigenständigen Verhaltensweisen und sind bezüglich ihrer Abbildung in Verkehrsmodellen eher im mikroskopischen Bereich anzusiedeln. Es ist jedoch zu untersuchen, in wie weit Fußgänger- und Radverkehre, die im Rahmen der BVWP nicht explizit betrachtet werden, den Verkehr in städtischen Netzen zuverlässiger machen könnten.
In dieser Situation wird man mit der Erfassung von Reisezeitverteilungen auf Relationen, differenziert für verschiedene Kombinationen von Verkehrsmitteln, in ausgewählten urbanen Räumen beginnen müssen. Im Hinblick auf die Übertragbarkeit solcher Ergebnisse müssten die Relationen durch wenige Attribute charakterisierbar sein. Für den Wertansatz bezüglich z. B. einer Stunde Standardabweichung der Reisezeit als Indikator für Unzuverlässigkeit könnte die bereits durchgeführte Studie von (ETH, TNS 2014) um entsprechende Befragungen im urbanen Raum und entsprechenden Distanzklassen erweitert werden.
Für den Stadt- und Regionalverkehr sind im Gegensatz zur BVWP nicht nur infrastrukturelle Maßnahmen zu bewerten, sondern auch solche zur Verbesserung des ÖPNV-Betriebs und des Verkehrsmanagements. Um für eine Bewertung die notwendigen Indikatoren, wie eben auch die Zuverlässigkeit, berechnen zu können, sind Verkehrsmodelle zu etablieren, die prognostisch den Stadt- und Regionalverkehr mit allen Verkehrsmitteln inklusive Fuß- und Radverkehren abbilden. Die Integration der „shared modes“ stellt dabei noch eine deutliche Herausforderung an die Weiterentwicklung von Verkehrsmodellen dar. Im Gegensatz zum BVWP, bei dem jedes Verkehrssystem getrennt simuliert wird, müsste zumindest im Stadtverkehr eine integrierte Simulation und Ableitung von Zuverlässigkeitsfunktionen hergestellt werden.
Die Berücksichtigung der Veränderung der Zuverlässigkeit des Verkehrsablaufs bei der Bewertung von Maßnahmen an Verkehrssystemen ist eine Herausforderung, die national wie international große Beachtung findet. In Deutschland haben die Forschungsaktivitäten durch die Weiterentwicklung der Bewertungsmethodik für den Bundesverkehrswegeplan 2015 einen deutlichen Schub erfahren. Hierbei konnten grundlegende Fragen für die überregionalen Belange des Bundesverkehrswegeplans geklärt werden. Diverse Fragen im Bereich der Erfassung, Modellierung und Monetarisierung sind noch offen. Die erzielten Ergebnisse sind aber nur in Ansätzen auf den Stadt- und Regionalverkehr mit seinen engmaschigen, verkehrsgeregelten und von vielen Verkehrsmitteln genutzten Netzen übertragbar.
Literaturverzeichnis
BMVI (Hrsg.) (2014): Grundkonzeption für den Bundesverkehrswegeplan 2015, Bonn
BVU Beratergruppe Verkehr und Umwelt; TNS Infratest (2014): Entwicklung eines Modells zur Berechnung von modalen Verlagerungen im Güterverkehr für die Ableitung konsistenter Bewertungsansätze für die Bundesverkehrswegeplanung, Entwurf des Schlussberichts (Stand November 2014) im Auftrag des BMVI, Berlin, S. 120–122
D e J o n g et al. (2012): Erfassung des Indikators Zuverlässigkeit des Verkehrsablaufs im Bewertungsverfahren der Bundesverkehrswegeplanung, Schlussbericht im Auftrag des BMVI, Berlin
G e i s t e f e l d t, J.; H o h m a n n, S. (2014): Ermittlung des Zusammenhangs von Infrastruktur und Zuverlässigkeit des Verkehrsablaufs für den Verkehrsträger Straße, Schlussbericht im Auftrag des BMVI, Berlin, S. 23 ff
IGES Institut GmbH; RMCon GmbH (2014): Ermittlung des Einflusses der Infrastruktur auf die Zuverlässigkeit des Verkehrsablaufs für den Verkehrsträger Schiene, Entwurf des Schlussberichts im Auftrag des BMVI, Berlin, S. 2–12
L i, Z.; H e n s h e r, D.A.; R o s e, J.M. (2009): Willingness to pay for travel time reliability in passenger transport: a review and some new empirical evidence, in: Transportation Research Part E 46 (2010), p. 384–403
TNS Infratest; IVT (ETH Zürich) (2014): Ermittlung von Bewertungsansätzen für Reisezeiten und Zuverlässigkeit auf der Basis eines Modells für modale Verlagerungen im nichtgewerblichen und gewerblichen Personenverkehr für die Bundesverkehrswegeplanung, Schlussbericht im Auftrag des BMVI, Berlin |