FGSV-Nr. FGSV 001/28
Ort Dortmund
Datum 05.10.2022
Titel Fuß- und Radverkehr auf gemeinsamen Flächen – (wie) geht das?
Autoren Dipl.-Ing. Markus Enke
Kategorien Kongress
Einleitung

Fuß- und Radverkehr sind neben dem ÖPNV zentraler Bestandteil der gerade stattfindenden Mobilitätswende. Um die dabei angestrebten Ziele einer nachhaltigeren Mobilität zu erreichen, müssen die umweltfreundlichen Verkehrsarten eine attraktive Alternative zum motorisierten Verkehr darstellen. Hier spielen vor allem die Verkehrsführung und die Gestaltung der Verkehrsanlagen für Fuß- und Radverkehr eine wichtige Rolle. Diese müssen ein hohes Maß an objektiver (geringes Unfallrisiko) und subjektiver (Sicherheitsempfinden) Verkehrssicherheit bereitstellen. Dabei ist in die Diskussion der Flächenkonkurrenz zwingend auch der fahrende und ruhende motorisierte Individualverkehr einzubeziehen.

Die steigende Bedeutung von Fuß- und Radverkehr wird sich im Flächenanspruch der beiden Verkehrsarten widerspiegeln. Entsprechend ist mindestens die Einhaltung der heute schon gültigen städtebaulichen Bemessung nach den „Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen“ (RASt), erforderlich bzw. ein erster Schritt. Nach der städtebaulichen Bemessung sind zunächst die erforderlichen Flächen für Gehende festzulegen. Ihnen folgen die Flächen für den Radverkehr, Parken und die Fahrbahn („Planung von außen nach innen“). Durch diesen Ansatz sollte im Planungsverfahren so immer zuerst der Flächenbedarf für die schwächsten Verkehrsteilnehmenden bestimmt werden.

Eine gemeinsame Führung von Fuß- und Radverkehr birgt zunehmend Konflikte. Durch die technischen Entwicklungen der letzten Jahre nimmt der Geschwindigkeitsunterschied zwischen Gehenden und Radfahrenden deutlich zu. Zudem bedarf der Radverkehr durch die zunehmende Bandbreite der Fahrradflotte in Form von Lastenrädern und Gespannen deutlich mehr Fläche. Die zum Teil daraus resultierenden geringeren Überholabstände und höheren Überholgeschwindigkeiten wirken sich negativ auf das Sicherheitsempfinden der schwächeren Gehenden aus.

Ob und in welcher Form eine gemeinsame Führung von Fuß- und Radverkehr auf einer Fläche (noch) vertretbar ist, sollte im Entscheidungsprozess jeweils intensiv abgewogen werden.

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1 Ausgangssituation und Konfliktlinien

Vor dem Hintergrund der Diskussionen um Mobilitätswende und die Reduzierung von Emissionen im Mobilitätssektor spielen Fuß- und Radverkehr neben dem ÖPNV eine entscheidende Rolle. Hinzu kommt die Diskussion der Mobilitätsverlagerung hin zum nicht motorisierten Individualverkehr mit dem Ziel, lebenswerter Innenstädte. Hohe Fuß- und Radverkehrsanteile wirken sich positiv auf verkehrliche Umweltwirkungen aus und haben im Vergleich zum motorisierten Verkehr auch einen verminderten Flächenbedarf. Das erhöht wiederum die Gestaltungsmöglichkeiten für attraktive öffentliche Räume. Hier können vor allem leistungsfähige, attraktive und – sowohl subjektiv als auch objektiv – sichere Verkehrsanlagen für Gehende und Radfahrende bei der Verlagerung des Mobilitätsverhaltens helfen.

Bei gemeinsamer Führung können die unterschiedlichen Ansprüche und Bedürfnisse von Fuß- und Radverkehr Unmut der Verkehrsteilnehmenden untereinander hervorrufen. Während sich Gehende von schnell und mit geringem Abstand überholenden Radfahrenden gestört fühlen, können langsame und in Gruppen nebeneinander Gehende die Radfahrenden beeinträchtigen. Daraus können auf beiden Seiten Verdrängungseffekte im Netz oder bei der Verkehrsmittelwahl, sowie Konflikte und Unfälle resultieren.

Das Regelwerk der FGSV fordert bereits heute die getrennte Führung von Fuß- und Radverkehr als Standard. Gemeinsam sollten Fuß- und Radverkehr nur in Ausnahmefällen, nach intensiver vorheriger Prüfung und unter Wahrung der Belange des Fußverkehrs vorgesehen werden. Zudem sind der gemeinsamen Führung nach den Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06), den Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen (EFA) sowie den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) enge Grenzen gesetzt. Insbesondere ist diese nur bei sehr geringen Verkehrsstärken, einem dominanten Fußverkehr (Anteil 2/3 an der Gesamtverkehrsstärke) und ausreichenden Breiten zulässig.

In der Praxis stehen die Belange von Fuß- und Radverkehr in der Regel aber denen anderer Verkehrsarten oder weiteren Randbedingungen (Flächenverfügbarkeit, Bebauung, Naturschutz) gegenüber. Auch das städtebauliche Umfeld oder die landschaftlichen Gegebenheiten können gegen die Anlage getrennter Wege für Gehende und Radfahrende sprechen. Das betrifft straßenbegleitende und selbstständige Wege gleichermaßen. In Einzelfällen kann es somit erforderlich oder gewollt sein, dass Gehende und Radfahrende dieselben Flächen nutzen. Kinder bis zum vollendeten achten Lebensjahr müssen grundsätzlich auf Flächen des Fußverkehrs fahren. Bis zum zehnten Lebensjahr dürfen Kinder auf dem Gehweg fahren. Kinder bis zum vollendeten achten Lebensjahr dürfen dabei von einer Aufsichtsperson mit dem Fahrrad auf dem Gehweg begleitet werden (§ 2 Absatz 5 StVO).

Kontrovers diskutiert wird die Freigabe von Fußgängerzonen für den Radverkehr. Vorliegende Untersuchungen zeigen hierzu kein eindeutiges Bild. So wird das Radfahren einerseits als selbstverständlich und in der Regel konfliktfrei und andererseits als Einschränkung der Freizügigkeit und Ungestörtheit des Fußverkehrs angesehen.

Es wird deutlich, dass die Wahl der Führung von Fuß- und Radverkehr das Ergebnis eines Abwägungsprozesses sein muss, in dessen Mittelpunkt die Nutzungsansprüche stehen sollten, die mit einer Verkehrsanlage erfüllt werden sollen.

Gegenstand der weiteren Betrachtungen sind die Nutzungsansprüchen der beiden betrachteten Verkehrsarten und die Diskussion, unter welchen Rahmenbedingungen eine gemeinsame Führung in Ausnahmefällen möglich ist.

2 Nutzungsansprüche

2.1 Gehende

Wie bei anderen Verkehrsarten auch, kann der Fußverkehr in Alltags- und Freizeitverkehr unterschieden werden. Vielleicht stärker als bei den anderen Verkehrsarten vermischen sich hier aber zielgerichtete mit erlebnisorientierten Wegen eher. Neben der reinen Fortbewegung nutzen Gehende Straßen und Wege sowie ggf. deren angrenzende Aufenthaltsflächen zum Aufenthalt, wie dem Stehenbleiben, dem Ausruhen auf Bänken, dem Sitzen in Außenbereichen von Gaststätten, dem Betrachten von Auslagen und Schaufenstern. Auch das Gehen in Gruppen nebeneinander ist ein wesentliches Qualitätskriterium für den Fußverkehr. Die anliegende Nutzung bestimmt dabei, ob sich Aufenthaltsansprüche an bestimmten Orten konzentrieren oder linear entlang eines Straßen- oder Wegeabschnittes auftreten. Unabhängig davon können sich die Ansprüche je nach Wegezweck unterscheiden:

  • Der Alltagsfußverkehr dient vor allem der Zielerreichung. Der Aufenthalt spielt dann eine untergeordnete Eine angemessene Nutzungsqualität (freies Gehen ohne Hindernisse bzw. häufige Konflikte) muss gewährleistet sein.
  • Dagegen ist im Freizeitfußverkehr der Aufenthalt das wesentliche Kriterium. Aufenthaltsqualitäten für den Fußverkehr spiegeln sich a. in einem ungestörten Gehen und Flanieren sowie dem freien Bewegen von Kindern wider. Gehende laufen in ihrer Freizeit häufiger in Gruppen.

Im Grundsatz sollten alle Menschen, unabhängig von ihren körperlichen und geistigen Eigenschaften, weitgehend uneingeschränkt am öffentlichen Leben teilnehmen und den öffentlichen Raum nutzen können. Aus diesem Grund sind die Aspekte der Barrierefreiheit bei der Planung stets zu berücksichtigen. Dazu zählen vor allem die Belange von Kindern und Menschen mit Mobilitätseinschränkungen.

  • Kinder können – je nach Alter und Erfahrung – Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht sicher einschätzen. Auch lassen sich Kinder leicht ablenken. Konflikte entstehen durch spontane und nicht berechenbare Verhaltensmuster sowie durch unzutreffendes Einschätzen von Gefahren wie z. B. einem plötzlichen Richtungswechsel oder dem plötzlichen Losrennen oder Stehenbleiben (FGSV, 2010b). Konflikte mit Radfahrenden treten speziell bei Wegen oder Flächen auf, auf denen Kinder keine Gefährdung erwarten (Butz et al., 2007).
  • Menschen mit Seheinschränkungen können nur schwer unerwartete Hindernisse und Störungen auf den Gehflächen erkennen. Ihre Möglichkeiten mit anderen Verkehrsteilnehmenden visuell zu kommunizieren sind beschränkt bzw. nicht vorhanden. Konfliktsituationen mit anderen Verkehrsteilnehmenden, die zu nah oder zu schnell vorbeifahren, können sie ebenso wie Verkehrszeichen und optische Markierungen nicht oder nicht ausreichend erkennen. Menschen mit Seheinschränkungen sind daher auf die Präsenz von Radfahrenden auf Gehwegen nicht immer vorbereitet. Vielmehr sind sie auf taktile Elemente und eine kontrastreiche Gestaltung zur Abgrenzung von Fuß- und Radverkehr angewiesen.
  • Menschen mit Höreinschränkungen können herannahende Fahrzeuge außerhalb ihres Blickfeldes sowie Klingeln oder Rufen nicht Gleichzeitig ist die Einschränkung nicht sichtbar, weshalb andere Verkehrsteilnehmende sich der Gefahr nicht bewusst sind.
  • Menschen mit körperlichen Einschränkungen sind in ihrer Mobilität, Beweglichkeit und Reaktionsfähigkeit eingeschränkt. Für sie bieten niveaugleiche Verkehrsflächen Vorteile. Oberflächenstrukturen, welche zur Übernahme von Leitfunktionen angelegt werden, müssen für Menschen mit Geheinschränkungen begeh- und/oder berollbar sein. Zudem sind die erforderlichen Bewegungsflächen insbesondere für Rollstuhlnutzende zur Verfügung zu Gerade Poller und Absperrelemente (Umlaufsperren) können schnell eine Barriere darstellen (H BVA, 2017).

2.2 Radfahrende

Radfahrende sind deutlich schneller als Gehende. Die mittlere Geschwindigkeit von Radfahrenden beträgt etwa 20 km/h (Alrutz et al., 2015), wobei sie auf ebener Strecke zwischen 13 km/h bis 30 km/h variiert. Bei Gefälle kann sich die Geschwindigkeit Radfahrender deutlich erhöhen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich die Geschwindigkeiten im Radverkehr mit zunehmender Nutzung von E-Bikes weiter erhöhen werden.

Auch Radfahrende können je nach Wegezweck unterschiedlich charakterisiert werden:

  • Im Alltagsradverkehr bewegen sich Radfahrende ziel- und Dabei sind sie häufiger allein unterwegs.
  • Im Freizeitradverkehr legen Radfahrende mehr Wert auf ein attraktives Umfeld, auch wenn dadurch Umwege entstehen. Zudem fahren Radfahrende im Freizeitverkehr häufiger in Gruppen und die Geschwindigkeiten sind meist geringer als im Alltagsverkehr. Als Teil des Freizeitradverkehrs müssen auch Pausen gelten, für die entsprechende Infrastruktur vorgehalten werden sollte. Neben dem Ausflugsverkehr sind auch sportlich orientierte Radfahrende ein Aspekt des Diese Gruppe Radfahrender bewegt sich meist geschwindigkeits- bzw. zeitorientiert.

Kinder, Neueinsteigerinnen und Neueinsteiger sammeln noch erste Erfahrungen auf dem Fahrrad und bewegen sich deshalb teilweise noch unsicher. Analog zum Fußverkehr übersteigen die Anforderungen des Verkehrs oft die kognitiven Möglichkeiten von Kindern, die erst mit 14 Jahren vollständig ausgebildet sind. So können in früheren Lebensjahren noch nicht alle verkehrlichen Einflüsse wahrgenommen, verarbeitet und auf diese richtig reagiert werden (FGSV, 2010b).

Neben den nutzungs- und personenspezifischen Charakteristika ist der moderne Radverkehr auch durch eine sich stets erweiternde Bandbreite von Fahrzeugen geprägt. Neben dem klassischen Fahrrad mit all seinen Facetten (Stadt-, Touren- und Rennrad, Mountainbike, etc.), kommen aufgrund technischer Neuerungen, wie der elektronischen Tretunterstützung, vor allem im E-Bike-Segment stets neue Fahrzeuge hinzu. Vor allem Lastenräder sind sowohl bei Familien als auch bei Gewerbetreibenden zunehmend von Bedeutung. Hinzu kommen verschiedene Lösungen zum Mitführen von Fahrradanhängern. Die größeren Schleppkurven von Lastenrädern und Fahrradgespannen stellen neue Anforderungen an die Radverkehrsinfrastruktur.

3 Zielkonflikte

Aus den Nutzungsansprüchen des Fuß- und Radverkehrs ergeben sich Zielkonflikte für die gemeinsame Führung beider Verkehrsarten. So sind verschiedene Ansprüche der beiden Verkehrsmittelarten nicht oder nur bedingt miteinander vereinbar.

Nutzungsbewertung

Radfahrende bewerten die Verkehrssicherheit und die Nutzungsqualität gemeinsamer Wege häufig positiver als Gehende. Zunehmende Geschwindigkeiten sowie geringe seitliche Abstände der Radfahrenden beim Überholen bergen ein generelles Konfliktpotenzial. Diese Aspekte bestimmen maßgeblich die subjektive Sicherheit der Gehenden, aber auch der Radfahrenden selbst. Derzeit wird davon ausgegangen, dass Überholabstände von unter 1,00 m von Gehenden zunehmend als störend bzw. auch kritisch angesehen werden. (Hantschel et. al., 2019)

Neben den Überholabständen werden aber auch die zunehmenden Geschwindigkeiten im Radverkehr sowohl von den Gehenden, aber auch von den Radfahrenden selbst, kritisch gesehen. So äußerten Befragte auf selbstständigen Wegen für Fuß- und Radverkehr am häufigsten den Wunsch nach Trennung der Verkehrsmittelarten sowie den Wunsch nach mehr gegenseitiger Rücksichtnahme (Hantschel; Gerike; Enke, 2019).

Häufige Konflikte und Interaktionen zwischen Radfahrenden und Gehenden auf selbstständigen Wegen spiegeln sich nur selten im Unfallgeschehen wider. Nationale und internationale Studien weisen bei Alleinunfällen von Radfahrenden sowie bei Unfällen zwischen Fuß- und Radverkehr hohe Unfalldunkelziffern von 70 bis 99,8 % nach (Hautzinger, 1993; Stutts, Williamson; Whitley; Sheldon, 1990).

Flächenbedarf

Sowohl für Radfahrende als auch für Gehende nimmt der Flächenbedarf mit zunehmender Aufenthaltsfunktion eines Weges zu. Eine hohe Aufenthaltsqualität geht einher mit dem Wunsch des Nebeneinanderfahrens oder -gehens. Zwei Radfahrende nebeneinander erfordern dabei einen Verkehrsraum von 2,00 m, mit Anhänger bzw. mehrspurigem Lastenrad 2,30 m (vgl. RASt 06, 2006). Bei Gehenden liegt der Breitenbedarf bei 1,80 m (vgl. RASt 06, 2006). Viele Wege für den Fuß- und Radverkehr im Bestand gewährleisten diese Ansprüche nicht bzw. nur ohne Begegnungs- bzw. Überholsituationen.

Soll Radfahrenden und Gehenden auf gemeinsamen Wegen das Begegnen ohne Beeinträchtigung des Nebeneinanderfahrens und -gehens ermöglicht werden, sind grundsätzlich Wegbreiten ab 4,00 m erforderlich.

Geschwindigkeiten

Die Geschwindigkeitsspektrum im Radverkehr liegt im Wesentlichen im Bereich von ca. 15 km/h bis 25 km/h. Neben Radfahrenden, die langsamer als 15 km/h fahren, gibt es aber auch einen Teil des Radverkehrs mit Geschwindigkeiten, die zum Teil deutlich über 25 km/h liegen.

Zwar reduzieren Radfahrende in Überholsituationen mit Gehenden ihre Geschwindigkeit, dennoch liegen zum Teil noch beträchtliche Differenzgeschwindigkeiten zwischen Gehenden und Radfahrenden vor. Im Mittel werden Gehende auf gemeinsamen (selbstständigen) Wegen mit Geschwindigkeiten von ca. 20 km/h überholt (Hantschel et. al., 2019).

Überholabstände

Bei gemeinsamen Wegen des Fuß- und Radverkehrs steht die Wegbreite (zusammen mit der Fußverkehrsstärke) im engen Zusammenhang mit den Überholabständen des Radverkehrs gegenüber Gehenden. Größere Wegbreiten begünstigen größere Überholabstände und haben so einen positiven Einfluss auf die Bewertung der Verkehrsqualität und -sicherheit der Verkehrsanlage durch die Nutzenden.

Die auf selbstständigen gemeinsamen Wegen für Fuß- und Radverkehr ermittelten durchschnittlichen seitlichen Nettoabstände (Bild 1) zwischen Radfahrenden und Gehenden betragen bei einer Wegbreite bis zu 4,00 m weniger als 1,00 m. Auf schmalen Wegen unter 3,00 m gibt es zudem einen relevanten Anteil (15 %) von Radfahrenden, die Gehende mit weniger als 0,30 m Abstand überholen. Bei Wegen zwischen 3,00 m und 4,00 m liegt dieser Wert bei 0,50 m. (Hantschel et. al., 2019)

Die Überholabstände zwischen Radfahrenden sind im Mittel geringer als beim Überholen von Gehenden.

Bild 1: Verteilung der seitlichen Nettoabstände beim Überholen, Radfahrende überholen Gehende (Hantschel; Gerike; Enke, 2019)

4 Lösungsansätze

Durch zunehmende Radverkehrsstärken und -geschwindigkeiten sowie Abmessungen von Fahrrädern ist eine gemeinsame Führung grundsätzlich nicht mehr zeitgemäß. Eine ausnahmsweise gemeinsame Nutzung straßenbegleitender Wege kann in Gewerbe- und Industriegebieten, dörflichen Ortsdurchfahrten, Siedlungsbereichen mit lockerer Bebauung und Übergangsbereiche zwischen Außerorts- und Innerortsbereichen in Betracht kommen.

Konflikte zwischen den Verkehrsarten lassen sich am besten verhindern, wenn für alle gewünschten Nutzungen ausreichende Flächen zur Verfügung gestellt, unerwünschte Nutzungen verhindert und die bereitgestellten Räume geschützt werden. Das Nutzungsverhalten ist dort, wo dies erforderlich ist, klar zu regeln und durch die bauliche Gestaltung so zu verdeutlichen, dass es sich intuitiv richtig einstellt.

Der getrennten Führung von Fuß- und Radverkehr auf ausreichend breiten Flächen steht häufig der Umgang mit einer begrenzten Flächenverfügbarkeit entgegen. In diesen Fällen müssen deshalb abgewogene Lösungen gefunden werden. Dabei ist allerdings der Einfluss auf die Verkehrssicherheit zu berücksichtigen. Zwischen dem Ausbaustandard und dem Unfallgeschehen besteht ein enger Zusammenhang. Das zumindest ergab eine Untersuchung von selbstständigen Wegen des Fuß- und Radverkehrs (Hantschel et al., 2020). Die baulich getrennte Führung von Gehenden und Radfahrenden, etwa durch einen Grünstreifen, wies dabei das geringste Unfallrisiko auf (Bild 2). Wege mit einer überfahr-/ übergehbaren Trennung (beispielsweise taktile Streifen) bei gleichzeitig schmalen Wegbreiten (insbesondere der Gehwege) sind dagegen unfallauffällig. Denn eine klare Flächenzuweisung suggeriert immer auch einen Nutzungsanspruch der jeweiligen Verkehrsart, so dass Verkehrsteilnehmende ihr Verhalten nicht immer an die jeweils andere Verkehrsart anpassen. Wenn die Wegbreiten den Nutzungsansprüchen nicht genügen, stellt dies im Resultat ein Verkehrssicherheitsdefizit dar (Hantschel et al., 2020). Bereits 1997 wurde auf straßenbegleitenden gemeinsamen Geh- und Radwegen vor allem aufgrund der Geschwindigkeit des Radverkehrs ein erhöhtes Konfliktpotenzial nachgewiesen (Angenendt; Wilken, 1997).

Bild 2: Beispiel für eine baulich getrennte Führung durch einen Grünstreifen (links) und eine überfahr-/ übergehbaren Trennung durch einen taktilen Streifen (rechts) auf selbstständigen Wegen (Foto: Hantschel)

Ob Fuß- und Radverkehr getrennt oder gemeinsam geführt werden sollen oder können, ist immer das Ergebnis eines Abwägungsprozesses für den jeweiligen Einzelfall. Die Vielzahl möglicher örtlicher Randbedingungen, verkehrlicher Besonderheiten und Zwänge erschweren ein generalisiertes Verfahren zur Lösungsfindung. Grundsätzlich ist die Entscheidung abhängig von der Netzbedeutung, der Verkehrsstärke des Rad- und Fußverkehrs, der angestrebten Aufenthaltsqualität und der zeitlichen Verteilung des Freizeitverkehrs (Bild 3).

Abwägungsprozess

Bild 3: Abwägungsprozess zur getrennten und gemeinsamen Führung von Fuß- und Radverkehr im Überblick (Quelle: Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung, Kapitel 5.3.4.1, Stand 2022)

Werden Gehende und Radfahrende dennoch auf gemeinsamen Wegen geführt, resultiert daraus immer eine Minderung der Nutzungs- und Aufenthaltsqualität sowohl für Gehende als auch für Radfahrende. Für die Verkehrssicherheit gemeinsamer Wege entscheidend ist eine ausreichende Flächenverfügbarkeit. Als Verträglichkeitsgrenze der Freigabe von Gehwegen für (langsame) Radfahrende können die in der Tabelle 1 angeführten Werte der EFA 2002 angesetzt werden. Demnach sind maximal 150 Gehende und Radfahrende pro Stunde miteinander verträglich, wobei der Fußverkehr mit einer Stärke von mindestens 100 Gehenden pro Stunde dominieren soll (FGSV, 2002). Nach den ERA und RASt 06 sind beide Verkehrsarten ab einer Verkehrsstärke von 180 Gehenden und Radfahrenden in der Spitzenstunde getrennt zu führen (vgl. FGSV, 2010a; FGSV, 2006).

Tabelle 1: Maximal verträgliche Verkehrsstärken Gehender und Radfahrender in der Spitzenstunde für die Zulassung von Radfahrenden auf Gehwegen (FGSV, 2002)

Eine Untersuchung zu selbstständigen Wegen des Fuß- und Radverkehrs bestätigte die Werte aus EFA und ERA, zeigte aber ein deutlich größeres Spektrum der Verkehrsstärke. Für die Bewertung selbstständiger Wege wurde zudem die Aufenthaltsqualität der Wege für den Fußverkehr hinzugezogen. Da sie das Sicherheitsempfinden Gehender am deutlichsten beeinflussen, wurde das Überholen Gehender durch Radfahrende bzw. der Überholabstand als Maß für die Aufenthaltsqualität angewandt.

  • Für eine hohe Aufenthaltsqualität sollten Fuß- und Radverkehr getrennt voneinander geführt werden.
  • Bei einer mittleren Aufenthaltsqualität werden durchschnittliche Überholabstände von 1,25 m gewährleistet.
  • Für eine geringe Aufenthaltsqualität werden durchschnittliche Überholabstände von 1,00 m gewährleistet.

Demnach können selbstständige Wege bis zu einer Verkehrsstärke von 400 Fußgängern und Radfahrern in der Spitzenstunde als gemeinsame Flächen vorgesehen werden. Allerdings wirken sich diese höheren Verkehrsstärken auch auf die erforderlichen Wegbreiten aus. So werden auf Wegen, die dem Fußverkehr eine mittlere Aufenthaltsqualität gewährleisten sollen bei 400 Gehenden und Radfahrenden in der Spitzenstunde Wegbreiten von 6,50 m erforderlich (Bild 4). Diese Breite ermöglicht allerdings auch die getrennte Führung auf separaten Geh- und Radwegen und einer Trennung mit taktilem Begrenzungsstreifen. Eine bauliche Trennung mit Grünstreifen erfordert lediglich zusätzliche 0,30 m in der Breite.

Bild 4: Bestimmung der verträglichen Fuß- und Radverkehrsstärken sowie der erforderlichen Wegbreite für selbstständige gemeinsame Geh-/Radwege (Quelle: Hantschel et al., 2020)

5 Fazit

Die Führung von Zufußgehenden und Radfahrenden auf gemeinsamen Flächen ist weniger eine Frage von Kapazitäten als vielmehr eine Frage von Qualitäten der Nutzung und des Aufenthalts sowie der Verkehrssicherheit. Eine wichtige Rolle dabei spielt die empfundene (subjektive) Verkehrssicherheit.

Im Fokus der Diskussion, ob eine gemeinsame Führung von Fuß- und Radverkehr möglich ist, müssen folglich zunächst die planerischen Ziele stehen, die mit der Verkehrsanlage verfolgt werden. Dazu lohnt sich eine intensive Auseinandersetzung mit den Nutzungsansprüchen beider Verkehrsarten und der Vereinbarkeit einer gemeinsamen Führung. Das erfolgt oft noch zu selten, gewinnt aber in Anbetracht der Entwicklungen im Bereich der Mobilität von Menschen deutlich an Aktualität.

Literaturverzeichnis

Alrutz, D.; Bohle, W.; Maier, R.; Enke, M.; Pohle, M.; Zimmermann, F. (2015): Einfluss von Radverkehrsaufkommen und Radverkehrsinfrastruktur auf das Unfallgeschehen (Forschungsbericht Nr. 29), Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Unfallforschung der Versicherer, Berlin

Angenendt, W.; Wilken, M. (1997): Gehwege mit Benutzungsmöglichkeiten für Radfahrer, Forschung Straßenbau und Straßenverkehrstechnik, Heft 737, Bundesministerium für Verkehr

Butz, M.; Merkli, C.; Schweizer, T.; Thomas, C. (2007): Fuss- und Veloverkehr auf gemeinsamen Flächen, Empfehlungen für die Eignungsbeurteilung, Einführung, Organisation und Gestaltung von gemeinsamen Flächen in innerörtlichen Situationen, [Hrsg.] Pro Velo Schweiz Fussverkehr Schweiz, Bern/Zürich

Enke, M.; Hantschel, S.; Gerike, R. (2020): NRVP 2020 – Radfahrende und Zufußgehende auf gemeinsamen und getrennten selbstständigen Wegen – Leitfaden für Planer*innen. URL: https:// nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/rad-und-fussverkehr-auf-gemeinsamen-und-getrennten. LISt Gesellschaft für Verkehrswesen und ingenieurtechnische Dienstleistungen mbH. / LISt Gesellschaft für Verkehrswesen und ingenieurtechnische Dienstleistungen mbH, Hainichen

Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen: Empfehlungen der Fußgängerverkehrsanlagen (EFA), Ausgabe 2002, Köln (FGSV 288)

Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen: Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06), Ausgabe 2006 / Korrigierter Nachdruck Mai 2012, Köln (FGSV 200)

Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2010a): Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA), Ausgabe 2010, Köln (FGSV 284)

Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2010b): Hinweise zur Integration der Belange von Kindern in die Verkehrsplanung, Ausgabe 2010, Köln (FGSV 152)

Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen: Hinweisen für barrierefreie Verkehrsanlagen (H BVA), Ausgabe 2017, Köln, (FGSV 212)

Große, C.; Böhmer, J. (2019): NRVP 2020 – Mit dem Rad zum Einkauf in die Innenstadt – Konflikte und Potenziale bei der Öffnung von Fußgängerzonen für den Radverkehr. URL: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/aktuell/nachrichten/oeffnung-von-fussgaengerzonen-fuer-den-radverkehr-0. Fachhochschule Erfurt, Fachrichtung Verkehrs- und Transportwesen. Erfurt.

Hantschel, S.; Enke, M.; Gerike, R. (2020): NRVP 2020 – Radfahrende und Gehende auf gemeinsamen und getrennten selbstständigen Wegen – Verträglichkeit, Verkehrsablauf und Gestaltung (Schlussbericht), URL: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/rad-und-fussverkehr-auf-gemeinsamen-und-getrennten.de. Technische Universität Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Dresden, 2020

Schleinitz, K.; Franke-Bartholdt, L.; Petzoldt, T.; Schwanitz, S.; Gehlert, T.; Kühn, M. (2014): Pedelcnaturalistic cycling study (Forschungsbericht, Nr. 27), Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. Unfallforschung der Versicherer, Berlin