FGSV-Nr. FGSV 001/23
Ort Mannheim
Datum 15.09.2010
Titel Barrierefreie Verkehrsanlagen
Autoren Dr. Dipl.-Geogr. Markus Rebstock
Kategorien Kongress
Einleitung

Die Verankerung von gesetzlichen Vorgaben zur Schaffung barrierefreier Verkehrsanlagen bewirkt, dass Planer und Ingenieure schon beim Planentwurf die Belange von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen müssen. Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG) fordert dabei zwar die barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Verkehrsraumes, konkretisiert diesbezügliche Anforderungen aber nicht. Gleichwohl zu diesem Thema bereits eine umfangreiche Auswahl an Fachliteratur von privaten und öffentlichen Trägern vorliegt, existieren allgemeingültige Vorgaben bis heute nur partiell. Daneben werden auch bestehende Standards kritisch hinterfragt und zum Teil infrage gestellt. Folglich ist die Umsetzung der Barrierefreiheit in der Praxis für Planer und Ingenieure auch nach intensivem Studium der einschlägigen Regelwerke und Normen, u. a. aufgrund der teilweise beachtlichen Abweichungen der Empfehlungen untereinander, ein eher schwieriges Unterfangen. Durch diese fehlenden Leitlinien zur barrierefreien Gestaltung haben Städte, Gemeinden und Straßenbaulastträger in den letzten Jahren unterschiedlichste Lösungsansätze umgesetzt, die zu einer nicht mehr überschaubaren Vielfalt geführt haben. Auch ist es bisher eher selten gelungen, von der barrierefreien Einzellösung zu durchgängig barrierefreien Mobilitätsketten zu gelangen. Die Einführung von funktionalen Standards zum Thema Barrierefreiheit ist – gerade im Hinblick auf die bestehende Gesetzeslage – überfällig. In einem ersten Schritt hat die FGSV alle derzeit konsensfähigen Standards sowie die nach aktuellem Wissensstand für die Herstellung einer weitgehend barrierefreien Umwelt notwendigen Anforderungen in den „Hinweisen für barrierefreie Verkehrsanlagen“ (H BVA) zusammengefasst. Die H BVA behandeln hierbei neben dem Entwurf auch den Prozess zur Planung barrierefreier Verkehrsanlagen.

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1 Rechtliche Grundlagen für die Herstellung von Barrierefreiheit

Auf internationaler Ebene wurde im Jahr 2006 das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) von den Vereinten Nationen (UN) verabschiedet und im Jahr 2008 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. In der UN-Behindertenrechtskonvention wurde vom klassisch-medizinischen Verständnis von Behinderung Abstand genommen und stattdessen betont, dass die Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft im Wesentlichen vom jeweiligen Umfeld abhängt. Demnach führt nicht die Behinderung im medizinischen Sinn selbst zu Barrieren, sondern erst die Wechselwirkungen zwischen individueller Fähigkeit des Einzelnen und der Gestaltung der Umwelt (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen 2009, Präambel, Abschnitt e). Daneben wird unter anderem der volle Zugang für Menschen mit Behinderungen zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt als Bedingung formuliert, um alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen zu können (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen 2009, Präambel, Abschnitt v).

Auf Ebene der EU wird im Zusammenhang mit Barrierefreiheit eher von „Design for All“ oder Accessibility for All“ gesprochen. In unterschiedlichsten Papieren und Richtlinien wird dieser Aspekt behandelt, wobei, neben speziell zum Thema Barrierefreiheit erschienenen Publikationen, die Thematik auch in „Mainstream“-Papieren integriert ist. Beispielhaft genannt werden können die folgenden Veröffentlichungen:

  • 2010: Ein hindernisfreies Europa für Alle (Lenarduzzi 2004),
  • Weißbuch Europäische Verkehrspolitik (Europäische Kommission 2001),
  • Richtlinie 2001/85/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (EU-Busrichtlinie),
  • Richtlinie 2004/17/EC des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie 2004/17/EC),
  • Richtlinie 2004/18/EC des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie 2004/18/EC).

In der Bundesrepublik Deutschland ist im Jahr 1994 mit dem Diskriminierungsverbot

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (GG, Artikel 3, Absatz 3) die grundgesetzliche Basis zur Integration behinderter Menschen in das öffentliche Leben geschaffen worden. Die Regelungen des im Frühjahr 2002 in Kraft getretenen Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) konkretisieren dies, so z. B. durch die Forderung nach Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr (BGG, § 8). Im Gegensatz zur UN-Behindertenrechtskonvention definiert das BGG „Behinderung“ im medizinischen Sinne: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“. (BGG, § 3) Indirekt gefordert wird die Herstellung einer barrierefreien Umwelt auch im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, welches Benachteiligungen u. a. in Bezug zum Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, als unzulässig erklärt (AGG, § 2, Abschnitt 8).

Auf Ebene der Bundesländer wird die Barrierefreiheit durch die Landesgleichstellungsgesetze behinderter Menschen gesetzlich geregelt. Daneben enthalten die Bauordnungen der Länder in der Regel Abschnitte zur Thematik „Barrierefreies Bauen“. Die „Liste der Technischen Baubestimmungen“ ermöglicht die Einführung von DIN-Normen als technische Regeln für die Planung, Bemessung und Konstruktion baulicher Anlagen.

 

2 Instrumente zur Umsetzung von Barrierefreiheit

Die oben genannten gesetzlichen Grundlagen fordern zwar eine „möglichst weitreichende Barrierefreiheit“, enthalten in der Regel aber keine Vorgaben, wie Barrierefreiheit konkret hergestellt werden soll. Zur Präzisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs (vgl. Rebstock 2009, S.108 und BMVBW 2004, S. 268ff.) und zur Umsetzung der Barrierefreiheit gibt es daher unterschiedliche Instrumente:

  • DIN-Normen und -Fachberichte,
  • Planungshandbücher und -leitfäden,
  • Bewusstseinsbildung der Akteure und Meinungsführer (Tagungen, Seminare, …),
  • Zertifikate,
  • Beteiligungsrechte für Behindertenbeiräte, -beauftragte bzw. Verbände von Menschen mit Behinderungen,
  • Klagerecht und Zielvereinbarungen für Verbände von Menschen mit

DIN-Normen und -Fachberichte

Alle einschlägigen DIN-Normen zur Barrierefreiheit sind bzw. werden derzeit fortgeschrieben. So sind die Hochbau-Normen DIN 18024-2, DIN 18025-1 und DIN 18025-2 in den DIN 18040-1 und E-DIN 18040-2 zusammengefasst worden. Die DIN 18024-1 „Barrierefreies Bauen Teil 1: Straßen, Plätze, Wege, öffentliche Verkehrs- und Grünanlagen sowie Spielplätze“ wird derzeit überarbeitet. Daneben ist aktuell die DIN 32975 „Gestaltung visueller Informationen im öffentlichen Raum zur barrierefreien Nutzung“ erschienen und die Fortschreibung der DIN 32984:2000 liegt im Entwurf vor. Zu beachten ist, dass die Anwendung von DIN-Normen nicht unmittelbar verpflichtend ist, die Rechtsverbindlichkeit erfolgt erst mittels landesrechtlicher Einführung z. B. durch Aufnahme in die Liste technischer Baubestimmungen.

Planungshandbücher und -leitfäden

Zum Thema existiert eine umfangreiche Auswahl an Fachliteratur von privaten und öffentlichen Trägern auf unterschiedlichsten Ebenen. Beispielhaft genannt werden können:

  • Europäische Ebene
    • Europäisches Konzept für Zugänglichkeit (EDAD 2005)
    • Leitfaden Bauen für Alle (Build for All-Projektpartner/Info-Handicap 2006),
  • nationale Ebene
    • Reihe „direkt – Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden“ (z. B. Ackermann 2000, BMVBW 2000, BMVBW 1998, BMVBS 2008)
    • Grüne Reihe des Fachgebietes Verkehrswesen, Universität Kaiserslautern (z. B. Rau 1997, Topp 2003)
    • Schriftenreihe des Beauftragten für Menschen mit Behinderungen beim Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit (z. B. Rebstock 2005, Rebstock 2006),
  • Bundesländer
    • Planungsleitfäden für Landesstraßen (z. Hessische Straßen- und Verkehrsverwaltung 2006, Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen 2009),
  • Kommunale Ebene
    • Planungshilfen der Kommunen (z. B. Landeshauptstadt Erfurt – Stadtentwicklungsamt et al. 2004, Stadt Münster 2005).

Es ist festzustellen, dass zum Teil beachtliche Abweichungen der Handbücher und Leitfäden untereinander bestehen, was zu einer nicht mehr überschaubaren Vielfalt geführt hat. Daneben haben Vorhabenträger, Planer, Stadtgestalter, Denkmalschützer und Beauftragte für Menschen mit Behinderungen oftmals unterschiedlichste Vorstellungen zur Umsetzung der Barrierefreiheit. Aber auch die Selbsthilfevereinigungen von Menschen mit Behinderungen vertreten zum Teil keine einheitlichen Lösungen, dies gilt vor allem auch für die lokale Planungsebene (Rebstock 2009, S. 133ff.). Darüber hinaus besteht ein eklatanter Mangel an empirischer Forschung, z. B. zur Ausgestaltung von Bordabsenkungen an Überquerungsstellen oder zur visuellen Kontrastgestaltung im öffentlichen Raum.

 

3 Hinweise für barrierefreie Verkehrsanlagen (H BVA)

Vor dem oben genannten Hintergrund der Vielfalt von Planungshilfen und den unterschiedlichen Vorstellungen der Akteure zur Umsetzung von Barrierefreiheit im öffentlichen Raum hat der Arbeitskreis 2.5.3 „Barrierefreie Verkehrsanlagen“ der FGSV e.V. in einem ersten Schritt alle derzeit konsensfähigen Standards sowie die nach aktuellem Wissensstand für die Herstellung einer weitgehend barrierefreien Umwelt notwendigen Anforderungen in den H BVA zusammengefasst. Die H BVA behandeln hierbei neben dem Entwurf auch den Prozess zur Planung barrierefreier Verkehrsanlagen. Ziel ist, neben der Konkretisierung höherrangiger FGSV-Regelwerke, wie z. B. der RASt 06 (FGSV 2007) oder den EFA (FGSV 2002) im Hinblick auf Barrierefreiheit, insbesondere die Festlegung von Leitlinien und Prinzipien einer barrierefreien Gestaltung von Verkehrsanlagen. Im Folgenden werden ausgewählte Aspekte der barrierefreien Gestaltung von Verkehrsanlagen in der H BVA behandelt:

„Schutzziel-Klausel“

Analog zu den aktuell erschienenen DIN-Normen (vgl. z. B. DIN 18040-1, Kapitel 1) enthält auch die H BVA eine Art „Schutzziel-Klausel“. Danach kann das Ziel einer barrierefreien Verkehrsanlage abweichend von den Vorgaben der H BVA prinzipiell auch auf anderen Wegen erreicht werden. Allerdings kann aus dieser Formulierung kein Freibrief für willkürliche Planungen abgeleitet werden, da die Klausel an die folgenden drei Bedingungen geknüpft ist:

  • Gestaltungs- und Bauvarianten müssen auf lokaler Ebene bereits seit längerer Zeit eingeführt und gebaut worden
  • Gestaltungs- und Bauvarianten erfüllen auch heute noch nachweislich ihren funktionalen Zweck.
  • Gestaltungs- und Bauvarianten stellen von Seiten der Menschen mit Behinderungen eine akzeptierte Lösung

Auch wenn diese drei Bedingungen erfüllt sind, sollte grundsätzlich eine Kontrolle bestehender Standards erfolgen, um auf Basis der Regelwerke, die den aktuellen Stand der Technik darstellen, die Anpassung vorhandener Lösungen zu überprüfen.

Die Schutzziel-Klausel ist nicht unumstritten, wurde aber notwendig, da es Kommunen gibt, die schon seit Jahrzehnten Maßnahmen zur Barrierefreiheit umsetzen und ein Systembruch für die Menschen mit Behinderungen vor Ort keine Verbesserung bringen sondern eher Verwirrung stiften würde. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn eine Kommune bereits seit vielen Jahren einen einheitlich festgelegten Standard für Bodenindikatoren an ÖPNV-Haltestellen baut, dieser Standard nach wie vor funktioniert und von den Menschen mit Behinderungen vor Ort akzeptiert ist, aber von den Vorgaben der H BVA abweicht. Überprüft werden sollte dann aber trotzdem die Detailgestaltung der Bodenindikatorenstruktur, da z. B. bei Leitstreifen im aktuellen Normentwurf die Abstände zwischen den Rippen verändert wurden und dies einfach anpassbar wäre, ohne einen Systembruch vornehmen zu müssen.

3.1 Grobgliederung H BVA

Die H BVA gliedert sich in die fünf Kapitel:

  1. Grundsatz
  2. Prozess der barrierefreien Planung
  3. Entwurf
  4. Begriffsliste
  5. Literaturverzeichnis.

Im Grundsatzkapitel werden die Zielgruppen barrierefreier Verkehrsanlagen, das Planungsund Entwurfsprinzip Design für Alle sowie Konfliktpotenziale und Zielkonflikte behandelt. Diesem Kapitel liegt die Philosophie des Design für Alle zugrunde, welches auf der Erkenntnis fußt, dass Barrierefreiheit „für etwa 10 % der Bevölkerung zwingend erforderlich, für etwa 30 bis 40 % notwendig und für 100 % komfortabel ist“. (Neumann/ Reuber 2004, S.13; vgl. Bild 1).

Im Prozesskapitel werden die bestehenden Instrumente zur Planung, Umsetzung und Förderung barrierefreier Verkehrsanlagen, die Aufstellung eines eigenständigen Planwerks für Barrierefreiheit, der Planungsablauf, die beteiligten Akteure und Möglichkeiten der Partizipation sowie Fragen zu Qualitätsmanagement und Sicherheitsbewertung behandelt. Grundsätzlich ist hierzu festzustellen, dass das Prozess-Kapitel nicht unumstritten ist, da der Arbeitskreis 2.5.3 Teil der Arbeitsgruppe Straßenentwurf ist. Allerdings ist der Arbeitskreis 2.5.3 einerseits in enger Abstimmung mit dem Arbeitskreis 1.1.1 Gender und Mobilität entstanden, andererseits ist die Herstellung der Barrierefreiheit selbst ein Prozess, in dem gemäß den gesetzlichen Vorgaben das planerische Expertenwissen mit dem Erfahrungswissen der Menschen mit Behinderungen vor Ort verzahnt werden muss. Gleichwohl liegt der Schwerpunkt der H BVA auf dem Entwurf (Verhältnis Prozess-Entwurf ~ 1:4).

Bild 1: Design für Alle ist komfortabel für Alle (ergänzt nach: Design for All Foundation 2007, S. 2)

Im Entwurfskapitel werden die Grundlagen für Entwurf und Netzplanung, die Grundanforderungen an die Gestaltung, die Entwurfselemente, Haltestellen und Verknüpfungspunkte des ÖPNV, die Nachrüstung im Bestand, Sondernutzungen und Arbeitsstellen an Straßen, die Straßenraumgestaltung in Anlehnung an das Shared Space-Prinzip sowie der Radverkehr mit Spezialrädern behandelt.

 

3.2        Grundlagen für Entwurf und Netzplanung

In diesem Kapitel werden die Grundmaße der Verkehrsräume mobilitätsbehinderter Menschen, die maximal zulässigen Längs- und Querneigungen, das Zwei-Sinne-Prinzip, die Grundfunktionen barrierefreier Räume sowie Wegeketten und -netze behandelt.

Die Grundfunktionen barrierefreier Räume können dabei wie folgt beschrieben werden:

  • Zonierung (Trennung des Verkehrsraums von Sicherheits-, Verweil- und Wirtschaftsräumen),
  • Nivellierung (Vermeidung von Kanten über 3 cm Höhe),
  • Linierung (Gewährleistung einer durchgehenden taktilen Linienführung),
  • Kontrastierung (Gewährleistung einer visuellen und taktilen Leit- und Warnfunktion).

In Bezug zu barrierefreien Wegeketten und -netzen ist zu beachten, dass eine Mobilitätskette immer nur so gut ist wie ihr schwächstes Glied (Europäische Kommission – Generaldirektion Verkehr 1999, S. 217). Dementsprechend ist auch im Einzelentwurf das jeweilige Umfeld der Maßnahme mit zu berücksichtigen (z. B. gegenüberliegende Überquerungsanlagen/Bordabsenkungen, Existenz von anzuschießenden Bodenindikatoren, Anschluss an ÖPNV-Zugangsstellen und weitere potenzielle Ziele, gegebenenfalls alternative Wege- bzw. ÖPNV-Verbindung). Auch weitergehende Ausstattungselemente wie z. B. Sitzgelegenheiten und Toiletten sind in die Planung im Sinne barrierefreier Wegeketten einzubeziehen. Hilfreich ist diesbezüglich die Erstellung eines „Masterplans für Zugänglichkeit“, welcher die über den Einzelentwurf hinaus gehenden Aspekte festlegt und koordiniert. Dieser Zugänglichkeitsplan kann dabei als eigenständiges Planwerk oder integriert z. B. in einen Gesamtverkehrsplan/Verkehrsmanagementplan erstellt werden.

3.3 Grundanforderungen an die Gestaltung

In diesem Kapitel werden die Anforderungen an die Gliederung öffentlicher Räume, die visuelle Kontrastgestaltung, die Oberflächengestaltung, Bodenindikatoren sowie Städtebau und Denkmalschutz behandelt.

Gliederung öffentlicher Räume und Linienführung

Gemäß des Prinzips der Zonierung (vgl. Kapitel 3.2) sollten Seitenräume, Mischverkehrsflächen und Plätze in Abhängigkeit von der örtlichen Situation gestalterisch gegliedert sein. Dadurch wird die für die Barrierefreiheit notwendige Trennung öffentlicher Räume in Bereiche für die Fortbewegung und Bereiche für Aufenthalt, Möblierung, Parken usw. gewährleistet (Bild 2).

Bild 2: Prinzipskizze Gliederung/Zonierung einer Platzfläche (H BVA – Stand 24. 9. 2010, S. 29)

Zur Gewährleistung der Linienführung ist eine durchgängige Ertastbarkeit des Wegeverlaufes für blinde Menschen erforderlich. Dies setzt das Vorhandensein von Leitlinien im Straßenseitenraum und Kreuzungsbereich sowie auf Plätzen für die Orientierung voraus. In Seitenräumen wird die auf der fahrbahnabgewandten Seite des Gehweges liegende Leitlinie als „innere Leitlinie“ bezeichnet. Diese wird in der Regel durch Gebäudekanten oder taktil erfassbare Elemente markiert (z. B. Rasenkantsteine mit einer Höhe von mindestens 3 cm oder Sockelmauern). Die äußere Leitlinie befindet sich dagegen auf der Fahrbahnseite eines Gehweges im Seitenraum, in der Regel in Form der Bordsteinkante. Innere und äußere Leitlinien können auch durch einen Belagwechsel zwischen dem Verkehrsraum und den Sicherheits-, Verweil- und Wirtschaftsräumen hergestellt werden (Bild 3). Ist keine innere und äußere Leitlinie herstell- bzw. nutzbar, kommt zur Gewährleistung der notwendigen Linierung der Einsatz von speziellen Bodenindikatoren (Leitstreifen) in Betracht.

Bild 3: Leitlinien-Prinzip mit Belagwechsel im Seitenraum (H BVA – Stand 24. 9. 2010, S. 30)

Visuelle Kontrastgestaltung im öffentlichen Raum

Kontrastoptimierung ist überall dort notwendig, wo die Gefahr besteht, dass sehbehinderte Menschen gegen ein Hindernis in ihrem Gehbereich laufen könnten. Das sind z. B. Seitenräume von Straßen, Fußgängerbereiche, verkehrsberuhigte Bereiche oder Plätze. Eine visuell kontrastreiche Kennzeichnung ist erforderlich für vertikale Einbauten und Ausstattungselemente (z. B. Fahrradabstellanlagen, Verkehrszeichenträger, Signalmasten, Leuchten, Poller, Pfosten, Geländer, Werbeträger), horizontale Kanten und Borde (Bordabsenkungen an Querungsstellen, Bus- und Bahnsteigkanten) sowie Treppen, die Erkennbarkeit von Verkehrsräumen für den Fußverkehr und die Abgrenzung von Gehbereichen zu niveaugleichen Verkehrsflächen anderer Verkehrsarten (z. B. Trennung von Geh- und Radwegen).

Oberflächengestaltung

Verkehrsräume für den Fußverkehr sollten eine feste, griffige, ebene und fugenarme bzw. engfugige Oberfläche aufweisen. Sicherheits-, Verweil- und Wirtschaftsräume sollten taktil und visuell kontrastierend vom Verkehrsraum (Gehbereich) abgegrenzt sein (Bild 4).

Bild 4: Unterschiedliche Oberflächenkombination von Verkehrs- und Sicherheitsraum (H BVA – Stand 24. 9. 2010, S. 35)

Bodenindikatoren

Bodenindikatoren übermitteln über spezielle Oberflächenstrukturen und Materialien auf taktilem, akustischem und visuellem Wege Informationen. Sie helfen Menschen, deren Seh-Sinn gestört ist oder fehlt, sich im öffentlichen Raum mittels tastbarer Informationen zu orientieren und Gefahrenstellen zu erkennen, insbesondere wenn alternative Orientierungsmöglichkeiten fehlen. Grundsätzlich sollten Bodenindikatoren sparsam eingesetzt werden, also in der Regel nur dann, wenn keine andere sinnvolle taktile Führung z. B. über die innere und äußere Leitlinie (Bild 3) möglich ist. Durch einen hohen Leuchtdichtekontrast (eventuell ergänzt durch einen Farbkontrast) zum umgebenden Bodenbelag ermöglichen Bodenindikatoren außerdem sehbehinderten Menschen, wichtige visuelle Informationen mit ihrem individuellen Restsehvermögen zu erkennen. Grundlegende Anforderungen an Bodenindikatoren werden in der E-DIN 32984 geregelt.

Städtebauliche Anforderungen und Denkmalschutz

Barrierefreie Gestaltung muss immer auch auf die vorhandene, gewachsene gestalterische Situation, auf städtebauliche Anforderungen und sonstige Gestaltungsziele öffentlicher Räume Rücksicht nehmen. Bei der Entscheidung über Oberflächenbeläge, die eine barrierefreie Benutzung ermöglichen, können auch die örtlich im öffentlichen Straßenraum vorwiegend verwendeten historischen Materialien beachtet werden (Oberflächen und Fassaden). In diesem Zusammenhang sind einheitliche Gestaltungsgrundsätze von großer Bedeutung, die mindestens auf lokaler Ebene klar und eindeutig definiert und mit den Menschen mit Behinderungen Vor Ort abgestimmt sein sollten. Hierbei ist zu beachten, dass die Strukturen eindeutig sind; gleiche Materialien können nicht gegensätzliche Funktionen übernehmen. Daher erfordert die Nutzung der historischen Materialen zur taktilen Informationsübermittlung in der Regel auch die Überprüfung der bisherigen Materialverwendung, um potenzielle Widersprüche in der Semiotik aufzudecken und zu beseitigen.

Zu besonderen Konflikten kann eine barrierefreie Gestaltung in Bereichen mit denkmalgeschützten Objekten führen. Hier sind die rechtlich garantierten Belange von Barrierefreiheit und Denkmalschutz zu beachten und abzuwägen. Beispielsweise kann der Einbau von ebenen und engfugigen Platten in Kopfsteinpflasterflächen, die ähnliche Materialstruktur und – farbe aufweisen, zu einer guten gestalterischen und funktionalen Lösung in einem denkmalgeschützten Altstadtbereich bzw. in städtebaulich sensibler Umgebung führen (Bild 5).

Bild 5: Erschütterungsarme Wegeverbindungen in städtebaulich sensibler Umgebung (H BVA – Stand 24. 9. 2010, S. 48ff.)

Während mit diesen Maßnahmen sowohl die Befahrbarkeit als auch die Tastbarkeit gesichert ist, erfordert ein ausreichender visueller Kontrast allerdings ergänzende Maßnahmen, beispielsweise einen mitlaufenden, kontrastierenden Schmuckstreifen (Bild 6).

Bild 6: Schmuckornament (Mosaikpflaster) als taktiles und optisches Kontrastelement (H BVA – Stand 24. 9. 2010, S. 48)

 

4 Entwurfselemente

In diesem Kapitel werden u. a. Seitenräume und Gehwege, höhengleiche Verkehrsflächen und Fußgängerzonen, Elemente zur Überwindung von Höhenunterschieden, Querungsstellen über Fahrbahnen und Bahnkörper, der ruhende Verkehr, Kreisverkehre, Beleuchtung, Stadtmobiliar sowie Straßen und Wege außerhalb bebauter Gebiete behandelt.

 

5 Ausblick

Die H BVA wurde aktuell vom Arbeitsausschuss 2.5 „Anlagen des Fußgänger- und Radverkehrs“ einstimmig verabschiedet und wurde im November dem Lenkungsausschuss 2 „Straßenentwurf“ vorgelegt. Aller Voraussicht nach kann die H BVA Anfang 2011 erscheinen.

Leider war es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht möglich, ein R 2-Regelwerk im Sinne von FGSV-Empfehlungen zu erstellen, da im Bereich der barrierefreien Verkehrsraumgestaltung von Seiten der auftraggebenden und planenden Akteure unterschiedlichste Vorstellungen in der Umsetzung bestehen sowie diverse Forschungslücken festzustellen sind. Unter Beachtung u. a. der Ergebnisse aus einem Forschungsvorhaben des aktuellen Forschungsprogramms Stadtverkehr (FoPS) des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) ist mittelfristig die Erstellung von Empfehlungen zu Planung, Bau und Betrieb barrierefreier Verkehrsanlagen geplant.

 

6 Literaturverzeichnis

Ackermann, K. et al. (2000): Bürgerfreundliche und behindertengerechte Gestaltung des Niederflur-ÖPNV in historischen Bereichen. – (direkt: Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden) Bd. 55, Bad Homburg v.d.H.

AGG – Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz.– (BGBl. I S. 1897) (BGBl. III 402–40) vom 14. 8. 2006, zuletzt geändert durch Gesetz zur Änderung des Betriebsrentengesetzes und anderer Gesetze vom 2. 12. 2006 (BGBl. I S. 2742, 2745)

Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (2009): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.– alle inklusive! Die neue UN-Konvention – Zwischen Deutschland, Lichtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmte Übersetzung, Berlin

BGG – Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen.– Kurztitel (amtl.): Behindertengleichstellungsgesetz vom 27. 4. 2002, (BGBl. I S. 1467, 1468)1, (BGBl. III 860-9-2), zuletzt geändert durch Verwaltungsvereinfachungsgesetz vom 21.3.2005 (BGBl. I S. 818, 830)

BMVBS – Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2008): Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum für seh- und hörgeschädigte Menschen: Hinweise.– Band 64, Bremerhaven

BMVBW – Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (2004): Auswirkungen des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG) und zur Änderung anderer Gesetze auf die Bereiche Bau und Verkehr.– FE 70.0703/2000, Köln Mainz

BMVBW – Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (1998): Gästefreundliche, behindertengerechte Gestaltung von verkehrlichen und anderen Infrastruktureinrichtungen in Touristikgebieten: ein Handbuch für Planer und Praktiker. – (direkt: Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden) Band 52, Bad Homburg v.d.H.

BMVBW – Bundesministerium Für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (2000): Bürgerfreundliche und behindertengerechte Gestaltung des Straßenraums.– (direkt: Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden) Band 54, 2. Auflage, Bad Homburg v.d.H.

Build for All-Projektpartner/Info-Handicap (2006): Bauen für Alle.– Leitfaden, Luxemburg

Design for All Foundation (2007): Die „Flagge der Städte und Gemeinden für Alle“-Informationsbroschüre, 13 Seiten, Münster

DIN 18024-1 – Deutsches Institut für Normung e. V. (1998): Barrierefreies Bauen Teil 1: Straßen, Plätze, Wege, öffentliche Verkehrs- und Grünanlagen sowie Spielplätze.– Berlin

DIN 18024-2 – Deutsches Institut für Normung e. V. (1998): Barrierefreies Bauen Teil 2: Öffentlich zugängige Gebäude und Arbeitsstätten Planungsgrundlagen.– Berlin

DIN 18025-1 – Deutsches Institut für Normung e. V. (1992): Barrierefreie Wohnungen.– Wohnungen für Rollstuhlbenutzer, Berlin

DIN 18025-2 – Deutsches Institut für Normung e. V. (1992): Barrierefreie Wohnungen.– Planungsgrundlagen, Berlin

DIN 18040-1 – Barrierefreies Bauen – Planung. (2010): Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen – Teil 1: Öffentlich zugängliche Gebäude. – Berlin

DIN 32975 - Deutsches Institut für Normung e. V. (2009): Gestaltung visueller Informationen im öffentlichen Raum zur barrierefreien Nutzung.- November 2009, Berlin

DIN 32984 – Deutsches Institut für Normung e. V. (2000): Bodenindikatoren im öffentlichen Verkehrsraum.– Berlin

E-DIN 18040-2 – Deutsches Institut für Normung e. V. (2008): Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen – Teil 2: Wohnungen. – Juli 2008, Berlin

EDAD – Europäisches Institut Design für Alle in Deutschland e. V./Fürst Donnersmarck-Stiftung zu Berlin (2005): Europäisches Konzept für Zugänglichkeit. – deutschsprachige Version des ECA – European Concept for Accessibility, Berlin u.a.

EU-Busrichtlinie – Richtlinie 2001/85/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über besondere Vorschriften für Fahrzeuge zur Personenbeförderung mit mehr als acht Sitzplätzen außer dem Fahrersitz und zur Änderung der Richtlinien 70/156/EWG und 97/27/EG vom 20. November 2001

Europäische Kommission – Generaldirektion Verkehr (1999): COST 335 – Benutzerfreundliche Eisenbahnsysteme. – Schlussbericht der COST Aktion, Luxemburg

Europäische Kommission (2001): Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft.– Weißbuch, Luxemburg

FGSV – Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2002): Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen (EFA), FGSV 288, Köln

FGSV – Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2007): Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06), FGSV 200, Köln

FGSV – Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (2010): Hinweise für barrierefreie Verkehrsanlagen (HBVA). – Arbeitsausschuss 2.5, Arbeitskreis 2.5.3 Barrierefreie Verkehrsanlagen, Entwurf, Stand 24. 9. 2010, Köln

GG – Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. – Kurztitel: Grundgesetz vom.23. 5. 1949, (BGBl. I S. 1) (BGBl. III 100-1), zuletzt geändert durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c, 143c) vom 28. 8. 2006 (BGBl. I S. 2034)

Hessische Straßen- und Verkehrsverwaltung (2006): Leitfaden unbehinderte Mobilität. (Schriftenreihe der Hessischen Straßen- und Verkehrsverwaltung) Heft 54, Dezember 2006, Wiesbaden

Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen (2009): Leitfaden Barrierefreiheit im Straßenraum, o. O.

Landeshauptstadt Erfurt – Stadtentwicklungsamt et al. (2004): Barrierefreies Bauen in Erfurt – Teil 1: Verkehrsanlagen und öffentliche Wege. – Leitfaden zum Barrierefreien Bauen der Landeshauptstadt, Erfurt

Lenarduzzi, D. et al. (2004): 2010: Ein hindernisfreies Europa für Alle. – Bericht der von der Europäischen Kommission eingesetzten Expertengruppe, http://www.socialdialogue.net/docs/si_key/EU_Access2010_Report_DE.pdf, abgerufen am 24. 9. 2010, Brüssel

Neumann, P.; Reube r, P. (2004): Ökonomische Impulse eines barrierefreien Tourismus für Alle. – Münster

Rau, A. et al. (1997): Mobilitätsbehinderte Menschen im Verkehr. – Fachgebiet Verkehrswesen – Universität Kaiserslautern (Grüne Reihe) Heft 39, Kaiserslautern

Rebstock, M. (2005): Barrierefreie Gestaltung von kleinen und Mini-Kreisverkehrsplätzen.– Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, Erfurt

Rebstock, M. (2006): Barrierefreie Gestaltung von höhengleichen Reisendenübergängen in Bahnhöfen. – Der Beauftragte für Menschen mit Behinderungen beim Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, Erfurt

Rebstock, M. (2009): Instrumente zur Umsetzung der Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr. – Fallstudie zur Anwendbarkeit in ländlich geprägten Tourismusregionen, Erfurt, Trier

Richtlinie 2004/17/EC – des Europäischen Parlaments und des Rates zur Koordinierung des öffentlichen Beschaffungswesens in den Bereichen Wasser, Energieversorgung, Verkehr und Postdienste. – vom 31. März 2004

Richtlinie 2004/18/EC – des Europäischen Parlaments und des Rates zur Koordinierung der Verfahren zur Zuteilung öffentlicher Aufträge über Bauleistungen, Lieferungen und Dienstleistungen. – vom 31. März 2004

Stadt Münster – Sozialamt – Koordinierungsstelle für Behindertenfragen (2005): Checkliste für barrierefreies Bauen. – 3. Auflage, Münster

ThürGIG – Thüringer Gesetz zur Gleichstellung und Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderungen. – vom 16. Dezember 2005

Topp, H. H. (2003): Mobil & barrierefrei planen, bauen, nachrüsten. – (Grüne Reihe) Bd. 58, Kaiserslautern