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1 Einführung
Zu den Verkehrsbeeinflussungsanlagen (VBA) auf Autobahnen zählen in Deutschland laut den aktuellen Richtlinien für Wechselverkehrszeichenanlagen (s. BMV 1997, [1]) die Netzbeeinflussungsanlagen (NBA), die Knotenbeeinflussungsanlagen (KBA), punktuell querschnittsbezogen wirksame Anlagen (QBA) sowie die im vorliegenden Beitrag näher betrachteten Streckenbeeinflussungsanlagen (SBA). Je nach Anlagentyp werden dabei unterschiedliche, spezifische Ziele wie Verkehrsverlagerung, Zuflussregelung oder punktuelle Dämpfung der Geschwindigkeiten verfolgt. Bei SBA sind dies speziell die Harmonisierung des Verkehrsablaufs sowie die Erhöhung der Verkehrssicherheit durch Gefahrenwarnungen etc. (vgl. FGSV 2007, [2]).
Mögliche Fehler in Planung, Bau und Betrieb verhindern jedoch die optimale Erreichung der genannten Ziele. Dabei spielen nicht nur technische Defekte, sondern auch Mängel bei organisatorischen und betrieblichen Prozessen eine Rolle. Mittels eines systematischen Qualitätsmanagements (vgl. KIRSCHFINK/ARETZ 2009, [3]) können entsprechende Fehler vermieden oder zumindest in ihren Auswirkungen abgemildert werden. Dies setzt allerdings voraus, dass Schwachstellen im System zuverlässig erkannt werden. Der vorliegende Beitrag will dabei helfen, indem er ein Modell für die Fehlerfortpflanzung im Lebenszyklus von SBA beschreibt, mit dem zum einen die Auswirkungen von Fehlern auf die verkehrliche Wirksamkeit der Anlagen abgeschätzt werden können. Zum anderen hilft das Modell im Sinne der Diagnose bei der Identifizierung möglicher Fehlerursachen im Fall konkret beobachteter Defizite in den Prozessen einer SBA.
Kapitel 2 beschreibt zunächst ausführlich die Details des Modells bezüglich Aufbau, Struktur und Kalibrierung. Anhand ausgewählter Testfälle erfolgt daraufhin in Kapitel 3 eine Evaluation, aus der sich die wesentlichen Stärken und Schwächen ablesen lassen. Daraus abgeleitet werden schließlich konkrete Handlungsempfehlungen für die Praxis (s. Kapitel 4) beschrieben. Eine Zusammenfassung mit Ausblick in Kapitel 5 rundet den Beitrag ab.
2 Modellierung
Zu den klassischen Aufgaben einer SBA gehören die folgenden acht Funktionen: 1) Stauwarnung, 2) Geschwindigkeitsharmonisierung, 3) Nebelwarnung, 4) Nässewarnung, 5) LKW-Überholverbot, 6) Unfallwarnung, 7) Baustellenwarnung, 8) Glättewarnung.
Sie werden im Folgenden auch als „Top Events“ bezeichnet, weil sie den Endpunkt der Fehlerfortpflanzung im betrachteten Modell darstellen. In diesem Sinne geht es also um die qualitative Abschätzung der Auswirkungen möglicher Fehler in Planung, Bau und Betrieb auf die Erfüllung der genannten Funktionen durch die Anlage.
Hierzu sind zunächst die relevanten Prozesse im Lebenszyklus einer SBA zu identifizieren und hinsichtlich ihrer funktionalen (d.h. sachlogischen) Abhängigkeiten zu beschreiben (s. Abschnitt 2.1). Anschließend können pro Prozess mögliche Fehlerursachen gesammelt und bezüglich ihrer jeweiligen Auftretenswahrscheinlichkeit und Bedeutung bewertet werden (siehe Abschnitt 2.2). Zudem wird die Fehlerverstärkung bzw. -kompensation von einem Prozess hin zum nächsten quantifiziert. Die gesamten Informationen werden schließlich in Form eines sogenannten Bayes’schen Netzes (vgl. CHARNIAK 1991, [4]) zu einem probabilistischen „Qualitätsmodell“ zusammengeführt (siehe Abschnitt 2.3), welches nach geeigneter Aufbereitung und Optimierung die effiziente Berechnung verschiedener Fehlerfortpflanzungsund Diagnoseszenarien ermöglicht.
2.1 Prozessmodell
Die Funktionsweise einer SBA besteht in einem komplexen Zusammenspiel zahlreicher, über verschiedene Systemkomponenten und Hierarchieebenen verteilter Prozesse. Relevante Komponenten sind vor allem die Datenerfassung, Wechselverkehrszeichen (WVZ), Streckenstationen (SSt), Unterzentralen (UZ) sowie die Verkehrsrechnerzentrale (VRZ). Einen detaillierten Überblick hierzu geben die in Deutschland geltenden „Technischen Lieferbedingungen für Streckenstationen (TLS 2012)“ (s. BMVBS 2012, [5]). Unter Berücksichtigung der Lebenszyklusphasen Planung, Bau und Betrieb (vgl. BALMBERGER ET AL. 2014, [6]) ergibt sich somit das in Bild 1 dargestellte Prozessmodell, welches unter anderem basierend auf verschiedenen Literaturquellen (KIRSCHFINK/ARETZ 2009, [3]; BMVBS 2012, [5]; BAST 1999, [7]) erarbeitet wurde.
Bild 1: Prozessmodell einer „Standard-SBA“
Es folgt eine kurze Beschreibung der Prozesse aus Bild 1.
Wirksamkeitsschätzung: Bedarfsermittlung unter Berücksichtigung vorhandener Daten wie Unfalloder Zeitkosten sowie Erfahrungswerte.
Vorentwurfsplanung: Erstellung eines RE-Entwurfs nach vorgegebenen Standards zwecks Genehmigung durch das Bundesverkehrsministerium. Wesentliche Inhalte sind die Kostenermittlung sowie die Abschätzung eines Kosten-Nutzen-Verhältnisses.
Ausführungsplanung: Detailplanung unter Einbeziehung fachlich Beteiligter zur Vorbereitung der Ausschreibung und Auftragsvergabe.
Ausschreibung: Öffentliche Ausschreibung des Bauvorhabens.
Vergabe: Prüfung der Angebote und Beauftragung eines geeigneten Auftragnehmers.
Konfiguration Hardware & Software: Zusammenstellung aller benötigten Hardwareeinheiten (inkl. deren Montage) sowie Konfiguration der Softwareeinheiten.
Bauüberwachung: Überwachung der (technischen) Arbeiten während des Baus inkl. Einhaltung des Terminplans und Kostenfeststellung.
Inbetriebnahme: Prüfung der Anlage und ihrer Komponenten auf Funktionsfähigkeit (Blindbetrieb, Probebetrieb) sowie Aufnahme des operativen Betriebs.
Abnahme: Formale Übergabe der SBA an den Auftraggeber verbunden mit dem Beginn der Laufzeit von Gewährleistungsfristen etc.
Verkehrsdatenerfassung / Erfassung Helligkeit / Erfassung Sichtweiten / Erfassung Niederschlag (Systemkomponente: Datenerfassungsgerät): Erfassung von Verkehrsund Umfelddaten mit jeweils geeigneten Sensoren, z.B. Induktionsschleifen oder Radardetektoren.
Datenaggregation (Systemkomponente: SSt): Aggregation erfasster Einzelfahrzeugdaten zu Kenngrößen je nach konfiguriertem Messintervall.
Kommunikation Inselbus/KRI (Systemkomponente: Inselbus/KRI): Datenübertragung zwischen Unterzentrale und Streckenstation (bidirektional).
Datenübernahme (Systemkomponente: UZ): Gliederung der erfassten Daten nach Funktionsgruppen gemäß TLS 2012 (s. BMVBS 2012, [5]).
Datenaufbereitung (Systemkomponente: UZ): Plausibilitätsprüfung der Daten sowie Berechnung abgeleiteter Kenngrößen.
Datenvermittler (Systemkomponente: UZ): Zuordnung und Weiterleitung der aufbereiteten Daten an die jeweiligen Funktionskomponenten der SBA.
Kommunikation Fernbus (Systemkomponente: Fernbus): Datenübertragung zwischen Verkehrsrechnerzentrale und Unterzentrale (bidirektional).
Manuelle Eingabe vorhersehbarer Ereignisse (Systemkomponente: VRZ): Eingabe von Schaltanforderungen für Baustellen, Veranstaltungen, Ferien etc. durch einen Operator in der VRZ.
Manuelle Eingabe nicht vorhersehbarer Ereignisse (Systemkomponente: VRZ): Eingabe von Schaltanforderungen für Unfälle, Sondertransporte etc. durch einen Operator in der VRZ.
Protokolle & Auswertungen (Systemkomponente: VRZ): Aufbereitung verfügbarer Informationen aus dem System der SBA in Form spezifischer Berichte und anderer Darstellungen.
Übersichtsdarstellung (Systemkomponente: VRZ): Schematische Darstellung des relevanten Autobahnabschnitts mit Lage der SBA inkl. Statusanzeigen bzgl. Verkehrslage, Umfelddaten, aktiven Schaltungen sowie Ereignisund Störungsmeldungen.
Betriebsüberwachung (Systemkomponente: VRZ): Erfassung auftretender, technischer Störungen inkl. Störungsmanagement.
Datenaustausch extern (Systemkomponente: VRZ): Weiterleitung von Daten und/oder generierten Verkehrsmeldungen an Dritte, z.B. Landesmeldestellen (LMSt) oder Verkehrsinformationszentralen (VIZ).
Konfiguration, Parametrierung & Optimierung aus VRZ (Systemkomponente: UZ): Festlegung variabler SBA-Parameter, z.B. Schwellwerte für die Steuerung.
Durchführung Steuerungsalgorithmen (Systemkomponente: UZ): Ermittlung der erforderlichen Schaltanforderungen unter Berücksichtigung möglicher Prioritäten.
Längsabgleich & Querabgleich (Systemkomponente: UZ): Abstimmung der Schaltanforderungen über mehrere Wechselverkehrszeichen und Anzeigequerschnitte hinweg.
Datenaustausch mit SSt (Systemkomponente: UZ): Aufbereitung der Schaltanforderung in Form geeigneter Nachrichtenpakete.
Schaltung (Systemkomponente: SSt): Weitergabe der Schaltbefehle der Unterzentrale über sogenannte Ein-/Ausgabekonzentratoren (EAK).
Anzeige (Systemkomponente: WVZ): Anzeige der entsprechenden Verkehrsvorschriften bzw. Gefahrenwarnungen gemäß StVO am jeweiligen Anzeigequerschnitt.
Wartung & Instandsetzung: Regelmäßige Überprüfung der technischen Komponenten der SBA parallel zum Betrieb sowie bedarfsabhängige Reparatur bei Defekten oder Ausfällen.
Es ist klar ersichtlich, dass zwischen den beschriebenen Prozessen vielfältige Abhängigkeiten bestehen. So können sich zum Beispiel Fehler im Bau genauso wie eine fehlerhafte oder unvollständige Wartung unmittelbar auf viele verschiedene Betriebsprozesse auswirken. Zusätzlich beeinflusst die Datenverarbeitungskette innerhalb der Betriebsphase ganz wesentlich, wie sich mögliche Fehler über die Prozesse hinweg fortpflanzen.
In einem sogenannten Funktionsnetz (s. Bild 2), welches gemeinsam mit einem Expertengremium erarbeitet wurde, sind die im Weiteren modellierten, paarweisen UrsacheWirkungs-Zusammenhänge zwischen den Prozessen aus Bild 1 systematisch erfasst. Fehler wandern im Modell demnach grundsätzlich entlang der Pfade im dargestellten Graph und beeinflussen so letztlich auch die ebenfalls abgebildeten Top Events, d.h. die verkehrliche Wirksamkeit der SBA. Für Details siehe (SCHWIETERING ET AL. 2017, [8]).
Aus Gründen der Modellkomplexität werden im weiteren Verlauf pro Prozess vier einheitlich benannte, jeweils auf das Prozessergebnis bezogene Fehlerzustände betrachtet:
· Keine Funktion („Fehlerart 1“)
· Unvollständige Funktion („Fehlerart 2“)
· Fehlerhafte Funktion („Fehlerart 3“)
· Kein Fehler
Analog wird der verkehrliche Effekt der SBA – differenziert nach Top Events – gemessen an einem nicht näher spezifizierten maximalen Wirkungspotenzial im Modell gemäß der folgenden Abstufung qualitativ beschrieben:
· Maximale Wirkung
· Eingeschränkte Wirkung
· Keine Wirkung
· Negative Wirkung
Die Quantifizierung der Fehlerwahrscheinlichkeiten im Modell sowie die Aufbereitung im Sinne eines „Rechenmodells“ (z.B. für Diagnosezwecke) sind Inhalt der folgenden Abschnitte.
2.2 Fehlerursachen und FMEA
Fehler in den Prozessen einer SBA im Sinne der vier betrachteten Fehlerarten (vgl. Abschnitt 2.1) können in der Regel vielfältige Ursachen haben. Im Rahmen einer systematischen Fehlermöglichkeitsund -einflussanalyse (FMEA, vgl. DGQ 2012, [9]) wurden in diesem Zusammenhang auf Grundlage des Prozessmodells aus Bild 1 insgesamt 280 potentielle Fehlerursachen identifiziert und pro Prozess den möglichen Fehlerarten zugeordnet.
Bild 2: Funktionsnetz zur Beschreibung der Fehlerfortpflanzung in SBA
Im Rahmen eines Expertenworkshops wurden anschließend sämtliche Fehlerursachen hinsichtlich ihrer Auftretens(A) und Entdeckungswahrscheinlichkeiten (E) bewertet, wobei jeweils ein diskreter Punktwert zwischen 1 und 10 vergeben werden konnte. Ein großer (kleiner) Wert A entspricht dabei einer hohen (niedrigen) Auftretenswahrscheinlichkeit. Umgekehrt steht ein großer (kleiner) Wert E definitionsgemäß (vgl. DGQ 2012, [9]) für eine niedrige (hohe) Entdeckungswahrscheinlichkeit. Zusammen mit der Einschätzung der Bedeutung (B) der zugeordneten Fehlerarten in den Prozessen – ebenfalls auf einer Skala von 1 (niedrige Bedeutung) bis 10 (hohe Bedeutung) – konnte so für jede Fehlerursache eine sogenannte Risikoprioritätszahl (RPZ) gemäß
RPZ = B ∙ A ∙ E (1)
(vgl. DGQ 2012, [9]) berechnet werden. Diese erlaubt es beispielsweise, mittels eines Rankings besonders relevante Fehlerursachen zu identifizieren und herauszufiltern, wobei die Ergebnisse aufgrund der teils subjektiv geprägten Vorgehensweise der FMEA natürlich in jedem Fall sorgfältig interpretiert werden müssen.
Bezüglich des Systems SBA stellt sich insbesondere die manuelle Eingabe vorhergesehener und nicht vorhergesehener Ereignisse auf Ebene der VRZ als besonders kritisch dar, da Fehler hier in der Regel nur bedingt erkannt werden und zugleich wegen ihres direkten Einflusses auf sicherheitsrelevante Funktionen wie Baustellenoder Unfallwarnung eine hohe Bedeutung haben. Aber auch andere Prozesse weisen bei den ihnen zugeordneten Fehlerursachen zum Teil hohe Risikoprioritätszahlen auf (vgl. SCHWIETERING ET AL. 2017, [8]).
2.3 Qualitätsmodell
Im Zuge der in Abschnitt 2.2 beschriebenen FMEA werden mögliche Fehlerursachen zunächst nur isoliert voneinander betrachtet und bewertet. Eine detaillierte Erfassung, wie Fehler sich über mehrere Prozesse hinweg fortpflanzen, erfolgt dabei nicht. Genau dies ist jedoch wichtig, um im Fall auftretender Defizite eine systematische Fehlerdiagnose vornehmen zu können. Das im Folgenden entwickelte Qualitätsmodell für SBA quantifiziert daher in Form eines sogenannten Bayes’schen Netzes (vgl. CHARNIAK 1991, [4]) Effekte wie Fehlerverstärkung oder -kompensation zwischen ursächlich voneinander abhängigen Prozessen und ermöglicht damit eine durchgängige Analyse der Fehlerfortpflanzung im Lebenszyklus von SBA.
Grundsätzlich sind Bayes’sche Netze ein mathematisches Konzept, das es erlaubt, stochastische (bzw. kausale) Abhängigkeiten in komplexen Systemen graphisch abzubilden und darauf aufbauend Zustandswahrscheinlichkeiten für alle relevanten Prozesse und Komponenten effizient zu berechnen (vgl. KOLLER/FRIEDMAN 2009, [10]). Anwendungen finden sich zum Beispiel im Bereich der medizinischen Diagnose (vgl. HECKERMAN ET AL. 1992, [11]; HECKERMAN/NATHWANI 1992, [12]), der automatischen Bildverarbeitung (vgl. ZHANG/JI 2011, [13]) oder bei der Analyse technischer Systeme (vgl. KRIEGER 2011, [14]). Der Vorteil von Bayes’schen Netzen ist, dass mit deren konsequenter Fokussierung auf stochastische (d.h. teilweise unscharfe) Zusammenhänge insbesondere auch solche Systeme modelliert werden können, die aufgrund ihrer Komplexität nicht in allen Details exakt beschreibbar sind. Dies unterscheidet sie wesentlich von anderen Ansätzen wie zum Beispiel dem auf Bool’schen Operatoren basierenden Rechenmodell aus (WILTSCHKO 2004, [15]), welches im Übrigen nur eine Fehlerfortpflanzungs-, jedoch keine explizite Diagnoserechnung erlaubt. Zugleich sind Bayes’sche Netze aufgrund ihrer anschaulichen, graphischen Darstellung sehr viel transparenter und damit inhaltlich leichter nachvollziehbar als z.B. der auf neuronalen Netzen basierende Ansatz aus (LAUFER 2011, [16]).
Kernstück eines jeden Bayes’schen Netzes ist ein sogenannter gerichteter, azyklischer Graph mit den als Zufallsvariablen aufgefassten Prozessen und Komponenten des Systems als Netzknoten (vgl. Bild 3). Im konkreten Beispiel sind dies Knoten für die einzelnen Fehlerursachen aus der FMEA (s. Abschnitt 2.2) mit den möglichen Zuständen „Fehlerursache liegt vor“ bzw. „Fehlerursache liegt nicht vor“, ferner Prozessknoten mit jeweils den vier in Abschnitt 2.1 genannten denkbaren Fehlerzuständen sowie analog Knoten für die acht betrachteten Top Events (Wirkungsknoten). Zusätzliche Knoten zur Modellierung der Entdeckung der einzelnen Fehlerursachen sind optional.
Bild 3: Grundschema des Qualitätsmodells
Bild 3 zeigt schematisch die lokale Einbettung eines beliebig gewählten, dem Prozessmodell (s. Bild 1) entnommenen Prozesses Z in das Gesamtmodell. Die Prozesse X und Y sowie der Sonderprozess T entsprechen dabei den Vorgängerprozessen gemäß dem in Bild 2 dargestellten Funktionsnetz. Während Fehler in X und Y hierbei unmittelbar den Fehlerzustand im Knoten Z beeinflussen, wirkt der Sonderprozess T nur indirekt, indem er im Falle eines Fehlers lediglich die Auftretenswahrscheinlichkeiten einzelner, dem Prozess Z zugeordneter Fehlerursachen erhöht, ohne dass diese zwangsläufig eintreten müssen. Sonderprozesse im hier diskutierten Qualitätsmodell für SBA sind konkret die Vergabe, die Bauüberwachung sowie die Wartung & Instandsetzung (vgl. Bild 1). Die gestrichelten Linien oben rechts in Bild 3 deuten dabei an, dass nicht notwendig alle modellierten Fehlerursachen von der genannten Erhöhung der Auftretenswahrscheinlichkeit betroffen sein müssen. Die Anzahl der dargestellten Fehlerursachenknoten ergibt sich ferner unmittelbar aus der FMEA (s. Abschnitt 2.2), wobei im Hinblick auf das finale Modell lediglich noch einmal nach Redundanzen gefiltert wurde. Ob und in welcher Anzahl Top Events oder weitere Prozesse – bzw. deren Fehlerursachen, falls Z ein Sonderprozess ist – vom Prozess Z abhängen (vgl. gestrichelte Linien in Bild 3 unten links), folgt schließlich – ebenso wie die Verbindungen zwischen den Prozessknoten – direkt aus dem zuvor erarbeiteten Funktionsnetz (s. Bild 2).
Zur vollständigen Kalibrierung eines Bayes’schen Netzes mit den Knoten X1,…,Xn sind im Weiteren für alle i = 1,…n die bedingten Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Form P(Xi | Pa(Xi)) anzugeben, wobei Pa(Xi) die Menge der sogenannten Elternknoten von Xi ist, d.h. die Menge aller Knoten, von denen aus ein Pfeil direkt auf Xi zeigt. Natürlich kann Pa(Xi) auch leer sein, falls Xi keine Elternknoten besitzt. Die Verteilung P(Xi | Pa(Xi)) = P(Xi | Ø) entspricht in diesem Fall der Randverteilung P(Xi).
Die n-dimensionale Verbundwahrscheinlichkeitsverteilung P(X1,…,Xn) über alle Knoten des Bayes’schen Netzes berechnet sich dann formal gemäß der sogenannten Kettenregel (vgl. KOLLER/FRIEDMAN 2009, [10]):
P(X1,…,Xn) = ∏i=1,…,n P(Xi | Pa(Xi)). (2)
Gerade für große Dimensionen n ist P(X1,…,Xn) allerdings nur von theoretischem Interesse. Aus praktischer Sicht ist vielmehr wichtig, dass sich sämtliche Verteilungen der Form P(Ω | E) für beliebige, disjunkte Teilmengen Ω,E ⊂ {X1,…,Xn} mit Ω ≠ Ø in der Regel effizient ermitteln lassen. Bezogen auf das im vorliegenden Beitrag vorgestellte Qualitätsmodell bedeutet dies, dass etwa für jeden Prozess aus Bild 1 die Zustandswahrscheinlichkeiten bezüglich der vier betrachteten Fehlerarten (s. Abschnitt 2.1) sowohl im A-priori-Fall (E = Ø) als auch im Fall mit Evidenzen (E ≠ Ø) bestimmt werden können. Evidenz heißt in diesem Zusammenhang, dass die Zustände einzelner Knoten bereits bekannt sind. Dies könnte das Wissen um eine vorliegende Fehlerursache sein, deren Auswirkungen auf nachfolgende Prozesse im Sinne der Fehlerfortpflanzung bestimmt werden sollen. Oder es handelt sich um ein beobachtetes Defizit in der Wirksamkeit der Anlage, für das die wahrscheinlichste Fehlerursache diagnostiziert werden soll.
Die Kalibrierung des Qualitätsmodells basiert schließlich – wie das FMEA-Ranking aus Abschnitt 2.2 – in weiten Teilen auf den Einschätzungen eines Expertengremiums. Tatsächlich fließen bereits die FMEA-Ergebnisse direkt ein, indem unter anderem für die Fehlerursachenknoten im Modell die Punktwerte A (vgl. Abschnitt 2.2) mittels einer geeigneten, nichtlinearen Skala in reell-wertige Auftretenswahrscheinlichkeiten transformiert werden. Hängt die Fehlerursache gemäß dem Schema aus Bild 3 dabei von einem Sonderprozess ab, erhöhen sich ansonsten die Auftretenswahrscheinlichkeiten je nach dessen Fehlerzustand zusätzlich um einen aus Vereinfachungsgründen mehr oder weniger pauschal geschätzten Verstärkungsfaktor (vgl. exemplarisch Tabelle 1).
Tabelle 1: Wahrscheinlichkeitsverteilung der Fehlerursache „Stromausfall“ im Prozess „Manuelle Eingabe vorhersehbarer Ereignisse“ (inkl. Verstärkungsfaktoren)
Etwas komplizierter gestaltet sich die Kalibrierung der verschiedenen Prozessknoten Z im Qualitätsmodell (vgl. Bild 3). Dies hängt damit zusammen, dass die Anzahl der benötigten Parameter für die bedingten Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Form P(X | Pa(X)) exponentiell mit der Anzahl der Elternknoten wächst. Im Fall von Prozessen mit teilweise über 20 Elternknoten ist somit eine direkte Schätzung nicht mehr sinnvoll realisierbar.
Im Rahmen der Kalibrierung wird daher ein sogenannter Noisy-MAX-Ansatz (vgl. TAKIKAWA/D’AMBROSIO 1999, [17]) verwendet, um das Zusammenwirken mehrerer Fehlerursachen auf denselben Prozess zu beschreiben. Der Vorteil ist, dass dadurch anstelle von P(X | Pa(X)) lediglich die wesentlich übersichtlicheren, nach Elternknoten isolierten Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Form P(X | Y) mit Y ∈ Pa(X) bestimmt werden müssen, was die Anzahl zu bestimmender Parameter drastisch reduziert. Insofern Y in diesem Fall ein Fehlerursachenknoten ist, wird ferner angenommen, dass ein Vorliegen der Fehlerursache prinzipiell automatisch die zugeordnete Fehlerart im Prozess X auslöst (vgl. exemplarisch Tabelle 2). Folglich sind nur vergleichsweise wenige Verteilungen der Form P(X | Y) explizit und individuell auf Basis von Expertenwissen zu schätzen (vgl. exemplarisch Tabelle 3).
Tabelle 2: Isolierte Wahrscheinlichkeitsverteilung für den Prozess „Verkehrsdatenerfassung“ in Abhängigkeit des Vorliegens der Fehlerursache „Schleifendraht defekt“
Tabelle 3: Isolierte Wahrscheinlichkeitsverteilung für den Prozess „Längsabgleich & Querabgleich“ in Abhängigkeit des Fehlerzustands im Prozess „Durchführung Steue-rungsalgorithmen“
Der Noisy-MAX-Ansatz bewirkt also, dass zunächst jede Fehlerursache für sich – d.h. nicht erst die Kombination mehrerer Fehlerursachen – zu einem entsprechenden Fehlerzustand im Prozess X führen kann. Zugleich wird angenommen, dass sich bei mehreren zeitgleich vorliegenden Fehlern stets der schwerwiegendste Fehler durchsetzt, wobei die Gewichtung in diesem Fall auf Grundlage der zuvor ermittelten FMEA-Punktwerte B für die Bedeutung der jeweiligen Fehlerarten (s. Abschnitt 2.2) erfolgt.
Den Wirkungsknoten im vorliegenden Qualitätsmodell liegt ein Kalibrierungsansatz zugrunde, der insbesondere die geschätzten Häufigkeiten zu berücksichtigen versucht, dass defekte, unvollständige oder fehlerhafte Anzeigen am WVZ die verschiedenen, zu Beginn von Kapitel 2 beschriebenen SBA-Funktionen (Top Events) beeinträchtigen. Eine detaillierte Darstellung würde an dieser Stelle allerdings zu weit führen. Es wird daher auf die ausführliche Dokumentation in (SCHWIETERING ET AL. 2017, [8]) verwiesen.
Zuletzt sei erwähnt, dass auf die optionalen Entdeckungsknoten im Qualitätsmodell (vgl. Bild 3) aufgrund ihrer untergeordneten Relevanz für die Modellierung der Fehlerfortpflanzung im Lebenszyklus von SBA hier vorerst verzichtet wird. Entsprechende Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Form P(X | Pa(X)) könnten aber leicht aus den im Zuge der FMEA (s. Abschnitt 2.2) geschätzten Entdeckungswahrscheinlichkeiten E abgeleitet werden.
Die technische Realisierung des in finaler Version insgesamt 300 Knoten sowie 526 Kanten umfassenden Qualitätsmodells erfolgt unter Verwendung der für akademische Forschungszwecke kostenlos verfügbaren, ursprünglich an der Universität Pittsburgh entwickelten Software „GeNIe Modeler 2.1“ der Firma BayesFusion, LLC (s. BAYESFUSION 2016, [18]).
3 Evaluation
Im Folgenden sollen die Funktionsweise und der Aussagegehalt des in Abschnitt 2.3 beschriebenen, final optimierten Qualitätsmodells (vgl. SCHWIETERING ET AL. 2017, [8]) demonstriert werden. Dargestellt werden sowohl Rechnungen zur prozessübergreifenden Fehlerfortpflanzung als auch ein konkretes Diagnoseszenario. Die Evaluation beruht dabei in erster Linie auf den qualitativen Einschätzungen der Autoren und des bereits in Kapitel 2 genannten Expertengremiums, ohne dass jedoch echte Messdaten oder Protokolle aus den verschiedenen Lebenszyklusphasen einer realen SBA ausgewertet wurden. Strenggenommen muss also von einem plausibilisierten, qualitativen Modell gesprochen werden.
Tatsächlich zeigen die nachfolgenden Beispiele, dass die Ergebnisse in jedem Fall geeignet interpretiert werden sollten. Gerade bei geringfügigen Variationen der berechneten Fehlerraten ist sorgfältig zu unterscheiden, ob es sich um einen realen Effekt oder lediglich um ein modelltechnisches, durch Vereinfachungen bedingtes Artefakt handelt. Die Entwicklung und der Nachweis eines auch quantitativ korrekten Modells sind natürlich wünschenswert, waren im Rahmen des hier beschriebenen Projekts aufgrund des damit verbundenen Zusatzaufwandes jedoch nicht realisierbar.
3.1 Referenzfall ohne Evidenzen
Bild 4 zeigt zunächst die Zustandswahrscheinlichkeiten der verschiedenen Fehlerarten auf Prozessebene (vgl. Abschnitt 2.1) sowie die zugehörige Einschätzung zur Wirkung der betrachteten SBA für den Fall, dass keine speziellen Fehler oder Wirkungsdefizite bekannt sind.
Leichte Fehlerschwerpunkte sind potentiell in den Lebenszyklusphasen Planung und Bau – vor allem in den Prozessen „Ausschreibung“, „Konfiguration Hardware & Software“ sowie „Inbetriebnahme“ – erkennbar, jedoch werden Fehler hier durch nachfolgende Prozesse oft auch kompensiert. Weitere mögliche Fehlerhäufungen im Sinne fehlerhafter oder unvollständiger Outputs können im Prozess der „Datenaggregation“ – und damit automatisch bei den entsprechenden Folgeprozessen – infolge der Zusammenführung aller vier Datenerfassungsprozesse mit ihren individuellen Fehlerraten in einem Modellknoten (vgl. Funktionsnetz in Bild 2) vermutet werden. Als A-priori-Wahrscheinlichkeit einer fehlerfreien Anzeige ergibt sich ferner ein Wert von 97,3%. Hinsichtlich beispielsweise der maximalen Harmonisierungswirkung stellt sich im Referenzfall ohne Evidenzen ein Prozentwert von 98,8% ein. Gemittelt über alle SBA-Funktionen (Top Events) beträgt der Wert sogar 99,7%.
Bild 4: Fehler- und Wirkungswahrscheinlichkeiten im Referenzfall
3.2 Beispiele zur Fehlerfortpflanzung
Liegt im Weiteren in einem oder mehreren Prozessen ein konkreter Fehler vor, so variieren natürlich auch die in Abschnitt 3.1 gezeigten Zustandsund Wirkungswahrscheinlichkeiten. Bild 5a zeigt die Veränderungen für den Fall einer ungeeigneten Anbringung/Kalibrierung von Detektoreinheiten im Prozess „Konfiguration Hardware & Software“.
Bild 5: a) Änderungen der prozessbezogenen Fehlerwahrscheinlichkeiten sowie der normierten Wirkungswahrscheinlichkeiten (vgl. SCHWIETERING ET AL. 2017, [8]) im Evidenzfall „Ungeeignete Anbringung/Kalibrierung von Detektoreinheiten“ – b) Zustands- und Wirkungswahrscheinlichkeiten im Evidenzfall „Keine Fehler inPlanung und Bau“
Man entnimmt den Modellergebnissen unmittelbar, dass sich der genannte Fehler mit hoher Wahrscheinlichkeit auch über die Inbetriebnahme (à fehlerhafte Inbetriebnahme: 89,4%) hinaus auswirkt. Dabei verteilen sich die Fehlerwahrscheinlichkeiten probabilistisch aufgrund der nicht näheren Spezifizierung des ungeeignet angebrachten bzw. kalibrierten Detektors letztlich auf alle vier Erfassungsprozesse (Verkehrsdaten, Helligkeit, Sichtweiten, Niederschlag), bevor sie im Prozess „Datenaggregation“ wieder zusammengefasst werden. Nach entsprechender Datenaufbereitung (mit eventueller Fehlerkompensation durch Ersatzwertverfahren und Prüfmechanismen) in der Unterzentrale bleibt laut Modell somit eine Gesamtfehlerwahrscheinlichkeit von 38,7% (Summe über alle drei Fehlerarten). Werden die Daten im Prozess „Steuerungsalgorithmen“ anschließend für eine automatische SBA-Schaltung weiterverwendet, so leistet der Längsund Querabgleich auf Ebene der Unterzentrale im günstigsten Fall eine weitere Fehlerkompensation, sodass trotz des zu Beginn unterstellten Fehlers eine Wahrscheinlichkeit von immerhin 74,8% für eine inhaltlich und technisch fehlerfreie Anzeige am entsprechenden Wechselverkehrszeichen berechnet wird. Die induzierten, normierten Wirkungseinbußen (vgl. SCHWIETERING ET AL. 2017, [8]) betragen schließlich zwischen 10 und 20 Prozentpunkte (vgl. untere Abbildung in Bild 5a).
Auf Ebene der Verkehrsrechnerzentrale ist zusätzlich noch zu bemerken, dass auch hier einzelne Prozesse – nämlich solche, die direkt auf den erfassten Daten basieren – durch die angenommene, ungeeignete Anbringung/Kalibrierung von Detektoreinheiten beeinträchtigt sein können. Manuelle Eingabeprozesse sowie die Ergebnisse der Betriebsüberwachung hingegen sind nicht bzw. nur indirekt und in sehr geringem Maße betroffen. Gleiches gilt für die noch nicht genannten Prozesse der Lebenszyklusphasen Planung und Bau.
Ein zweites Beispiel zeigt zugleich die hohe Bedeutung der Prozesse aus Planung und Bau für das optimale Funktionieren einer SBA: Nimmt man im Modell – wie in Bild 5b dargestellt – an, dass Fehler lediglich in der Betriebsphase auftreten, während Planung und Bau der Anlage komplett fehlerfrei ablaufen, so erkennt man in allen Prozessen sehr niedrige Fehlerraten, die zum Teil sogar deutlich unter den Wahrscheinlichkeiten des Referenzfalls (vgl. Abschnitt 3.1) liegen. Im Schnitt ergibt sich jeweils als Summe über alle drei Fehlerarten pro Prozess eine Restfehlerrate von 0,4%. Rein bezogen auf den Betrieb sind es 0,5%. Die Wahrscheinlichkeit einer fehlerfreien Anzeige liegt entsprechend mit 99,5% deutlich über dem Referenzwert von 97,3% aus Abschnitt 3.1. Und auch die durchschnittliche Wirkungswahrscheinlichkeit pro SBA-Funktion liegt übereinstimmend mit 99,9% noch einmal um 0,2 Prozentpunkte über dem ursprünglichen Wert.
Umgekehrt bedeutet dies: Während Fehler im laufenden Betrieb der Anlage durch eine adäquate Wartung und Instandsetzung in der Regel gut aufgefangen werden können, führen Fehlentscheidungen oder Ausführungsmängel in Planung und Bau unter Umständen zu dauerhaften Beeinträchtigungen der Wirksamkeit der SBA, die sich – wenn überhaupt – nur mit großem Aufwand nachträglich „reparieren“ lassen.
3.3 Diagnose von Fehlerursachen
Wie bereits in Abschnitt 2.3 erwähnt, kann das vorliegende Qualitätsmodell nicht nur zur Fehlerfortpflanzungsrechnung eingesetzt werden. Das folgende Beispiel zeigt, wie umgekehrt auch Einschätzungen zu den potentiellen Ursachen bei konkret beobachteten Fehlern im System der Anlage möglich sind. Hierzu sei angenommen, dass die untersuchte SBA zum Betrachtungszeitraum aus unbekannten Gründen keine Harmonisierungswirkung erzielt,
d.h. es sei der gleichlautende Zustand im entsprechenden Wirkungsknoten des Modells als Evidenz gesetzt. Mittels sogenannten diagnostischen Schlussfolgerns (vgl. KOLLER/FRIEDMAN 2009, [10]) können dann Aussagen über die Fehlerraten in den einzelnen SBAProzessen abgeleitet werden.
Bild 6 zeigt in diesem Sinne die berechneten Änderungen der prozessbezogenen Zustandswahrscheinlichkeiten gegenüber dem Referenzfall aus Abschnitt 3.1. Man erkennt den Ausfall der Verkehrsdatenerfassung (91,1% für Fehlerart 1) als sehr wahrscheinliche Ursache für das beobachtete Wirkungsdefizit der Anlage. Dabei ist auch sichtbar, wie sich dieser vermutete Fehler – ähnlich wie im Beispiel aus Bild 5a – unter Berücksichtigung von Fehlerkompensationseffekten probabilistisch wiederum bis hin zum Prozess Anzeige fortpflanzt.
Bild 6: Änderungen der prozessbezogenen Fehlerwahrscheinlichkeiten im Evidenzfall „Keine Harmonisierungswirkung“ (Diagnoseszenario)
Interessant ist ferner die Tatsache, dass das Modell – dem Diagnosegedanken folgend – zusätzlich auch von einer signifikant erhöhten Fehlerwahrscheinlichkeit bei der Wartung und Instandsetzung ausgeht. Dahinter steht die Annahme, dass eine umfassende, frühzeitige und fehlerfreie Wartung den vermeintlichen Ausfall der Verkehrsdatenerfassung möglicherweise hätte vermeiden können. Konsequent geht das Qualitätsmodell sogar noch einen Schritt weiter und leitet aus der erhöhten Wahrscheinlichkeit für eventuelle Wartungsdefizite ab, dass zum Beispiel auch andere Erfassungssysteme (Helligkeit, Sichtweiten, Niederschlag) unter Umständen nicht einwandfrei funktionieren könnten. Insofern ist es am Ende naheliegend anzunehmen, dass eine ausbleibende Harmonisierungswirkung aufgrund gemeinsamer Fehlerursachen indirekt auch auf Wirkungsdefizite bei den übrigen SBAFunktionen hinweisen könnte. Grundsätzlich ist natürlich auch nicht ausgeschlossen, dass bereits Fehler in Planung oder Bau – etwa aufgrund schlecht gewählter Abstände zwischen den Anzeigequerschnitten im Zuge der Ausführungsplanung oder Fehler bei der Errichtung der Anlage im Prozess „Konfiguration Hardware & Software“ – für die ausbleibende Harmonisierungswirkung der Anlage verantwortlich sind (vgl. Bild 6).
Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass das entwickelte Qualitätsmodell prinzipiell in der Lage wäre, Fehlerursachen für beobachtete Defizite natürlich nicht nur auf Ebene der Prozessknoten, sondern sogar bis hin zu konkreten Einzelfehlerursachen zu identifizieren, auch wenn von einer derart detaillierten Aufschlüsselung aufgrund der bisher nur qualitativen Analysen und wegen diverser Vereinfachungen in der bisherigen Modellstruktur eher abzuraten ist. Im Zuge der Weiterentwicklung hin zu einem auch quantitativ präzisen Modell (vgl. Einleitung zu Abschnitt 3) besteht jedoch ein großes Potential unter anderem im Hinblick auf (weitgehend) automatisierte Fehlerdiagnosesysteme für SBA.
4 Anwendungen und Handlungsempfehlungen
Die Ausführungen der bisherigen Kapitel zeigen die trotz verschiedener Vereinfachungen hohe Komplexität der entwickelten Modelle, insbesondere des auf Bayes’schen Netzen basierenden Qualitätsmodells. Um die Ergebnisse möglichst anwendungsnah aufzubereiten, wurde daher auf Grundlage der Ergebnisse der FMEA (vgl. Abschnitt 2.2) einschließlich der dabei ermittelten Entdeckungsund Vermeidungsmaßnahmen sowie unter Einbeziehung des in den Abschnitten 2.3 und 3.1 bis 3.3 ausführlich diskutierten Qualitätsmodells abschließend ein Katalog konkreter Handlungsempfehlungen für die Praxis (s. SCHWIETERING ET AL. 2017, [19]) erstellt. Ziel dieser Zusammenstellung war die praxistaugliche Bündelung geeigneter Maßnahmen zur Reduzierung der Fehlerwahrscheinlichkeiten im Lebenszyklus von SBA, wie sie im Rahmen des Qualitätsmanagements direkt angewendet werden können.
Insgesamt wurden – teilweise prozessübergreifend – drei Handlungsempfehlungen für die Lebenszyklusphase Planung, fünf Handlungsempfehlungen für die Lebenszyklusphase Bau und zwölf Handlungsempfehlungen für die Lebenszyklusphase Betrieb aufgestellt. Alle Maßnahmen wurden übersichtlich beschrieben und im Rahmen einzelner Expertenworkshops hinsichtlich des zu erwartenden Aufwands zur Einführung und Durchführung sowie in Bezug auf ihre geschätzte Effektivität bewertet. Zudem wurde unterschieden, welche Personengruppen (Betreiber von SBA und/oder begleitende Planungsbüros) jeweils an der praktischen Umsetzung unmittelbar beteiligt sind.
Anhand eines konkreten Beispiels soll das Prinzip der Handlungsempfehlungen abschließend kurz skizziert werden. Hierzu sei im Qualitätsmodell zunächst eine „fehlerhafte Plausibilitätsprüfung“ im Prozess „Datenaufbereitung“ unterstellt. Fehlerhaft oder unvollständig erfasste Verkehrsund Umfelddaten werden also – zum Beispiel aufgrund veralteter oder unangepasster Parameter der Datenaufbereitung – nicht korrekt gefiltert bzw. korrigiert. Bild 7a zeigt die rechnerischen Auswirkungen auf die weiteren SBA-Prozesse und die daraus resultierenden Wirkungseinbußen von bis zu 20 Prozentpunkten gegenüber dem Referenzfall aus Abschnitt 3.1. Dabei liefert das Modell – wie man der Graphik entnehmen kann – insbesondere die wichtige Aussage, dass eine unzureichende Wartung mit einiger Wahrscheinlichkeit (49,5% als Summe über alle drei Fehlerarten) den vorliegenden Fehler erklären könnte.
Noch deutlicher wird dieser Effekt, wenn man zusätzlich annimmt, dass auch im Prozess „Konfiguration, Parametrierung & Optimierung aus VRZ“ eine „fehlerhafte Festlegung der Parameter“ vorliegt (s. Bild 7b). Die berechnete Gesamtfehlerwahrscheinlichkeit für den Prozess „Wartung & Instandsetzung“ beträgt in diesem Fall sogar 98,4%. Zugleich ergeben sich Wirkungseinbußen der betrachteten SBA von teilweise bis zu 45 Prozentpunkten. Dies hängt damit zusammen, dass neben den zusätzlichen Fehlern, die sich wegen falscher Parameter etwa bei den Steuerungsalgorithmen ergeben könnten, auch Fehlerkompensationsmechanismen außerhalb des Prozesses der Datenaufbereitung (z.B. im Rahmen des Längsund Querabgleichs) gestört sein könnten.
Bild 7: a) Änderungen der prozessbezogenen Fehlerwahrscheinlichkeiten sowie der normierten Wirkungswahrscheinlichkeiten (vgl. SCHWIETERING ET AL. 2017, [8]) im Evidenzfall „Fehlerhafte Plausibilitätsprüfung“ im Prozess „Datenaufbereitung“ – b) Änderung der Zustands- und Wirkungswahrscheinlichkeiten bei zusätzlich „fehlerhafter Festlegung der Parameter“ im Prozess „Konfiguration, Parametrierung & Optimierung aus VRZ“
Man erkennt somit die hohe Bedeutung gut konfigurierter Verfahrensparameter für die Ausschöpfung des vollen Wirkungspotenzials von SBA, wobei sich ändernde (z.B. verkehrliche oder bauliche) Rahmenbedingungen regelmäßig in der Parametrierung zu berücksichtigen sind. Als Gegenmaßnahme zu veralteten oder fehlerhaften SBA-Parametern kann also eine zyklische Überprüfung durch entsprechend geschultes Personal empfohlen werden. Tabelle 4 skizziert exemplarisch, wie die zugehörige Handlungsempfehlung aussehen könnte. Weitere Handlungsempfehlungen können dem Bericht (SCHWIETERING ET AL. 2017, [19]) entnommen werden.
Tabelle 4: Beispiel einer konkreten Handlungsempfehlung
5 Zusammenfassung und Ausblick
Mit den Ergebnissen der auf dem Prozessmodell aus Abschnitt 2.1 basierenden, systematischen FMEA (s. Abschnitt 2.2), dem probabilistischen Qualitätsmodell zur Analyse der Fehlerfortpflanzung und Ursachendiagnose aus Abschnitt 2.3 sowie den daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen (s. Kapitel 4) liefert der vorliegende Beitrag wichtige Hilfestellungen hinsichtlich der Optimierung des Qualitätsmanagements von SBA. Kritische Prozesse im Lebenszyklus entsprechender Anlagen wurden identifiziert und bezüglich ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten und Auswirkungen quantifiziert.
Dabei konnte insbesondere die grundsätzliche Eignung des mathematischen Konzepts Bayes’scher Netze zur Modellierung der komplexen Zusammenhänge im System einer SBA nachgewiesen werden (vgl. Kapitel 3). Entsprechend ist ein wichtiger Schritt in Bezug auf die praktische Anwendung der theoretischen Überlegungen einer früheren HEUREKA-Publikation (s. NEUMANN 2014, [20]) gelungen. Die auf Basis der FMEA-Ergebnisse und des Qualitätsmodells erarbeiteten Handlungsempfehlungen enthalten zugleich praxisnahe Hinweise für Planung, Bau und Betrieb von SBA. Der detaillierte Forschungsbericht zum hier vorgestellten Projekt (s. SCHWIETERING ET AL. 2017, [8]) skizziert ferner eine Methode zur Abschätzung des Nutzens der verschiedenen Maßnahmen und illustriert anhand eines praxisnahen Beispiels, wie die erforderlichen Investitionen zur Qualitätssicherung begründet werden können.
Zukünftige Arbeiten sollten sich mit der weiteren Optimierung des beschriebenen Qualitätsmodells in Form von Anpassungen der Modelltopologie (vgl. Bild 3) sowie der – soweit möglich – datenbasierten Schätzung der benötigten Modellparameter beschäftigen. Dabei ist zu beachten, dass das Modell im konkreten Anwendungsfall natürlich auch an die spezifischen Eigenschaften der jeweils betrachteten SBA anzupassen ist. Weiteres Potenzial ergibt sich aus der Übertragbarkeit der Ansätze auf andere Typen von Verkehrsbeeinflussungsanlagen (NBA, KBA, QBA).
6 Danksagung
Diesem Bericht liegen Teile der im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, vertreten durch die Bundesanstalt für Straßenwesen, unter FE-Nr. 03.0464/2010/IGB durchgeführten Forschungsarbeit zugrunde. Die Verantwortung für den Inhalt liegt allein beim Autor. Weiterführende Informationen zu den Ergebnissen des Projekts enthält der detaillierte Forschungsbericht (s. SCHWIETERING ET AL. 2017, [8]).
Ein besonderer Dank gilt den Mitgliedern des Betreuerkreises sowie dem Arbeitskreis 3.2.10 „Qualitätsmanagement von VBA“ der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) für deren Beteiligung an der Schätzung der benötigten Modellparameter sowie für die Diskussion diverser Zwischenergebnisse. Frau Dr. Estel hat ferner im Zuge der Erstellung des Prozessmodells (s. Abschnitt 2.1) freundlicherweise einen Einblick in die Prozesslandschaft des Landesbetriebs Straßenbau Nordrhein-Westfalen (Straßen.NRW) ermöglicht.
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[19] SCHWIETERING, C.; NEUMANN, T.; VOLKENHOFF, T.; FAZEKAS, A.; JAKOBS, E.; OESER, M. (2017). Einfluss von Fehlern auf die Qualität von Streckenbeeinflussungsan-lagen. Handlungsempfehlungen. Anlage zum Schlussbericht zum FE 03.0464/2010/IGB der Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach. (in Vorbereitung)
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