FGSV-Nr. FGSV 002/143
Ort Potsdam
Datum 08.05.2025
Titel Neues zur FFH-Verträglichkeitsprüfung: Kumulation, Bewertung von Chlorideinträgen
Autoren Rudolf Uhl
Kategorien Landschaftstagung
Einleitung

Mit der Einführung der R FFH-VP im September 2024 ist ein langer Prozess zu seinem vorläufigen Abschluss gelangt, der bereits kurz nach dem Erscheinen des Leitfadens zur FFH-Verträglichkeitsprüfung von Bundesfernstraßen (Leitfaden FFH-VP) im Jahr 2004 begonnen hatte. Zwar hatte jener Leitfaden von KIfL et al. die Gesetzeslage korrekt interpretiert und umfangreich fachlich ausgekleidet, doch konnte er naturgemäß die weitere Entwicklung der Rechtsprechung und der fachlichen Konventionsbildung nicht im Einzelnen vorhersehen. Erste Bemühungen zur Aktualisierung kamen aber über einen Entwurf nicht hinaus.

2019 waren die Konventionsbildung und die rechtlichen Klärungen durch die Gerichte so weit fortgeschritten, dass ein neuer Anlauf zur Aktualisierung des Leitfadens unternommen werden konnte. Ein kritischer Aspekt war dabei die Kumulation, das heißt die Berücksichtigung anderer Pläne und Projekte bei der Frage, ob von einem Vorhaben erhebliche Beeinträchtigungen eines FFH-Gebiets oder Vogelschutzgebietes ausgehen können. Im Rahmen der FGSV wurde diese Frage besonders intensiv im Arbeitskreis „Stickstoff in der FFH-VP“ diskutiert und in den H PSE (Stickstoffleitfaden Straße 2019) auch in praxistauglicher Form bewältigt. Wichtig war dabei, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Betrachtungsebenen „Vorbelastung“ und „Kumulative Zusatzbelastung“ herauszuarbeiten. Während die Vorbelastung erst einmal zu einer erhöhten Empfindlichkeit der Schutzgüter führt, ist es die Zusatzbelastung, die Gegenstand der Bewertung potenzieller Beeinträchtigungen ist. Dieses Prinzip ist nicht auf einen bestimmten Wirkfaktor beschränkt, es kann auch für andere stoffliche Einträge, Lärmbelastungen oder z. B. den Verlust von Habitatflächen einer Anhang-II-Art zum Ansatz gebracht werden.

Wie sehr die fachliche Entwicklung vorangeschritten ist, lässt sich erkennen, wenn man sich die (nicht abschließende) Reihe der Fachkonventionen vor Augen führt, die sukzessive veröffentlicht wurden und werden.

Kurz vor dem Abschluss steht ein Hinweispapier des FGSV-AK, der bereits im Rahmen der Arbeiten zum M WRRL Berechnungsansätze zum Chlorideintrag in Grundwasser- und Oberflächenwasserkörper entwickelt hat. Das Papier stellt den besten wissenschaftlichen Stand zur Erfassung und Bewertung von Chlorideinträgen für die FFH-VP dar. Hierzu wurden in einem Unterarbeitskreis, federführend von D. Grotehusmann (ifs), robuste Formeln entwickelt, die eine Abschätzung mit der gebotenen Vorsorglichkeit erlauben. Die Bewertung basiert auf unseren Vorschlägen im Leitfaden Chlorid (LBM, 2016), ergänzt um neuere Untersuchungen, die für den LBM-Leitfaden noch nicht verfügbar waren. Als Schwellenwerte des Jahresdurchschnitts bieten sich gewässertypspezifische, auf den guten oder sehr guten Erhaltungszustand bezogene Werte der Chloridbelastung an, die von Halle & Müller (2019) im Auftrag der Bund/ Länder-Arbeitsgemeinschaft – LAWA ermittelt wurden. Die Werte lassen sich in der Regel auch auf Anhang-II-Arten in diesen Gewässern übertragen.

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Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.

1 Einleitung

Mit der Einführung der R FFH-VP im September 2024 ist ein langer Prozess zu seinem vorläufigen Abschluss gelangt, der bereits kurz nach dem Erscheinen des Leitfadens zur FFH-Verträglichkeitsprüfung von Bundesfernstraßen (Leitfaden FFH-VP) im Jahr 2004 begonnen hatte. Zwar hatte jener Leitfaden von KIfL et al. die Gesetzeslage korrekt interpretiert und umfangreich fachlich ausgekleidet, doch konnte er naturgemäß die weitere Entwicklung der Rechtsprechung und der fachlichen Konventionsbildung nicht im Einzelnen vorhersehen. Erste Bemühungen zur Aktualisierung kamen aber über einen Entwurf nicht hinaus.

2019 waren die Konventionsbildung und die rechtlichen Klärungen durch die Gerichte so weit fortgeschritten, dass ein neuer Anlauf zur Aktualisierung des Leitfadens unternommen werden konnte. Ein kritischer Aspekt war dabei die Kumulation, das heißt die Berücksichtigung anderer Pläne und Projekte bei der Frage, ob von einem Vorhaben erhebliche Beeinträchtigungen eines FFH-Gebiets oder Vogelschutzgebietes ausgehen können. Der erzielte fachliche Konsens wird in den im November 2024 veröffentlichten R FFH-VP wiedergegeben.

Noch nicht veröffentlicht, aber kurz vor dem Abschluss stehen die Arbeiten des FGSV-AK 5.2.3 an einem Hinweispapier zur Erfassung und Bewertung von Chlorideinträgen in FFH-geschützten Lebensraumtypen (bzw. von FFH-geschützten Anhang-II-Arten besiedelten Gewässerhabitaten). Die wesentlichen Inhalte werden im zweiten Teil dieses Beitrags dargestellt.

2 Neues zur FFH-Verträglichkeitsprüfung – R FFH-VP

2.1 Entstehung und Inhalte der R FFH-VP

Die Erstellung der „Richtlinien für die FFH-Verträglichkeitsprüfung im Straßenbau“ (R FFH-VP) erfolgte im FGSV-Arbeitskreis „FFH-VP im Straßenbau“ mithilfe zweier sukzessive durchgeführter F+E-Vorhaben: In einem ersten Schritt wurde das Gutachten von KIfL et al. (2004), konkret dessen Merkblätter, weiterentwickelt (FE 02.405/2016/LRB; Laufzeit 2019–2020; vgl. Bild 1). Auf Basis einer rechtlichen Synopse wurden die Merkblätter einer kritischen Revision unterzogen und aktualisiert.

Drei Merkblätter wurden neu erstellt (MKB 4 „Potenzielle FFH-Gebiete“, MKB 7 „Pläne und Projekte, für die eine FFH-VP durchzuführen ist“, MKB 57 „Vorbereitung der Unterlagen für die EU-Beteiligung“), fünf Merkblätter gestrichen bzw. Inhalte daraus in andere Merkblätter überführt (IBA-Gebiete, Feuchtgebiete gemäß Ramsar-Konvention, „Gibt es prioritäre Vogelarten“, Anwendungsbeispiele für Beeinträchtigungen“, „Identifikation der relevanten anderen Pläne und Projekte“). Im Schlussbericht dieses ersten F+E-Projekts wurden die Merkblätter noch in der alten Nummerierung beibehalten (1-60), neue Merkblätter mit dem Zusatz A versehen (4A, 7A, 59A).

Als Anlage der R FFH-VP wurden die Merkblätter später fortlaufend durchnummeriert (1-58).

Bild 1: Titelseite F+E-Projekt „Weiterentwicklung des Gutachtens zur FFH-VP im Straßenbau“

In einem weiteren Auftrag der BASt erfolgte die Erstellung des Entwurfs der Richtlinien zur FFH-Verträglichkeitsprüfung auf Grundlage des Leitfadens von 2004 durch dasselbe Projektteam (mit K. Wulfert als stellvertretender Projektleiterin), wiederum begleitet vom FGSV-AK „FFH-VP im Straßenbau“. Im Zuge der Arbeiten an den Richtlinien und zur Berücksichtigung der 2023 eingegangenen Länderstellungnahmen wurden auch die Merkblätter noch etwas überarbeitet. Zum Abschluss der Arbeiten im Nov. 2023 erfolgte eine Teilaktualisierung der Merkblätter, um insbesondere den zwischenzeitlich erfolgten Relaunch der Webseiten des BfN und die Herausgabe des aktualisierten BfN-Handbuchs zu den Lebensraumtypen zu berücksichtigen. Weiterer Bestandteil der R FFH-VP sind Mustergliederungen für FFH-Vorprüfung, FFH-Verträglichkeitsprüfung und FFH-Ausnahmeprüfung. Die Musterkarten wurden – zur Vermeidung von Verzögerungen und auch mit Blick auf die aktuell anstehende Einführung der BIM-Methode in der Straßenplanung und der Dynamik in der Softwareentwicklung – nicht aktualisiert. Ohnehin lassen sich nach unseren Praxiserfahrungen nur sehr eingeschränkt allgemeingültige Empfehlungen für die Kartendarstellung geben, die über das hinausgingen, was die bestehenden Musterkarten bereits zu leisten imstande sind.

Für die R FFH-VP wurde ein Doppelcharakter angestrebt: Zum einen sollen sie als per Rundschreiben (ARS 19/2024) eingeführtes R 1-Regelwerk die rechtlichen und fachlichen Anforderungen umfassend abbilden, zum anderen sollen sie möglichst auch als Arbeitshilfe dienen. Zu diesem Zweck ist die Gliederung des Kapitels zur FFH-Verträglichkeitsprüfung gegenüber dem Leitfaden von 2004 deutlich umgestellt worden, sie orientiert sich nun an der Mustergliederung. Damit ist jedem (Unter-)Kapitel der FFH-VP das entsprechende Unterkapitel von Kapitel 5 der R FFH-VP zugeordnet. Zum anderen lassen sich die Merkblätter als Hilfe auffassen in dem Sinn, dass sie vertiefte Informationen zum Verständnis der Richtlinieninhalte bieten, die bei Bedarf gezielt anhand der Verweise in den Richtlinien aufgesucht werden können.

2.2 Kumulation: Umgang mit anderen Plänen und Projekten

Die Frage der Kumulation wurde besonders intensiv im Arbeitskreis „Stickstoff in der FFH-VP“ diskutiert und in den H PSE (Stickstoffleitfaden Straße 2019) schließlich auch in praxistauglicher Form bewältigt. Wichtig war dabei, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Betrachtungsebenen „Vorbelastung“ und „Kumulative Zusatzbelastung“ herauszuarbeiten.

Während die Vorbelastung erst einmal zu einer erhöhten Empfindlichkeit der Schutzgüter führt (im Falle der Stickstoffdeposition, indem der Critical Load leichter erreicht oder überschritten wird, vgl. Bild 2 auf der folgenden Seite), ist es die Zusatzbelastung, die Gegenstand der Bewertung potenzieller Beeinträchtigungen ist (Bild 3). Die Vorbelastung (im Falle der Stickstoffdeposition als Hintergrundbelastung bezeichnet, um sie von der Begrifflichkeit des Immissionsschutzrechtes abzuheben) muss nicht aus „anderen Plänen und Projekten“ stammen, sondern ist teilweise natürlichen Ursprungs, teilweise sehr diffus, teilweise kann sie auch Tätigkeiten entstammen, die bereits zur Ausweisung des FFH-Gebiets bestanden und bisher keinen Anlass boten, unter dem Verschlechterungsverbot des Artikels 6 Absatz 2 FFH-RL reguliert zu werden. Die Vorbelastung muss auch nicht problematisch sein, solange sie schadlos verkraftbar ist. Ein gewisses Maß an Störungen ergibt sich sowohl unter natürlichen Umständen aus der Dynamik, die Naturprozessen zu eigen ist, als auch erst recht in unseren vielfältig genutzten und teilweise überprägten Landschaften. Dieses Prinzip ist nicht auf einen bestimmten Wirkfaktor beschränkt, es kann auch für andere stoffliche Einträge, Lärmbelastungen oder z. B. den Verlust von Habitatflächen einer Anhang-II-Art zum Ansatz gebracht werden.

Bild 2: Vorbelastung als Teil der Gesamtbelastung zur Ermittlung der Empfindlichkeit

Führen die Auswirkungen eines Projekts aber zu einer Beeinträchtigung, darf diese nur als Bagatelle bewertet werden, wenn die Beeinträchtigungen aus anderen Projekten dabei berücksichtigt werden. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass ein maßgeblicher Gebietsbestandteil durch mehrfache Bagatellen in der Summe erheblich beeinträchtigt wird. Auf dieser Betrachtungsebene müssen alle bagatellhaften Beeinträchtigungen in den Blick genommen werden, die das jeweilige Schutzgut (LRT nach Anhang I oder Art nach Anhang II) betreffen und von einem seit Gebietsmeldung genehmigten Projekt ausgehen.

Bild 3: Kumulative Belastung als Teil der zu beurteilenden Zusatzbelastung

Bagatellen können sich ergeben hinsichtlich der Intensität der Beeinträchtigung, im Falle des Stickstoffs gemessen als Prozentsatz des Critical Loads oder der betroffenen Fläche. Nicht berücksichtigt werden müssen Beeinträchtigungen, die bereits kompensiert wurden, sei es, weil sie als erheblich bewertet wurden und im Rahmen der Ausnahme kompensiert werden mussten, sei es z. B., weil im Rahmen des Gebietsmanagements einer Verschlechterung entgegengewirkt wurde. Hierbei ist wiederum zu beachten, dass Maßnahmen des Gebietsmanagements, die den bereits ohnehin ungünstigen Erhaltungszustand eines Schutzguts verbessern, nicht als Kompensation für zusätzliche Auswirkungen eines anderen oder des eigenen Vorhabens in Anspruch genommen werden können, wohl aber solche, die „freiwillig“ durchgeführt wurden. Wie sich kumulative Beeinträchtigungen am besten ermitteln und bewerten lassen, wurde in einem F+E-Projekt im Auftrag des BfN untersucht (Uhl et al. 2019). Dabei wurde deutlich, wie sehr eine bessere Ausstattung der für den FFH-Gebietsschutz zuständigen Behörden auch den Vorhabenträgern im Straßenbau zugutekäme. Zum einen wäre mit einem stringent geführten FFH-VP-Kataster ein Überblick über kumulative Beeinträchtigungen leicht zu gewinnen, zum anderen ließe sich diesen mit – notwendigen, obligatorischen oder fakultativen – Maßnahmen des Gebietsmanagements gezielt begegnen, sodass graduelle Verschlechterungen aus anderen Plänen und Projekten erst gar nicht anzunehmen wären. In diesem Sinne können freiwillige Maßnahmen auch vom Vorhabenträger frühzeitig veranlasst werden, sie werden in den R FFH-VP als kumulationsvermeidende Maßnahmen dargestellt (MKB 45).

2.3 Neue Maßstäbe bei der FFH-Vorprüfung

Solange kumulative Projekte bzw. FFH-VP oder FFH-Vorprüfungen nicht zentral in einem Kataster erfasst sind, bleibt die Abfrage mit einem nicht geringen Aufwand verbunden. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird in den R FFH-VP für FFH-Vorprüfungen der Maßstab der Nicht-Beeinträchtigung angelegt: Nur wenn ein Projekt gar keine Beeinträchtigungen auszulösen vermag, kann auf eine FFH-VP verzichtet werden. Dabei ist es zulässig, detailliertere Untersuchungen zum Nachweis anzustellen, etwa dass Abschneidekriterien unterschritten werden. Maßnahmen zur Schadensbegrenzung dürfen nicht berücksichtigt werden, wenn sie nicht bereits fester Bestandteil der Planung sind. Finden sie ihre Rechtfertigung hingegen erst aus ihrer Funktion zur Sicherstellung der FFH-Verträglichkeit oder stehen sie nicht wirklich fest, müssen sie in einer FFH-Verträglichkeitsprüfung explizit als Schadensbegrenzungsmaßnahmen festgelegt werden. Dies wäre in einer FFH-Vorprüfung nicht möglich, daher reicht eine FFH-Vorprüfung in solchen Fällen auch nicht aus.

2.4 Fachkonventionen zur Erfassung und Bewertung von Beeinträchtigungen

Wie sehr die fachliche Entwicklung seit dem Erscheinen des Vorgängerleitfadens 2004 vorangeschritten ist, lässt sich anhand der seitdem erschienenen, teilweise wiederholt gerichtlich bestätigten Fachkonventionen feststellen.

Zu nennen sind in diesem Sinne beispielhaft:

  • Lambrecht; Trautner (2007, im Auftrag des BfN): Fachkonventionen zur Bestimmung der Erheblichkeit im Rahmen der FFH-VP,
  • Garniel; Mierwald (2010, herausgegeben vom BMVBS): Arbeitshilfe Vögel; Straßenverkehr,
  • Albrecht et (2014, herausgegeben vom BMVBS; aktuell in Aktualisierung durch ANUVA in Zusammenarbeit mit FÖA und DB InfraGO): Leistungsbeschreibungen für faunistische Untersuchungen,
  • FGSV (2019): Hinweise zur Prüfung von Stickstoffeinträgen in der FFH-Verträglichkeitsprüfung für Straßen – H PSE. Stickstoffleitfaden Straße, Ausgabe 2019,
  • FGSV (2022): Merkblatt zur Anlage von Querungshilfen für Tiere und zur Vernetzung von Lebensräumen an Straßen. Ausgabe 2022,
  • FÖA Landschaftsplanung (2023, herausgegeben vom BMDV): Arbeitshilfe Fledermäuse und Straßenverkehr,
  • Bernotat; Dierschke (2021, BfN): Übergeordnete Kriterien zur Bewertung der Mortalität wild lebender Tiere im Rahmen von Projekten und Eingriffen. 4. Fassung.

Immer gilt freilich, was in Merkblatt 36 der R FFH-VP wie folgt gefasst ist (Bild 4): Fachkonventionen machen Sachverstand bei ihrer Anwendung nicht entbehrlich, sondern setzen ihn voraus.

Bild 4: Fazit zur Anwendung von Fachkonventionen (R FFH-VP, MKB 36)

3 Neues zur FFH-Verträglichkeitsprüfung – Wirkfaktor Chlorid

Chlorid als Bestandteil des im Winterdienst verwendeten Tausalzes stellt den bedeutendsten straßenbürtigen Stoffeintrag in Fließgewässer-Lebensraumtypen dar. Zum einen werden von ihm bedeutende Mengen ausgebracht, zum anderen ist es außerordentlich mobil, es passiert den Boden wie auch Behandlungsanlagen, ohne dabei zurückgehalten zu werden.

Zur Beurteilung, ob ein Vorhaben den ökologischen Zustand eines Oberflächenwasserkörpers verschlechtern kann, wird das Chlorid als allgemeiner physikalisch-chemischer Parameter entsprechend den Vorgaben der Oberflächengewässerverordnung im Fachbeitrag zur Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) betrachtet. Es ist auch der einzige Stoff, der bei der fachgerechten Versickerung von Straßenoberflächenwasser Einfluss auf den chemischen Grundwasserzustand nehmen könnte. Entsprechend sind im M WRRL (FGSV 2021) Berechnungsansätze zum Chlorideintrag in Grundwasser- und Oberflächenwasserkörper enthalten. Im Nachgang zu den Arbeiten am M WRRL (FGSV 2021) ergab sich die Frage, ob und wie solche Berechnungen für Zwecke der FFH-VP durchgeführt werden können. Es wurde daher ein Unterarbeitskreis gebildet, der sich dieser Frage annahm. Im weiteren Verlauf der Arbeiten an dem geplanten FGSV-Hinweispapier zeigte sich zudem, dass auch für die Bewertung neuere Untersuchungen verwendet werden können, die für den Leitfaden „Chlorid in der FFH-VP“, den wir bereits vor fast zehn Jahren im Auftrag des LBM Rheinland-Pfalz erarbeitet hatten (LBM 2019), noch nicht verfügbar waren.

3.1 Fließgewässer-LRT

Folgende Fließgewässer-Lebensraumtypen nach Anhang I der FFH-Richtlinie kommen in Deutschland vor:

  • 3220 Alpine Flüsse und ihre krautige Ufervegetation (Natürliche und naturnahe Fließgewässer der Alpen und des Alpenvorlandes (Schwerpunkt submontane bis alpine Höhenstufen) mit ihren Schotterbänken und Ufern mit krautiger Vegetation (Epilobietalia fleischeri p.).
  • 3230 Alpine Flüsse und ihre Ufervegetation mit Myricaria germanica (Natürliche und naturnahe Fließgewässer der Alpen und des Alpenvorlandes (Schwerpunkt submontane bis supalpine Höhenstufe) mit ihren Schotterbänken und Ufern mit Gebüschen von Myricaria germanica und Weiden (Weichholzaue alpiner Flüsse).
  • 3240 Alpine Flüsse und ihre Ufergehölze mit Salix eleagnos (Natürliche und naturnahe Fließgewässer der Alpen und des Alpenvorlandes (Schwerpunkt submontane bis subalpine Höhenstufe) mit ihren Ufergehölzen mit Lavendelweide (Salix eleagnos) und Weichholzaue alpiner Flüsse).
  • 3260 Fließgewässer der planaren bis montanen Stufe mit Vegetation des Ranunculion
  • 3270 Schlammige Flussufer mit Vegetation der Verbände Chenopodion rubri (p.p.) und Bidention (p.p.) (Naturnahe Fließgewässer mit einjähriger, nitrophytischer Vegetation auf schlammigen Ufern (Verbände Chenopodion rubri p.p. und Bidention p.p.).

In der Praxis besonders bedeutsam ist dabei der LRT 3260, der deutschlandweit in über 1.400 FFH-Gebieten vorkommt (Bild 5; Quelle: Natura 2000 Viewer der Europäischen Umweltagentur).

Bild 5: FFH-Gebiete mit Vorkommen des LRT 3260 Fließgewässer mit Ranunculion fluitantis

3.2 Hintergrundbelastung

Der natürliche Chloridgehalt im Grundwasser bzw. auch in den Oberflächengewässern variiert je nach Salzgehalt des Gesteins, in Küstennähe ist er auch infolge mariner Einflüsse erhöht. Neben Einträgen aus Industrie oder Verkehr können anthropogene Einflüsse auch indirekt infolge der Entnahme von Grundwasser auftreten, wenn dadurch salzhaltiges Wasser aus der Tiefe aufsteigt. Auch aus diesem Grund lassen sich nicht immer natürliche von anthropogen beeinflussten Hintergrundwerten unterscheiden (BGR, 2014).

Wie im Bild 6 dargestellt, liegen die mittleren Werte für die meisten Grundwassereinheiten unter 50 mg/l Chlorid, auch wenn die tieferen Lagen tendenziell höhere Chloridwerte aufweisen als die Bereiche der Alpen und Mittelgebirge. Höhere Werte sind aber auch geogen bedingt keine Seltenheit.

Mit diesen Hintergrundwerten ist auch die Situation für die Fließgewässer beschrieben, wenn keine weiteren Einträge hinzukommen.

Bild 6: Natürliche Gehalte von Grundwasserkörpern in Deutschland (Medianwerte)

3.3 Zusatzbelastung

Zur Ermittlung der projektbedingten Zusatzbelastung wurden im Leitfaden des LBM (2019) Modellierungen empfohlen. Solche Modellierungen sind zwar geeignet, möglichst realistische Werte der Zusatzbelastung zu ermitteln, sind aber auch sehr aufwendig.

In dem Unterarbeitskreis des FGSV-AK „Bewertung von Straßenbaumaßnahmen in Bezug auf die Wasserrahmenrichtlinie“ wurden federführend von D. Grotehusmann (ifs) robuste Formeln entwickelt, die eine Abschätzung mit der gebotenen Vorsorge im Sinne eines Worst-Case-Szenarios erlauben (keine Anheftverluste, Tausalzmenge entsprechend maximalem Bedarf). Für die Aufteilung des Straßenabflusses auf Oberflächengewässer und Grundwasser werden vonseiten der Entwässerungsplanung Angaben zur realen, das heißt dem jeweiligen Szenario entsprechenden und individuell vom Fließweg zu den Behandlungsanlagen abhängigen Versickerungsrate benötigt (vgl. Uhl 2025). Zu beachten sind auch die empirisch ermittelten Sprühnebelverluste nach BMVIT (2019). Neben dem Jahresdurchschnittswert sind Formeln auch für die maximale akute Kurzzeitbelastung über drei Tage (Szenario: drei Tage intensiver Winterdienst mit hohem Festsalzanteil FS30, 12 mm Niederschlag aus Schneefall, mittlerer Niedrigwasserabfluss im Winterhalbjahr) und für die chronische Belastung über dreißig Tage angegeben (Szenario: maximale monatliche Lagerkapazität, Niedrigwasserabfluss wie bei akuter Belastung, leichte Verdünnung durch die zusätzlich eingeleiteten Niederschläge). Weitere Details siehe den Impulsvortrag von Johanna Ewen in AK 7 dieser Landschaftstagung.

3.4 Empfindlichkeit von Fließgewässerlebensraumtypen

Auf Grundlage umfangreicher Auswertungen und Literaturrecherchen wurden in dem von uns unter Federführung von Achim Kiebel 2016 erstellten, vom LBM Rheinland-Pfalz herausgegebenen Leitfaden Chlorid Schwellenwerte für den Jahresdurchschnitt, für chronische Belastungen von 30 Tagen Dauer sowie für akute Spitzenbelastungen (72 Stunden) von Mittelgebirgsbächen des LRT 3260 angegeben (Bild 7). Sofern diese Werte eingehalten werden, können Beeinträchtigungen des Gewässerlebensraumes nach den besten wissenschaftlichen Erkenntnissen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Bild 7: Schwellenwerte für Chloridkonzentrationen in der FFH-VP (LBM 2016)

Als besonders relevante Literaturquellen wurden Wolfram et al. (2014) vom Büro DWS Hydro-Ökologie Wien für das österreichische Bundesumweltministerium und die statistischen Auswertungen von Halle, Müller damals noch aus 2014 herangezogen. Die Empfehlungen von Wolfram et al. zu Schwellenwerten für chronische und akute Belastungen wurden ansatzweise in die österreichische Qualitätszielverordnung übernommen (als Mittelwert 150 mg/l, akute Belastung 600 mg/l). Die Empfehlungen für den Jahresmittelwert stammten aus den im Auftrag der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser – LAWA durchgeführten Untersuchungen von Halle, Müller (2014). Sie fanden bedingt Eingang in die Oberflächengewässerverordnung (OGewV 2016), wo ein Jahresmittelwert von 50 mg/l für den sehr guten ökologischen Zustand eines Fließgewässers angesetzt wird, allerdings nur 200 mg/l für den guten Zustand gefordert werden.

Im weiteren Verlauf der Arbeiten an dem geplanten FGSV-Hinweispapier zeigte sich, dass für die Bewertung neuere Untersuchungen verwendet werden können, die für den LBM-Leitfaden noch nicht verfügbar waren. Als Schwellenwerte des Jahresdurchschnitts bieten sich gewässertypspezifische, auf den guten oder sehr guten Erhaltungszustand bezogene Werte der Chloridbelastung an, die von Halle & Müller (2019) im Auftrag der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft – LAWA anhand der deutschen Daten aus der Gewässerüberwachung ermittelt wurden.

Bild 8: Schwellenwerte für Chloridkonzentrationen (Halle, Müller 2019)

Im Bild 8 dargestellt sind die Originalwerte: rechts grün die Werte für den guten ökologischen Zustand, in der zweiten Spalte von rechts blau die Werte für den sehr guten ökologischen Zustand. Die Fließgewässertypen (gemäß LAWA-Klassifikation, wie sie in der OGewV verwendet wird), für welche die Werte ermittelt wurden, sind in der dritten Spalte von links kodiert. Dieser Typ lässt sich entweder direkt aus dem Bewirtschaftungsplan zur Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) entnehmen oder muss bei einem nicht berichtspflichtigen Fließgewässer anhand seiner Charakteristika (Lage, Geologie, Substrat, Chemismus etc.) festgelegt werden. Welche biologische Qualitätskomponente maßgeblich den jeweiligen Wert bestimmt, ist im Bild 8 mit der Angabe ihres Bewertungssystems in Spalte 10 dargestellt: So steht z. B. FiBS für das Fischbewertungssystem und damit für die jeweils für das Gewässer festgelegten Leitarten oder typspezifischen Referenzarten, welche in den Bächen der Alpenregion (erste Zeile der Tabelle) nur bei sehr niedrigen Chloridwerten in einem guten oder sehr guten Zustand verbleiben. Bei silikatisch geprägten Mittelgebirgsbächen (zweite Zeile) sind die Diatomeen, Fische und Makrophyten bestimmend für den Schwellenwert. In vielen Fällen schlägt die Bewertung zuerst über den Faktor „allgemeine Degeneration“ des Makrozoobenthos (MZB-AD) an, wenn Chloridgehalte zu hoch sind.

Im Entwurf des Hinweispapiers ist die Tabelle der Schwellenwerte für den Jahresdurchschnitt, teilweise komplettiert mit älteren Daten von Halle, Müller (2014, 2017, dargestellt in 2019), leichter lesbar wie folgt dargestellt (Bild 9):

Bild 9: Schwellenwerte für Chloridkonzentrationen (FGSV im Entwurf, Basis Halle, Müller 2019)

3.5 Empfindlichkeit von Tierarten nach Anhang II FFH-Richtlinie

Die Empfindlichkeit von Süßwasserorganismen gegenüber Chlorid hängt von ihrer Physiologie, allem Anschein nach aber auch von ihrer Ökologie ab. Fischarten wie die Anhang-II-Arten Groppe oder Bachneunauge, die auch bei höheren Chloridgehalten in gutem Erhaltungszustand angetroffen werden können, reagieren ausweislich statistischer Analysen von Halle, Müller (2019 und pers. Komm. 2025) bei niedrigen natürlichen Hintergrundbelastungen deutlich empfindlicher als z. B. in löss-lehmgeprägten Tieflandbächen (LAWA-Typ 18). Würde man eine solche Art anhand eines einzelnen Schwellenwertes bewerten, der sich aus der statistischen Analyse aller ihrer Vorkommensdaten ergibt, wäre dieser Wert tendenziell zu hoch in chloridarmer Umgebung und unangemessen niedrig in weniger chloridempfindlichen Fließgewässern, wo nicht die Fische (und damit auch nicht die Groppe als Leitart oder das Bachneunauge als gewässertypspezifische Referenzart), sondern z. B. das Makrozoobenthos empfindlichkeitsbestimmend ist. Es wird daher empfohlen, für Anhang-II-Arten die Werte des jeweils von ihnen bewohnten Gewässertyps anzusetzen, sofern keine individuellen Umstände dagegen sprechen.

Literaturverzeichnis

BMVIT (2019): Leitfaden: Einleitung chloridbelasteter Straßenwässer in Fließgewässer https://www.bmk.gv.at/themen/verkehr/strasse/umwelt/studien/chlorid.html

Bundesamt für Geowissenschaften und Rohstoffe – BGR (2014): WMS Information der BGR Hannover: Hydrogeologische Karte von Deutschland 1:200.000 (HÜK200). Thema: Hydrogeochemie, Hintergrundwerte im Grundwasser. Internet: https://www.bgr.bund.de/DE/Themen/Wasser/Projekte/abgeschlossen/ Beratung/Hintergrundwerte/wagner2014.pdf? blob=publicationFile&v=15

Europäische Umweltagentur – EEA (2025): Natura 2000 Viewer https://natura2000.eea.europa.eu/

Halle, M., Müller, A. (2014): Korrelation zwischen biologischen Qualitätskomponenten und allgemeinen physikalisch-chemischen Parametern. Endbericht. Erarbeitet im Rahmen des Länderfinanzierungsprogramms „Wasser, Boden und Abfall“. 190 S.

Halle, M., Müller, A. (2019): Abschließende Arbeiten zu Korrelationen zwischen biologischen Qualitätskomponenten und allgemeinen physikalisch-chemischen Parametern (ACP) in Fließgewässern. LAWA-Projekt O 3.16 des Länderfinanzierungsprogramms „Wasser, Boden und Abfall“ 2016. umweltbüro essen & chromgruen.

https://www.lawa.de/documents/o316-abschlussbericht-barrierefrei_1689846170.pdf

Mit Anhängen siehe https://www.laenderfinanzierungsprogramm.de/projektberichte/lawa/#AO; Exceltabelle unter https://www.laenderfinanzierungsprogramm.de/static/LFP/Dateien/LAWA/AO/O3.16_ACP- Schwellenwerte_2018-06-18.xlsx

LBM – Landesbetrieb Mobilität Rheinland-Pfalz (2016): Leitfaden Chlorid. Bearbeiter: Kiebel, A.; Uhl. R. (FÖA Landschaftsplanung) https://lbm.rlp.de/fileadmin/lbm/Themen/Landespflege/Dokumente/2016-11_Leitfaden_Chlorid.pdf Anmerkung: Publiziert in 2019, daher teilweise als LBM (2019) zitiert.

Uhl, R.; Runge, H; Lau, M. (2019): Ermittlung und Bewertung kumulativer Beeinträchtigungen im Rahmen naturschutzfachlicher Prüfinstrumente. Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.). BfN-Skripten 534, 189 S.
https://www.bfn.de/publikationen/bfn-schriften/bfn-schriften-534-ermittlung-und-bewertung-kumulativer

Uhl, R. (2025): „Erfahrungen zum M WRRL: Bereitstellung von Daten zur Entwässerungsplanung“ Vortrag FGSV-Kolloquium „Entwässerung an Straßen“ am 03.04.2025, Veitshöchheim. https://www.foea.de/images/downloads/Uhl%20Impuls%20Entwässerungsdatenbereitstellung%20WRRL%202025-04-03.pdf

Wolfram, G.; Römer, J.; Hörl, C.; Stockinger, W.; Ruzicska, K. und Munteanu, A. (2014): „Chlorid-Studie. Auswirkungen von Chlorid auf die aquatische Flora und Fauna, mit besonderer Berücksichtigung der Biologischen Qualitätselemente im Sinne der EU-WRRL“. Im Auftrag des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Abteilung IV/3 – Nationale und internationale Wasserwirtschaft, Wien, 2014, 162 S. https://info.bml.gv.at/service/publikationen/wasser/Chlorid–Auswirkungen-auf-die-Aquatische-Flora-und-Fauna.html