FGSV-Nr. FGSV 002/127
Ort online-Konferenz
Datum 13.04.2021
Titel Multi-Agenten-Systeme für die Modellierung der Verkehrsmittelwahl
Autoren Univ.-Prof. Dr.-Ing. Carsten Sommer, Dr. Dipl.-Math. Ramón Briegel
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Multi-Agenten-Systeme bergen ein großes, noch wenig genutztes Potenzial zur Modellierung der Verkehrs­mittel­wahl jenseits der üblichen makroskopischen Modelle, die letztlich auf den Postulaten der voll­ständigen Rationalität und der Nutzen­maximierung beruhen: Indem Ansätze der be­schränkten Rationalität aus unterschiedlichen Disziplinen, insbesondere der Kognitions­wissenschaft und der Verhaltens­ökonomik, interdisziplinär zusammen­geführt werden, kann der Entscheidungs­prozess der Verkehrs­mittel­wahl realitätsnäher abgebildet und die Wirkung von Maßnahmen in dynamischer Perspektive simuliert werden.

Dieser Beitrag gibt zunächst einen kurzen Abriss der entscheidungs­theoretischen Hinter­gründe sowie eine Definition von Multi-Agenten-Systemen (MAS) und eine kurze Darlegung ihrer Einsatz­möglichkeiten insbesondere für die Modellierung und Simulation der Verkehrs­mittel­wahl. Sodann wird die Methodik mit dem Fokus auf dem Spezifikations­bedarf bei der Konzeption eines MAS ausführlich beschrieben. Anschließend wird die Spezifikation für zwei Anwendungs­beispiele konkretisiert; dabei werden Routinen, sozialer Einfluss und Hetero­genität berücksichtigt. Zur Illustration der Leistungs­fähigkeit eines MAS werden einige Simulations­ergebnisse präsentiert. In einem Fazit werden die Chancen und Nachteile der Anwendung von MAS für die Simulation und Prognose der Verkehrs­mittel­wahl zusammen­gefasst.

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1 Einleitung

Multi-Agenten-Systeme (MAS) werden in vielen unterschiedlichen Bereichen von Wissen-schaft und Wirtschaft verwendet (Railsback/Grimm 2011 [1]), so auch im Verkehrswesen. Hierbei ist allerdings zu unterscheiden zwischen der Verwendung von MAS zur mikro-skopischen Simulation des Verkehrsflusses einerseits und zur Modellierung und Simulation der Verkehrsmittelwahl (u.U. inklusive damit eng zusammenhängender Entscheidungen wie z.B. der Planung von Aktivtäten) andererseits; im letztgenannten Anwendungsgebiet ist die Verbreitung von MAS bisher noch begrenzt (z.B. Ciari et al 2009 [2], Mallig et al 2013 [3], Heilig et al 2017 [4]).

Der in der Praxis verbreitete Vier-Stufen-Algorithmus mit seinen Weiterentwicklungen (u.a. Simultanmodelle, Abfahrtszeitwahl) modelliert die mobilitätsbezogenen Entscheidungsprozesse der Menschen nicht explizit und individuell, sondern implizit und aus einer statistischen Perspektive. Dabei werden aus der vorherrschenden Schule der Wirtschaftswissenschaften stammende, starke Rationalitätsannahmen bezüglich der Entscheidungsfindung zu Grunde gelegt (Modell des homo oeconomicus), insbesondere die Annahme vollständiger Information und der Nutzenmaximierung. Diese Annahmen führen zwar zu relativ einfach handhabbaren Modellen, ihr Realitätsbezug ist jedoch umstritten, in ihrem Allgemeingültigkeitsanspruch sind sie sogar empirisch widerlegt (so genannte „Wahlhandlungsanomalien“, die in Wahrheit systematisch auftreten; vgl. Beckenbach 2003b [5]). U.a. aufbauend auf diesen Erkenntnissen sind diverse Konzepte beschränkter Rationalität entwickelt worden (Simon 1999 [6], 2008 [7], Kahneman 2002 [8], Gigerenzer/Selten 2001 [9]).

Für eine realitätsnahe Modellierung und Simulation von Alltagshandeln, somit auch von Verkehrshandeln (Mobilitätsverhalten), spielen dabei verschiedene Arten der Entscheidungs-findung bzw. Handlungssteuerung eine wichtige Rolle, die sich vor allem hinsichtlich des damit verbundenen kognitiven Aufwands wie Informationssuche und verarbeitung unterscheiden; dies kann am Gegensatz zwischen automatisiertem Handeln (Routinen) und reflektiertem Entscheiden und Handeln (bewusste, abwägende Bewertung mehrerer Handlungsoptionen unter verschiedenen Aspekten) illustriert werden. Eine adäquate Modellierung derart differenzierter Entscheidungslogiken ist nur im Rahmen eines akteurs-basierten Ansatzes möglich.

2 Theoretische Hintergründe

2.1 Entscheidungstheorie

Moderne Konzepte beschränkter Rationalität schöpfen aus einer Vielzahl unterschiedlicher Disziplinen und Forschungsansätze; deshalb können hier nur exemplarisch Quellen genannt werden. Grundlegend sind die Arbeiten Herbert Simons (1955 [10], 1999 [6]) sowie die systematische Erforschung der so genannten „Wahlhandlungsanomalien“ (u.a. Kahneman et al 1991 [11], Gigerenzer/Selten 2001 [9]). Die Entstehung und Verbreitung von Innovationen wurde vor allem durch Rogers (2003) [12] und Valente (1995) [13] untersucht. Unterschiedliche Arten der Entscheidungsfindung werden mit Fokus auf den dafür jeweils nötigen kognitiven Aufwand in Svenson (1990 [14]) und Jungermann (1998 [15]) beleuchtet. Für die empirisch basierte Erklärung von Alltagshandeln und speziell Mobilitätsverhalten wurden die Theorie des Geplanten Verhaltens und deren Weiterentwicklung zum Reasoned Action Approach vielfach erfolgreich angewandt (Ajzen 1991 [16], 2005 [17], Bamberg/Schmidt 2003 [18]). Die Rolle von Routinen im Mobilitätsverhalten wurde – teilweise in Verbindung mit der Theorie des Geplanten Verhaltens – u.a. durch Verplanken et al (1997) [19], Lanzendorf (2001) [20], Gärling/Axhausen 2003 [21], Bamberg/Rölle/Weber 2003 [22] und Beckenbach et al (2009) [23] untersucht. Für die akteursbasierte Modellierung und Simulation von Konsum und Mobilitätsverhalten nutzbar gemacht wurden diese Ansätze inklusive sozialer Einflüsse insbesondere von Jager (Jager 2000 [24], Jager et al 2014 [25]), Beckenbach (2003a) [26] und Briegel (2006) [27].

2.2 Multi-Agenten-Systeme

Ein Multi-Agenten-System (MAS) ist eine Computerprogramm, mit dem die Entscheidungs-prozesse und das Handeln realer Akteure simuliert werden, indem diese Akteure durch Softwaremodule – die so genannten Agenten – abgebildet werden, die fähig sind, autonom zu handeln, d.h. Informationen zu verarbeiten und nach gewissen Regeln Entscheidungen zu treffen. Die Agenten sind in eine Umwelt eingebettet und können sowohl mit dieser als auch untereinander interagieren (Ferber 2001 [28], Gilbert/Troitzsch 2005 [29], Railsback/Grimm 2011 [1]). Die von den Agenten repräsentierten Akteure können z.B. Privatpersonen, Haushalte oder Unternehmen sein. Weitgehend synonym wird auch von akteurs- oder agentenbasierter Modellierung bzw. Simulation (ABM/ABS) gesprochen.

MAS werden eingesetzt, um das Verhalten komplexer sozialer Systeme zu untersuchen, und zwar sowohl deren Eigendynamik als auch ihre Reaktion auf externe Einflüsse. Insbesondere erlauben MAS Experimente, die in der Realität nicht ohne Weiteres durchgeführt werden könnten, z.B. eine Analyse und Abschätzung der Wirkung politischer Maßnahmen oder sozialer Interventionen durch Simulationen, bevor über die Einführung von Maßnahmen in der Realität entschieden wird. Dabei können Interaktionen der Akteure berücksichtigt werden, was bei aggregierten Modellen nicht möglich ist. Die Heterogenität der Akteure kann differenzierter abgebildet werden, als dies etwa bei Personengruppenmodellen geschieht, die das Verhalten ganzer Kollektive durch mathematische Gleichungen zu beschreiben versuchen.

3 Methodik

3.1 Spezifizierung der Modellstruktur und der Agentenarchitektur

3.1.1 Überblick

Bei der Konzeption eines MAS sind diverse Grundstrukturen des Modells und insbesondere die interne Architektur der Agenten zu spezifizieren, vor allem der (i.A. mehrstufige) Ablauf des Entscheidungsprozesses, die Einflussfaktoren und die jeweilige Art ihres Einflusses. Zur Beschreibung und Dokumentation agentenbasierter Modelle existiert ein Protokoll (Müller et al 2013 [30]), das auch schon bei der Erarbeitung eines Modellkonzepts als eine Art Leitfaden hilfreich sein kann. Grob gesprochen sind die internen Strukturen der Agenten und ihre Fähigkeiten, die Struktur ihrer Umwelt sowie die Interaktionen zwischen den Agenten untereinander und zwischen den Agenten und der Umwelt zu beschreiben. Ausgehend von der Überlegung, welchem generellen Zweck das Modell dienen soll, welche Forschungsfragen bearbeitet werden sollen und was das Modell genau leisten soll, werden im Folgenden die wesentlichen zu spezifizierenden Elemente aufgeführt (ohne Anspruch auf Vollständigkeit!). Anschließend werden die wichtigsten Elemente detaillierter beleuchtet.

• Welche Arten von Agenten gibt es? Woraus besteht die abzubildende Umwelt der Agenten?

• Durch welche Attribute/Zustandsvariablen werden Agenten und Umwelt beschrieben?

• Wie wird der Raum im Modell abgebildet? (Siedlungen, Verkehrsnetze, Distanzmessung…)

• Welche externen Einflüsse gibt es? Welche Maßnahmen sollen simuliert werden?

• Über welche Handlungsoptionen und welche kognitiven Fähigkeiten verfügen die Agenten? Welche(s) Entscheidungsmodell(e) wird/werden zu Grunde gelegt? In welchen Stufen läuft der Entscheidungsprozess ab?

• Über welche Informationen verfügen die Agenten? Welche Eigenschaften/Zustandsvariablen der Umwelt und anderer Agenten können die Agenten wahrnehmen?

• Welche Ziele verfolgen die Agenten? Anhand welcher Merkmale bewerten sie Handlungsoptionen? Wie wird daraus eine Gesamtbewertung gebildet?

• Welche äußeren und inneren Faktoren beeinflussen den Entscheidungsprozess?

• Können Agenten lernen oder sich in sonstiger Weise an sich verändernde Umweltbedingungen anpassen? Wenn ja, wie?

• In welcher Art interagieren Agenten miteinander und mit ihrer Umwelt? Gibt es soziale Einflüsse? Gibt es Netzwerke zwischen den Agenten, und welche Rolle spielen sie?

• Welche empirischen Daten werden benötigt, welche stehen zur Verfügung bzw. können erhoben werden?

3.1.2 Entscheidungsmodi/Handlungsmodi

Für eine realistische, kognitions¬psychologisch fundierte Modellierung menschlicher Entscheidungsprozesse mit dynamischer Perspektive sollte berücksichtigt werden, dass Menschen abhängig von ihrer äußeren und inneren Situation unterschiedlich viel kognitiven Aufwand treiben, um zu einer Entscheidung und einer Handlung zu kommen (Jungermann 1998 [15], Svenson 1990 [14], Jager 2000 [24], Beckenbach 2003a [26]): Sie nehmen unterschiedliche und unterschiedlich viel Informationen auf, verarbeiten diese in unterschiedlicher Weise und unterschiedlich tief, wenden unterschiedliche Entscheidungsregeln an etc. Eine in solcher Hinsicht charakterisierte Art der Entscheidungsfindung wird ein Entscheidungsmodus oder auch Handlungsmodus genannt. Die der eigentlichen Entscheidung vorgelagerte Selektion bzw. Aktivierung eines bestimmten Handlungsmodus geschieht i.d.R. unbewusst; diese „Meta-Handlungssteuerung“ geschieht so, dass der Handlungsmodus mit dem geringsten kognitiven Aufwand aktiviert wird, der noch ausreicht, um den Anforderungen der Situation gerecht zu werden (Prinzip der „kognitiven Ökonomisierung“). Daher ist der Handlungsmodus mit dem geringsten kognitiven Aufwand, das Routinehandeln, der Normalfall: Hierbei wird durch einige wenige, einfach zu erfassende Situationsmerkmale ohne weitere Informationsverarbeitung eine Handlungskonsequenz ausgelöst, die dann automatisiert ausgeführt wird. Für die Aktivierung eines kognitiv aufwendigeren Handlungsmodus bedarf es eines spezifischen Auslösers („Triggers“).Der Handlungsmodus kann aber im Verlauf des Entscheidungsprozesses auch (bewusst) gewechselt werden, etwa, wenn die Person bemerkt, dass der bisherige Handlungsmodus nicht ausreicht, um die aktuellen Ziele zu erreichen. Das Spektrum der Handlungsmodi kann unterschiedlich fein differenziert werden; für die agentenbasierte Modellierung ist eine Anzahl von zwei bis vier Modi zweckmäßig, um sowohl Unter- als auch Überkomplexität zu vermeiden. Je nach Anwendungskontext und theoretischem Hintergrund ist hier eine Auswahl zu treffen. Für jeden zu berücksichtigenden Handlungsmodus ist dann ein Teilmodell zu spezifizieren; diese Teilmodelle können dann in einem übergreifenden Metamodell integriert werden. Dazu sind die Bedingungen (Trigger) für die Aktivierung der einzelnen Handlungsmodi zu spezifizieren. Beispiele für Trigger sind: aktuelle Nichtverfügbarkeit der Routineoption, Änderung der Lebenssituation wie Umzug, Geburt eines Kindes, neue gesundheitliche Einschränkung, soziale Kommunikation.

Ein Gegenstück zum Routinehandeln stellt das Wahlhandeln (Deliberation) dar, das den klassischen Annahmen vollständiger Rationalität noch am nächsten kommt: Hier findet eine bewusste Bewertung unterschiedlicher Handlungsoptionen mit einer Abwägung verschiedener Aspekte statt (siehe folgenden Abschnitt). Auch hier sind aber bei der Spezifizierung Einschränkungen der Annahmen vollständiger Rationalität zu bedenken, etwa was die Berücksichtigung aller denkbaren Handlungskonsequenzen und die Verfügbarkeit und Korrektheit von Informationen angeht. Beispielsweise kann die Bewertung von Handlungsoptionen auf Basis subjektiver Einstellungen anstelle objektiver Merkmale erfolgen. Weitere Beispiele für Handlungsmodi sind Imitation (Übernahme des Verhaltens anderer Agenten) und Adoptionshandeln (Suche nach Informationen über neue Handlungsoptionen, ggf. Übernahme einer Neuerung).

3.1.3 Bewertung der Handlungsoptionen, Selektionsmechanismus

Im Falle des Wahlhandelns ist zu spezifizieren, wie viele und welche Ziele die Agenten verfolgen und welche Merkmale der Handlungsoptionen (Mobilitätsoptionen) sie dafür als relevant erachten. Des Weiteren ist zu klären, wie die Bewertungen in den einzelnen Dimensionen (Partialnutzen) zu einer Gesamtbewertung verknüpft werden. Die einzelnen Ziele bzw. Merkmale können hier mit unterschiedlichen Gewichten oder Prioritäten versehen sein; dies ist für den Umgang mit Zielkonflikten entscheidend. Beispielsweise können die Einzelbewertungen jeweils mit einem bestimmten Merkmalsgewicht multipliziert und anschließend die Produkte additiv aggregiert werden (multiattributiver Nutzen); eine andere Möglichkeit ist, die Entscheidung zunächst nur von der Bewertung in der wichtigsten Dimension abhängig zu machen und nur bei Gleichheit zweier Handlungsoptionen in dieser Hinsicht zur nächstwichtigsten Dimension überzugehen usw. (lexikographische Entscheidungsregel).

Einer Gesamtbewertung aller zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen kann eine Vorauswahl vorgeschaltet sein, bei der jede Handlungsoption ausgeschlossen wird, die in mindestens einer Dimension einen merkmalsspezifischen Schwellenwert (Anspruchsniveau, Mindestanforderung) unterschreitet (Eliminationsregel).

3.1.4 Interaktion / sozialer Einfluss

Menschliche Entscheidungen werden oftmals durch soziale Einflüsse mitbestimmt, z.B. durch das Handeln von Familien- und Haushaltsmitgliedern, Bekannten und Freunden sowie internalisierte soziale Normen. Hierbei spielen (reale und virtuelle) soziale Netzwerke oftmals eine wichtige Rolle. Bei der Konzeption eines MAS ist zu spezifizieren, in welcher Weise soziale Einflüsse auf den Entscheidungsprozess der Agenten wirken; ggf. auch, welche Rolle dabei soziale Netzwerke spielen, wie diese initialisiert werden und welcher Dynamik sie unterliegen. Beispielsweise können soziale Einflüsse auf die Handlungsmodusselektion wirken oder auf die Bewertung von Handlungsoptionen.

3.2 Datenanforderungen

Wie die vorangegangenen Abschnitte erahnen lassen, sind die Anforderungen an empirische Daten je nach Komplexität und Detaillierungsgrad des Modellkonzepts bzw. der Agentenarchitektur sehr umfangreich. Dies stellt oft ein ernstes Problem bei der empirischen Fundierung eines MAS dar, da eine zu lange Dauer von Befragungen an Grenzen der Akzeptanz stößt. Außerdem treten methodische bzw. erkenntnistheoretische Probleme bei der Erfassung unbewusster Prozesse (z.B. zur Handlungsmodusselektion) auf, die i.d.R. nicht durch direkte Befragung erfasst werden können. Bei der Kalibrierung sollten die Daten zwecks Abbildung der Heterogenität der Agenten in möglichst disaggregierter Form eingespeist werden. Vorhandene empirische Daten aus anderen Quellen können dabei nicht ohne Weiteres genutzt werden, da die Verknüpfung der Daten über die einzelnen Personen fehlt und damit Korrelationen zwischen Variablen nicht erfasst werden können. Ein Ansatz zur Lösung dieses Problems ist das Statistische Matching: Wenn Rohdaten aus zwei Befragungen mit einigen gemeinsamen Variablen vorliegen, können die einzelnen Befragten anhand von Ähnlichkeiten in den gemeinsamen Variablen einander zugeordnet werden.

Eine weitere Schwierigkeit liegt darin begründet, dass zur Kalibrierung eines MAS hinsichtlich der Wirkung von Maßnahmen stated-preference-Befragungen notwendig sind; inwieweit Aussagen zu hypothetischem Verhalten zu validen Prognosen führen, ist jedoch umstritten.

Bei der Kalibrierung eines MAS wird versucht, die Lücken in der empirischen Fundierung zu füllen, indem die Werte von Modellparametern, die nicht direkt empirisch fundiert sind, so eingestellt werden, dass die Ergebnisgrößen eines Simulationslaufs möglichst gut mit Ergebnissen von Erhebungen in der Realität (z.B. Haushaltsbefragungen zum Mobilitätsverhalten) übereinstimmen. Um auch die dynamischen Aspekte des Modells (z.B. Reaktionsgeschwindigkeit auf Veränderungen der Rahmenbedingungen) kalibrieren zu können, sollte möglichst eine Zeitreihe oder zumindest Erhebungen zu zwei verschiedenen Zeitpunkten vorliegen.

3.3 Implementation

Aufgrund der großen Spielräume bei der Modellspezifikation inklusive tief gehender qualitativer bzw. struktureller Unterschiede sowie tendenziell großer Komplexität existiert keine Software, die für alle Spezifikationen und Agentenarchitekturen geeignet ist. Letztlich bietet sich deshalb die Programmierung in einer höheren Programmiersprache wie z.B. Java an, wobei fallweise existierende Software-Bibliotheken wie z.B. Repast verwendet werden können.

4 Anwendungsbeispiele

4.1 Ridesharing im ländlichen Raum (Forschungsprojekt GetMobil)

4.1.1 Kurzbeschreibung des Projekts

Dieser Abschnitt basiert auf dem vom BMBF geförderten Forschungsprojekt „Geteilte und vernetzte Mobilitätsdienstleistungen – Initialisierung, Implementierung, Wirkung und Propagierung unter besonderer Berücksichtigung des ländlichen Raums“ (GetMobil). Angesichts des oftmals unzureichenden Angebots im klassischen ÖPNV im ländlichen Raum und des demographischen Wandels stellt sich die Frage, wie für Menschen, die über keinen Pkw verfügen, zu akzeptablen gesellschaftlichen und individuellen Kosten soziale Teilhabe sicher gestellt oder ermöglicht werden kann. Dies wird bislang in vielen ländlichen Regionen abseits der Verkehrsachsen durch flexible Angebotsformen (Sommer et al [31]) gewährleistet, was mit relativ hohen spezifischen Kosten verbunden ist. Das Projekt GetMobil untersuchte vor diesem Hintergrund, inwieweit ein mit dem klassischen ÖPNV verknüpftes Ridesharing-System in der Lage ist, eine ähnliche Angebotsqualität zu geringeren Kosten (oder eine höhere Qualität zu gleichen Kosten) bereit zu stellen. Darüber hinaus bietet Ridesharing theoretisch die Möglichkeit, Autofahrten mit ihren negativen externen Effekten einzusparen, indem zwei oder mehr Personen gemeinsam in einem Auto fahren, auch wenn alle über einen Pkw verfügen. Hier ist die Frage, wie groß das Einsparpotenzial ist. Für beide Fragen kommt es auf die Mitnahmebereitschaft der Menschen, die über einen Pkw verfügen, an; für die zweite Frage auch auf die Mitfahrbereitschaft (trotz eigener Pkw-Verfügbarkeit).

Der Nordhessische Verkehrsverbund hat 2013 in vier ländlichen Gemeinden ein derartiges mit dem ÖPNV verknüpftes Ridesharing-System namens „Mobilfalt“ eingeführt (Schmitt 2018 [32]). Dabei können Fahrten nur zu im Fahrplan festgelegten Strecken bzw. Richtungsbändern und Zeiten angeboten bzw. gebucht werden. Mitfahrende zahlen dabei den regulären ÖPNV-Tarif, Fahrtanbietende bekommen (für die Fahrten, auf denen tatsächlich jemand mitfährt) eine Mitnahmezahlung (Kostenerstattung) von 30 ct/km. Mobilfalt bietet den Fahrtnachfragenden eine Mobilitätsgarantie, d.h. wenn zu der gewünschten Zeit auf der gewünschten Strecke kein Fahrtangebot einer Privatperson vorliegt, wird der Fahrgast zum regulären ÖPNV-Tarif durch ein Taxi befördert. Mobilfalt leidet jedoch darunter, dass bislang nur ein sehr kleiner Teil (ca. 2 %) der Fahrtnachfragen durch private Fahrtangebote befriedigt werden kann, da es nur sehr wenige Fahrtanbietende bzw. Fahrtangebote gibt. Die Anzahl der Fahrtnachfragen ist zwar deutlich höher, aber für nennenswerten Einspareffekt an Autofahrten dennoch unzureichend.

Vor diesem Hintergrund untersuchte das Projekt GetMobil in zwei Befragungen einerseits Einstellungen zu Ridesharing allgemein sowie Hinderungsgründe und Treiber für die (aktive) Teilnahme an Mobilfalt (Daskalakis et al 2019 [33]), andererseits das Mobilitätsverhalten mittels Wegetagebüchern (Harz et al 2019 [34]).

Mit Hilfe eines MAS wurden dann insbesondere folgende Fragen untersucht:

• Wie kann die Beteiligung an Mobilfalt insgesamt gefördert werden?

• Insbesondere: Welche Maßnahmen sind am ehesten geeignet, mehr Fahrtanbietende bzw. Fahrt¬angebote zu gewinnen und somit den Anteil der Fahrtnachfragen zu steigern, der durch private Fahrtangebote befriedigt wird?

• Wie groß ist das Potenzial? Eine ausführlichere Darstellung findet sich in Briegel et al 2019 [35].

4.1.2 Spezifikation des Modells

4.1.2.1 Handlungsoptionen

Da die (einmalige) Registrierung bei Mobilfalt eine notwendige Voraussetzung ist, um Fahrten buchen oder anbieten zu können, sind zwei Entscheidungsebenen zu betrachten: Die Entscheidung über die Registrierung, bei der es um eine grundsätzliche, längerfristige Erweiterung der Mobilitätsoptionen geht, und die Entscheidung über die zu nutzende Mobilitätsoption für einen einzelnen Weg. Bei beiden Entscheidungsebenen ist zwischen den beiden Ridesharing-Optionen „Mitfahren“ und „Fahrt anbieten“ zu unterscheiden.

Wenn alle Agenten ihre Einzelweg-Entscheidungen getroffen haben, findet das Matching statt, d.h. es wird geprüft, welche Fahrtangebote und -nachfragen räumlich und zeitlich zueinander passen. Für Fahrtnachfragen ohne passendes Angebot tritt dann die Ersatzbeförderung mit dem Taxi ein, ein Fahrtangebot ohne passende Nachfrage wird zu einer Pkw-Alleinfahrt.

4.1.2.2 Bewertungskriterien der Agenten

Ausgehend von dem theoretischen Ansatz der Theorie des geplanten Verhaltens bzw. des Reasoned Action Approach wird davon ausgegangen, dass die Entscheidung zwischen verschiedenen Mobilitätsoptionen durch die drei folgenden Gruppen von Einflussfaktoren bestimmt wird:

• Einstellungen zu Ridesharing insgesamt und hinsichtlich einzelner Merkmale,

• wahrgenommene Merkmale der Fahrt (Fahrtkosten, Reisezeit),

• soziale Norm,

• wahrgenommene Verhaltenskontrolle (Möglichkeit, das betreffende Verhalten tatsächlich durchzuführen).

Bei den Einstellungen werden folgende einzelnen Merkmale berücksichtigt: Fahrtkosten, Reisezeit, zeitliche Flexibilität, Wunsch zu helfen (Prosozialität), Wunsch nach Kontakt, Umweltschutz, Entlastung von der Notwendigkeit, selbst fahren zu müssen, Privatheit, Leichtigkeit der Buchung, Bestehen einer Versicherung. Die soziale Norm wird durch den Anteil der Bekannten und Freunde, die die jeweilige Mobilitätsoption nutzen, operationalisiert.

4.1.2.3 Handlungsmodi

Es werden zwei Handlungsmodi implementiert: Routinehandeln und Adoptionshandeln (Erwägung, eine der beiden Ridesharing-Optionen als eine neuen Handlungsoption an-zunehmen). Als Auslöser für Adoptions¬handeln kommen in Frage:

• Soziale Kommunikation

• Nichtverfügbarkeit der Routineoption

• Unzufriedenheit

• Interventionen

4.1.3 Empirische Fundierung und Kalibrierung

Zur Erzeugung der Agentenpopulation werden aus jedem Befragten aus der ersten der beiden in Abschnitt 4.1.1 erwähnten Befragungen (Daskalakis et al 2019 [33]) mehrere Agenten erzeugt, deren Attribute entsprechend den Antworten des Befragten gesetzt werden. Die Anzahl der jeweils aus einem Befragten erzeugten Agenten wird dabei mittels üblicher Verfahren zur Hochrechnung nach demographischen Merkmalen (Alter, Geschlecht) bestimmt. Zur Kalibrierung des Modells werden Daten zur Nutzung von Mobilfalt verwendet.

4.1.4 Ablauf- und Wirkungsdiagramm

Jeder Simulationslauf gliedert sich in Zeitschritte, die jeweils einem repräsentativen Werktag in einer Woche entsprechen. 52 Zeitschritte entsprechen also einem Jahr in der Realität. In jedem Zeitschritt entscheidet jeder Agent über seine Mobilitätsoptionen. Der Entscheidungs-prozess und die wesentlichen Wirkungspfade sind in Bild 1 dargestellt.

Bild 1: Ablauf und Wirkungsdiagramm zu den Entscheidungen über die Registrierung bei Mobilfalt sowie über die Mobilitätsoption für eine einzelne Fahrt. MO = Mobilitätsoption, RSM = Ridesharing-Mitfahrt, RS = Ridesharing. „Zulässig“ bedeutet verfügbar unter Berücksichtigung von Einschränkungen durch individuelle Pkw-Verfügbarkeit, ÖPNV-Fahrplan, bei Rückwegen bereits getroffene Wahl für den Hinweg; „annehmbar“: zulässig und alle merkmalsbezogenen Anspruchsniveaus erfüllt.

4.1.5 Interventionen und Simulationsergebnisse

In jeweiligen Szenarien wurden verschiedenartige Interventionen simuliert: zum einen kognitiv-motivationale (personenfokussierte) Interventionen (Kommunikationskampagnen), die an vorherrschenden Motiven bestimmter Zielgruppen anknüpfen (Helfen, Umwelt, Kontakt), zum anderen strukturelle Maßnahmen (monetärer Anreiz durch Verdoppelung der Mitnahmezahlung, Erhöhung der Taktfrequenz). Die kognitiv-motivationalen Interventionen greifen an zwei verschiedenen Punkten in den Entscheidungsprozess ein: Zum einen erhöhen sie durch die Erzeugung von Aufmerksamkeit die Wahrscheinlichkeit einer reflektierten Entscheidung, zum anderen wird das Gewicht des angesprochenen Motivs bei der Bewertung der Mobilitätsoptionen erhöht. Die Ergebnisse werden jeweils mit einem Referenzszenario verglichen, bei dem das System ohne Interventionen seiner Eigendynamik überlassen wird. Des Weiteren wurden die Effekte von Kombinationen zweier verschiedener Interventionen analysiert.

Als Indikatoren für die Wirkung der Interventionen dienen folgende Ergebnisgrößen:

• Anzahl Fahrtangebote bzw. Fahrtnachfragen (Mittelwert über alle Zeitschritte)

• Anteil privater Mitnahmen an allen Fahrtnachfragen (Mittelwert über alle Zeitschritte)

• Anzahl der registrierten Mitfahrenden bzw. Fahrtanbietenden (am Ende der Simulation)

Die Simulationsergebnissen zeigen zunächst im Referenzszenario ohne äußere Einwirkung eine langsam ansteigende Anzahl von registrierten Fahrtnachfragenden und anbietenden sowie von Fahrtnachfragen und -angeboten. Diese Eigendynamik ist durch die soziale Kommunikation zu erklären, die in jedem Zeitschritt einen kleinen Teil der Agenten dazu bewegt, bewusst über die Möglichkeit der Nutzung der neuen Mobilitätsoptionen nachzudenken, die Mobilfalt bietet. Ein monetärer Anreiz in Form einer Verdoppelung der Mitnahmezahlung erweist sich als praktisch wirkungslos – dies stimmt gut mit den qualitativen und quantitativen empirischen Ergebnissen überein, wonach finanzielle Motive für diejenigen, die überhaupt prinzipiell bereit sind, andere Personen im eigenen Auto mitzunehmen, unbedeutend sind. Stärkere Wirkungen zeigen sich bei den kognitiv-motivationalen Interventionen: Hier wird im Vergleich zum Referenzszenario jeweils ein mehr als doppelt so großer Anteil privater Mitnahmen erreicht, was allerdings absolut gesehen immer noch ein sehr geringer Anteil ist (je nach angesprochenem Motiv zwischen 2,3 und 2,5 %). Beim Appell an das Motiv „Helfen“ zeigt sich eine (beabsichtigte) selektive Wirkung: Die Anzahl der registrierten Fahrtanbietenden erhöht sich im Vergleich zum Referenzszenario um mehr als das Doppelte, die der Fahrtnachfragenden jedoch nur um 11 % – d.h. das Ziel einer selektiven Steigerung der grundsätzlichen Mitnahmebereitschaft im Vergleich zur Mitfahrbereitschaft wird erreicht. Bild 2 zeigt den zeitlichen Verlauf der Anzahl privater Fahrtangebote und privater Mitnahmen in diesem Szenario; nach der zunächst sehr starken Wirkung während der Intervention zeigt sich zwar ein Rückgang nach Ende der Intervention, aber beide Indikatoren stabilisieren sich auf einem Niveau von immer noch ca. 80 % des während der Intervention erreichten Maximums.

Bild 2: Entwicklung der Anzahl der privaten Fahrtangebote sowie der Mitnahmen über der Zeit (gleitend gemittelt über jeweils 5 Zeitschritte) unter Einwirkung einer Kommunikationskampagne in der Woche 13 bis 21 zum Motiv „Helfen“ im Vergleich zum Referenzszenario für die Einwohnenden der Außenortsteile von Sontra.

Die methodische Stärke des MAS zeigt sich bei der Untersuchung von Kombinationseffekten unterschiedlicher Maßnahmen: Werden zwei kognitiv-motivationale Interventionen zu verschiedenen Motiven gleichzeitig angewandt, resultiert eine deutlich größere Wirkung als die Summe der Wirkungen der einzelnen Interventionen; d.h. die beiden Interventionen verstärken sich gegenseitig. Bei der Kombination „Helfen“ und „Umwelt“ etwa wird ein Anteil privater Mitnahmen von immerhin 5,4 % erreicht. Die Kombination des finanziellen Anreizes mit einer kognitiv-motivationalen Maßnahme erzielt hingegen keinen positiven Kombinationseffekt.

Die Simulationsergebnisse zu den kognitiv-motivationalen Interventionen hängen allerdings von der Einschätzung zweier Modellparameter ab, die die direkte Effektivität der betrachteten Interventionen auf den Entscheidungsprozess der Agenten beschreiben (s.o.). Diese Parameter hängen entscheidend von der konkreten Ausgestaltung einer derartigen Intervention ab; überdies ist eine empirische Fundierung dieser Parameter durch eine direkte Befragung schwierig. Bei den o.g. Simulationsläufen wurden hierfür eher konservativ geschätzte Werte angenommen. Bei ambitionierteren Annahmen ergeben sich für die o.g. Indikatoren deutlich höhere Werte; für die Kombination „Helfen“ und „Umwelt“ wird dann ein Anteil privater Mitnahmen von über 12 % erreicht, bei extremen Annahmen sogar 18 %.

Insgesamt deuten die Simulationsergebnisse dennoch darauf hin, dass das Potenzial der untersuchten Maßnahmen relativ beschränkt ist: Ein ökonomisch wie ökologisch relevanter Anteil privater Mitnahmen in der Nähe von 10 % oder darüber erscheint selbst bei Nutzung positiver Kombinationseffekte nur unter optimistischen Annahmen erreichbar.

4.2 Freizeitverkehr (Forschungsprojekt „DynamiKon“)

4.2.1 Kurzbeschreibung des Projekts

Dieser Abschnitt beruht auf dem vom BMBF geförderten Forschungsprojekt „Umbruchsdynamik im Konsum und nachhaltige Innovationspfade – Eine Untersuchung am Beispiel der Freizeitmobilität“ (DynamiKon). Obwohl der Freizeitverkehr aufgrund der grundsätzlich freien (wenn auch aktivitätsab-ängigen) Zielwahl und der damit einhergehenden größeren Variabilität im Vergleich etwa zum Berufsverkehr mehr Anlässe für eine überlegte Verkehrsmittelwahl bietet, machen routinisierte Entscheidungen auch im Freizeitverkehr den größten Anteil aus (Lanzendorf 2001 [20]). Im Projekt DynamiKon wurden v.a. die folgenden Fragestellungen mittels qualitativer und quantitativer Erhebungen sowie agentenbasierter Modellierung und Simulation untersucht:

• Wie kann im Freizeitverkehr eine Verlagerung zum Umweltverbund erreicht werden?

• Wie können Routinen bei der Verkehrsmittelentscheidung durchbrochen werden?

4.2.2 Spezifikation des Modells

4.2.2.1 Ziele/Bewertungskriterien der Agenten

Die Agenten verfolgen multiple Ziele: Bedürfnisbefriedigung in fünf Bedürfnisfeldern (körperliche Bedürfnisse (Erholung, Bewegung), Sicherheit, soziale Kontakte, soziale Distinktion sowie Erlebnis), Konformität (Übereinstimmung zwischen der eigenen Verkehrsmittelnutzung und der der anderen Agenten des eigenen Milieus), Einstellungskonsonanz (Vermeidung von Widersprüchen zwischen Umweltorientierung und verkehrsmittelbezogenen Einstellungen sowie zwischen verkehrsmittelbezogenen Einstellungen und tatsächlicher Verkehrsmittelwahl), Befriedigung von Neugier, möglichst geringe Fahrtkosten und geringe Fahrzeit.

4.2.2.2 Handlungsmodi

Drei Handlungsmodi wurden berücksichtigt: Routine, Wahlhandeln und Adoptionshandeln, wobei das Letztgenannte im Falle der Einführung innovativer Angebotsverbesserungen durch die ÖPNV-Betreiber relevant war. Als Auslöser für Wahl- bzw. Adoptionshandeln fungierte die Unterschreitung des Anspruchsniveaus in einer der genannten Zieldimensionen.

Das Routinehandeln basiert auf einer Menge von erlernten Regeln, wonach bestimmte einfach wahrnehmbare Situationsmerkmale die Wahl eines bestimmten Verkehrsmittels triggern. Im Wahl und Adoptionshandlungsmodus wird jedes der zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel mittels einer additiven Nutzenfunktion bewertet, die alle oben genannten Ziele berücksichtigt. Beim Adoptionshandeln ist jedoch eine Informationssuche nach etwaigen innovativen Angebotsverbesserungen beim ÖPNV oder Radverkehr vorgeschaltet; ist diese Suche erfolgreich, wird der Nutzen des betreffenden Verkehrsmittels entsprechend erhöht.

4.2.3 Interventionen und Simulationsergebnisse

Untersucht wurden folgende Arten von Interventionen zur Beeinflussung des Modal-Split: preisliche Maßnahmen; innovative Angebotsverbesserungen im ÖPNV, die die o.g. Bedürfnisse der Fahrgäste besser befriedigen; Kommunikationskampagne (Erregung von Aufmerksamkeit, Information zu Preisen und ggf. Angebotsverbesserungen); Erhöhung der Reisegeschwindigkeit im ÖPNV und Radverkehr, Verminderung im MIV. Als Vergleichsmaßstab diente hier ein Referenzszenario mit konstanten Rahmenbedingungen außer einer jährlichen Kostensteigerung von 2 % im ÖPNV und 5 % im MIV.

In den Simulationsergebnissen zeigt sich sowohl bei preislichen Maßnahmen als auch bei innovativen Angebotsverbesserungen – jeweils ohne Kommunikationsmaßnahmen – eine maßvolle und nur allmählich einsetzende Wirkung. Dies ist zum einen auf den hohen Grad der Routinisierung des Mobilitätsverhaltens zurück-zuführen, der Verhaltensänderungen aufgrund der automatisierten, repetitiven Handlungssteuerung generell hemmt, zum anderen darauf, dass die Agenten zuerst die Information über veränderte Preise bzw. Angebote aufnehmen und verarbeiten müssen, bevor diese handlungswirksam werden können; dieser Prozess braucht Zeit. Diese Reaktionszeit kann durch eine begleitende Kommunikations-kampagne wesentlich reduziert und auch das Ausmaß der Wirkung deutlich gesteigert werden. Hierbei kommt es allerdings entscheidend auf die zeitliche Abstimmung an: Wird die Kommunikationskampagne durchgeführt (und wieder beendet), bevor die Angebotsverbesserung eingeführt wird, so ist die Wirkung viel geringer als bei gleichzeitiger Durchführung von Angebotsverbesserung und Kommunikation. Hier zeigen sich die Möglichkeiten, die die dynamische Perspektive der agentenbasierten Simulation bietet.

Bei einer (gleichzeitigen) Kombination unterschiedlicher Maßnahmen zugunsten des Umweltverbunds zeigen sich starke Verlagerungseffekte, die deutlich über die Summe der Effekte der Einzelmaßnahmen hinausgehen, d.h. die Maßnahmen verstärken sich gegenseitig. Dies kann als Bestätigung der Multi-Impuls-These (Klemmer, Lehr, Löbbe 1999 [36]) gewertet werden.

Zur Prüfung der Leistungsfähigkeit des Modells wurde auch eine Maßnahmenkombination getestet, die nicht unbedingt dem Ziel eines nachhaltigen Verkehrs dient, aber in der Realität vorkommt: eine (gleichzeitige) innovative Angebotsverbesserung im ÖPNV und Radverkehr sowie eine ebensolche im MIV zu einem anderen Zeitpunkt. Hier wurde die Wirkung zweier Szenarien mit unterschiedlichem zeitlichem Ablauf verglichen: Im ersten Szenario wurde zuerst die Angebotsverbesserung im ÖPNV und Radverkehr eingeführt, danach die im MIV; im zweiten Szenario war die Reihenfolge umgekehrt. Dabei zeigt sich, dass derjenige Verkehrsträger profitiert, dessen Angebotsverbesserung zuerst eingeführt wird. Dies ist durch die verhaltensstabilisierende Wirkung von Routinen zu erklären und demonstriert das Phänomen der Pfadabhängigkeit, das in der dynamischen Perspektive eines MAS abbildbar ist.

5 Fazit

Multi-Agenten-Systeme bieten vielfältige Möglichkeiten zur Simulation und Prognose der Verkehrsmittelwahl unter verschiedenen Maßnahmen und sich wandelnden Rahmenbe-dingungen. So können beispielsweise nicht nur die Wirkungen infrastruktureller Maßnahmen, sondern auch von sozialen Interventionen, tariflichen Maßnahmen und Kommunikationskampagnen simuliert werden, um EntscheiderInnen in Politik und Verkehrsunternehmen mittels der so erhaltenen Prognosen zu unterstützen. Je nach Kontext und Fokus der Untersuchung können maßgeschneiderte Handlungsmodelle für die Agenten zu Grunde gelegt werden; insbesondere können unterschiedliche Arten der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden, die abhängig von der individuellen aktuellen Situation aktiviert werden (z.B. Routinehandeln in gewohnten Situationen, Wahlhandeln in selteneren oder neuen Situationen, Adoptionshandeln bei Einführung neuer Mobilitätsoptionen). Dabei können durch die dynamische Perspektive von MAS auch die zeitliche Entwicklung der Wirkungen und eventuelle Eigendynamiken etwa durch soziale Beeinflussung oder den demographischen Wandel analysiert werden. Auch die Wirkungen der Kombination verschiedenartiger Maßnahmen in unterschiedlichen zeitlichen Arrangements lassen sich untersuchen. Des Weiteren wird die Heterogenität der Akteure hinsichtlich verschiedener relevanter Eigenschaften sehr differenziert berücksichtigt.

Diesen weit reichenden Möglichkeiten, die MAS im Prinzip bieten, stehen jedoch ein entsprechender Aufwand bei der zur Kalibrierung notwendigen Gewinnung empirischer Daten sowie methodische Probleme (Abfrage unbewusster kognitiver Prozesse und hypothetischen Verhaltens) gegenüber. Daher sollte im Einzelfall je nach Fragestellung abgewogen werden, ob der Einsatz eines MAS angemessen und sinnvoll ist.

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