FGSV-Nr. FGSV 002/127
Ort online-Konferenz
Datum 13.04.2021
Titel Automatisierte Klassifikation verschiedener Stautypen
Autoren Univ.-Prof. Dr.-Ing. Klaus Bogenberger, M.Eng. Barbara Karl, Lisa Kessler
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Verkehrsstaus haben verschiedenste Ursachen und sollten daher differenziert betrachtet werden, um die Verkehrssteuerung zu optimieren. Eine gute Verkehrsanalyse ist die Voraussetzung für eine Verbesserung des Individualverkehrs. In diesem Artikel werden die Definitionen von vier verschiedenen Stautypen, (a) Stauwelle, (b) Stop&Go, (c) Breiter Stau und (d) Mega-Stau, erläutert. Mit Hilfe virtueller Trajektorien in einem raumzeitlich diskretisierten Geschwindigkeitsfeld können Stauungen automatisch erfasst werden. Jeder Stau kann anhand von bestimmten Parametern kategorisiert und klassifiziert werden. Weiterhin werden eine Sensitivitätsanalyse und eine Parameteroptimierung durchgeführt.

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1 Motivation

Der Verkehr und die Mobilität der Menschen nimmt kontinuierlich zu, entsprechend steigt auch die Stauanzahl im Fernverkehr. Die Autoren von (Bogenberger 2013, [1]) nennen verschiedene Gründe für Überlastungen wie beispielsweise Baustellen, Unfälle, erhöhtes Verkehrsaufkommen oder menschlich verursachte Fehler. Bei Baustellen und Unfällen wird der Verkehrsfluss durch Behinderungen auf der Straße gestört, im Gegensatz dazu kann erhöhter Verkehr durch Stoßzeiten im Berufsverkehr oder aufgrund von Ferien hervorgerufen werden. Ebenso kann eine zu geringe Kapazität, verursacht durch die Infrastruktur (etwa Fahrspurreduktion, Ausfahrten oder Streckensteigungen), ein Grund für eine Stauung sein. Menschliche Fehler können durch einen plötzlichen Bremsvorgang oder einen unnötigen Wechsel des Fahrstreifens verursacht werden (siehe Randelhoff 2017, [2]).

Da eine Stauung viele verschiedene Ursachen haben kann, haben Verkehrsstaus eine individuelle räumliche und zeitliche Ausdehnung, auch mit einer unterschiedlichen Geschwindigkeitsverteilung. Abhängig davon können verschiedene Arten von Überlastungen auftreten, die jeweils einen oder mehrere Geschwindigkeitseinbrüche verursachen können. Im Rahmen der Optimalsteuerung des Verkehrsmanagements sollte jede Art von Stau unterschiedlich behandelt werden. Dieser Artikel zielt darauf ab, eine Definition für Verkehrsstaus zu geben und verschiedene Stauarten nach ihren charakteristischen Merkmalen zu identifizieren.

Dieses Papier ist wie folgt aufgebaut. Abschnitt 2 gibt einen Überblick über vorhandene Staudefinitionen und Stauklassifikationen. In Abschnitt 3 wird eine automatisierte Klassifikation der Stauarten anhand virtueller Trajektorien für Autobahnen erläutert. Das vorgestellte Verfahren wird in Abschnitt 4 auf einen Datensatz eines Teilbereichs der Bundesautobahn 9 angewendet und eine Sensitivitätsanalyse des Parametersatzes wird durchgeführt. Abschnitt 5 fasst das Papier zusammen und gibt einen Ausblick zu weiterem Forschungsbedarf.

2 Stand der Technik

In der Literatur gibt es mehrere Ansätze, wie man gestauten von freiem Verkehr abgrenzt. So gibt es etwa Studien mit einem festen oder einem variablen Wert für die Geschwindigkeit (ASTRA 2019, [3]; Bayerisches Staatsministerium 2019, [4]), alternativ kann die Erhöhung der Reisezeit ausgewertet werden (Cookson 2018, [5]; Reed 2019, [6]; Morrison 2018, [7]).

Neben der Staudefinition gibt es auch mehrere Forschungsansätze zur Stauklassifizierung. Kerner et al. haben drei Verkehrsphasen definiert, von denen zwei überlastete, gestaute Phasen darstellen. Helbing et al. nennen fünf verschiedene Arten von gestauten Verkehrszuständen. In einer Kooperation zwischen den Firmen BMW und TRANSVER wurden vier Stautypen erläutert. Die folgenden Abschnitte erklären diese Stauklassifizierungen genauer.

2.1 Ideen nach Kerner et al.

Eine grundlegende und bekannte Verkehrszustandsklassifikation ist die Drei-Phasen-Verkehrstheorie von Kerner et al. (siehe Kerner 1996, [8]). Die Bewertung basiert auf der Analyse von umfangreichen Datensätzen von Staumustern auf deutschen und internationalen Autobahnen (siehe Palmer 2011, [9]; Kerner 2004, [10]). Diese Theorie unterscheidet drei verschiedene Verkehrsphasen: freier Verkehr, synchronisierter Verkehr und breiter, sich bewegender Stau.

Die breite, sich bewegende Stauphase ist ein überlasteter Verkehrszustand, der sich stromaufwärts mit einer konstanten mittleren Geschwindigkeit als zusammenhängende Struktur durch alle anderen Verkehrszustände oder Engpässe ausbreitet. Bei synchronisiertem Verkehr ist in der Regel die stromabwärtige Front an einem bestimmten Ort wie zum Beispiel einem Engpass fixiert (siehe Bursa 2018, [11]; Palmer 2011, [9]; Kerner 2009, [12]).

2.2 Ideen nach Helbing et al.

In (Helbing 2009, [13]) haben Helbing et al. Bedingungen für überlastete Verkehrszustände ausgehend vom Instabilitätsdiagramm eines Verkehrsflussmodells entwickelt. Das Auftreten, das Aussehen, die räumliche und zeitliche Ausbreitung und die damit verbundene Zunahme der Reisezeit werden analysiert. Die Terminologie der Verkehrsphasen wird diskutiert und ein empirischer Nachweis der Existenz eines Phasendiagramms von Verkehrszuständen wird dargestellt. Im Gegensatz zu anderen Phasen wird gezeigt, dass sich vergrößernde synchronisierte Muster bilden, wenn der maximale Durchfluss innerhalb eines metastabilen Dichteverhaltens liegt. Kombinationen von Auf- und Abfahrten rufen andere Muster hervor als eine einzelne isolierte Auffahrt. Die elementaren Muster aus (Helbing 2009, [13]) sind:

∙ Lokalisierter sich bewegender Stau
∙ Oszillierender Stau
∙ Stop-and-Go-Wellen
∙ Lokalisierter stationärer Stau
∙ Homogener Stau
∙ Breiter werdender synchronisierter Verkehr

Lokalisierte Cluster haben eine konstante Länge und decken einen kurzen Autobahnabschnitt ab. Stationäre lokalisierte Cluster sind feste Stauungen an bestimmten Orten, während sich die sich bewegenden lokalisierten Cluster stromaufwärts mit einer bestimmten Geschwindigkeit bewegen. Die zwei Stauzustände oszillierender gestauter Verkehr und homogener Stau erstrecken sich über längere Autobahnabschnitte. Häufig oszillierende Geschwindigkeiten im Staubereich sind charakteristisch für den oszillierenden Stau. Im Gegensatz dazu hat der homogene Stau konstant eine niedrige Geschwindigkeit im überlasteten Bereich. Die Stop-and-Go-Wellen bestehen aus mehreren Geschwindigkeitseinbrüchen hintereinander. Der synchronisierte breiter werdende Verkehr bildet sich, wenn die Kapazitätsgrenze der Strecke erreicht ist und sich an dieser Grenze ein metastabiler Zustand des Verkehrs ausbildet (siehe Helbing 2009, [13]).

2.3 Ideen nach BMW und TRANSVER

In einem Projektbericht von TRANSVER für BMW (siehe Bogenberger 2010, [14]) werden verschiedene Staus analysiert, die von einzelnen Fahrzeugen (GPS-Tracks) oder stationären Detektoren erkannt wurden. Individuelle Eigenschaften jedes Stauauftretens wurden untersucht und typische Stauformationen basierend auf den Methodiken von Kerner et al. und von Helbing et al. identifiziert. Die Häufigkeit und die Dauer, die die Fahrtgeschwindigkeit einen gewissen Schwellwert unterschreitet, sind zwei signifikante Werte für eine Identifikation von typischen Mustern. Diese Parameter werden für die Klassifizierung eines Staus im Allgemeinen angewendet sowie auch zur Differenzierung, ob eine weitere Stauung im Verlauf einer Fahrzeugtrajektorie einem vorhergehenden Stau angerechnet werden sollte oder es sich um einen neuen Stau handelt. In einem ersten Schritt wird der Geschwindigkeitsschwellwert definiert, der einen gestauten von einem Freifluss-Bereich räumlich und zeitlich abgrenzt. Wenn die Geschwindigkeit mindestens für einen gewissen Zeitraum über dem festgelegten Schwellwert liegt, wird der nächste Geschwindigkeitseinbruch unterhalb der Grenzgeschwindigkeit als Start einer neuen Stauung identifiziert. Die folgenden Parameter wurden für die Differenzierung von Staus herausgearbeitet:

∙ Durchschnittliche Staugeschwindigkeit

∙ Standardabweichung der durchschnittlichen Staugeschwindigkeit

∙ Dauer der Phase mit sehr geringer Geschwindigkeit

Nachdem die Stauung identifiziert ist, kann sie klassifiziert werden. In (Bogenberger 2010, [14]) werden vier Definitionen von Stauausprägungen genannt:

∙ Stauwelle

∙ Stop&Go-Wellen

∙ Breiter Stau

∙ Mega-Stau

Die einzelne Stauwelle ist ein dünner Streifen, der eine vorübergehend niedrige Geschwindigkeit impliziert, im Anschluss ist die Geschwindigkeit wieder für längere Zeit über der Staugrenzgeschwindigkeit. Die Stop&Go-Wellen sind mehrere schmale Streifen, die Stauwellen darstellen, getrennt durch kurze Freifluss-Abschnitte. Der breite Stau ist eine weite Fläche mit vorherrschender Staugeschwindigkeit. Ein sehr großes Gebiet mit Geschwindigkeitswerten unter dem Geschwindigkeitsschwellwert ist der Mega-Stau. Es stellt einen räumlich und zeitlich sehr großen Verkehrszusammenbruch dar.

3 Automatisierte Stauklassifizierung

Im Folgenden wird ein Ansatz zur automatischen Kategorisierung von Stausituationen beschrieben. Virtuelle Trajektorien, die Geschwindigkeitsverläufe einzelner Fahrzeuge im Verkehr simulieren, werden analysiert und zur Differenzierung und damit zur Klassifizierung herangezogen. Diese bilden die Verkehrslage realer ab als nur eine (diskretisierte) Geschwindigkeitsverteilung.

Als erstes ist eine Verkehrslage- bzw. Geschwindigkeitsdarstellung erforderlich (räumlich-zeitliche Geschwindigkeitsverteilung). Geschwindigkeiten können entweder von stationären Sensoren detektiert oder durch invertierte Reisezeitmessungen ermittelt werden. Dabei unterscheidet man hochaufgelöste Reisezeiten wie beispielsweise aus sich bewegenden Fahrzeugen (sogenannte Floating-Car-Daten (FCD)) und Reisezeitmessungen durch Fahrzeugwiedererkennung an mehreren Standorten (zum Beispiel aus Bluetooth-/WLAN-Detektionen oder durch Kennzeichenerfassungskameras). Stationäre Sensordaten müssen geglättet werden, z. B. durch die sogenannte Adaptive Smoothing Method (siehe Treiber 2002, [15]; Treiber 2011, [16]). FCD können räumlich-zeitlich rekonstruiert werden mit Hilfe der phasenbasierten Glättungsmethode (Phase-Based Smoothing Method, PSM) eingeführt von Rempe et al. (siehe Rempe 2017, [17]), wobei die drei Phasen durch Kerner (siehe Abschnitt 2.1) berücksichtigt werden. Reisezeiten mit einer geringen räumlichen Auflösung können mit dem Algorithmus von Kessler et al. (siehe Kessler 2019, [18]) interpoliert werden.

In allen Fällen ist das Ergebnis eine räumlich-zeitlich diskretisierte, interpolierte Geschwindigkeitsrekonstruktion wie in Bild 1 gezeigt. Sei T eine Menge von Zeitintervallen t1,…,tn und sei X eine Menge von räumlichen Segmenten x1,…,xm. Die Mengen {ti}i=1,…,n und {xj}j=1,…,m teilen den raumzeitlichen Bereich T × X in ein Gitter mit Zellen ti × xj auf. Jeder Zelle ist ein Geschwindigkeitswert v(ti,xj) =: vij zugeordnet.

Bild 1: Diskretisierte Geschwindigkeitsmatrix mit einer zeitlichen Zellgröße von 30s und einer räumlichen Zellgröße von 100m

Die hier dargestellte Methode basiert auf der Staukategorisierung aus (Bogenberger 2010, [14]) wie in Abschnitt 2.3 beschrieben, erweitert um virtuelle Trajektorien. Eine virtuelle Trajektorie ist ein Pfad durch die Geschwindigkeitsmatrix, die an jeder Ecke einer Zelle ti × xj des räumlich-zeitlichen Gitters gestartet werden kann. Die Geschwindigkeit der Trajektorie entspricht der Geschwindigkeit vij, die durch Lösen der gewöhnlichen Differenzialgleichung dx/dt = vij der Zelle zugeordnet ist. Wann immer die Trajektorie die Grenzen einer Zelle erreicht, setzt sich die Trajektorie in der benachbarten Zelle mit der dort vorherrschenden Geschwindigkeit fort. Eine beispielhafte Trajektorie ist in Bild 2 zu sehen.

Bild 2: Trajektorie (blau) in einem räumlich-zeitlich diskretisierten Gitter, Start der Trajektorie um ca. 11 Uhr

Am Ende durchläuft diese Trajektorie eine Menge von Zellen mit den jeweiligen Geschwindigkeiten. Bild 3 stellt den Geschwindigkeitsverlauf der Trajektorie aus Bild 2 über der Zeit dar. Dieser Geschwindigkeitsverlauf dient als Basis, um zunächst jeder Trajektorie, im Anschluss dann jedem Staugebilde, einen Stautyp zuzuweisen.

Bild 3: Geschwindigkeitsverlauf der Trajektorie aus Bild 2

Die Grenzgeschwindigkeit, die einen gestauten Bereich definiert, sei die kritische Geschwindigkeit vcrit. Um einen Stau von einem anderen abzugrenzen, sei die Dauer tbreak nach einem Stau entscheidend, während der die Geschwindigkeit kontinuierlich über vcrit liegt. Nach einem Geschwindigkeitseinbruch muss die Geschwindigkeit mindestens für tbreak größer sein als vcrit. In Bild 4 ist diese Identifikation eines Staus durch einen Geschwindigkeitseinbruch dargestellt.

Bild 4: Differenzierung eines neuen Staus vom vorangegangenen (nach Bogenberger 2010, [14])

Für jede Trajektorie kann entschieden werden, welche Art von Stauungen auf dem Pfad durch die Geschwindigkeitsmatrix detektiert werden können. Bild 5 zeigt die angewendete Stauklassifizierung zu einem Startzeitpunkt t0. Wird ein neuer Geschwindigkeitseinbruch erkannt, differenziert die Methodik nach der Dauer des Geschwindigkeitseinbruchs und der Anzahl der Geschwindigkeitseinbrüche in einem Staugebilde. Befindet sich die Trajektorie maximal eine Zeit ΔtJamWave unterhalb des Geschwindigkeitsschwellwerts, handelt es sich um den Stautyp Stauwelle. Überschreitet der Anteil der Trajektorie unterhalb von vcrit die Zeit ΔtMegaJam, liegt der Stautyp Mega-Stau vor. Ist die Dauer der Stauung zwischen ΔtJamWave und ΔtMegaJam, wird die Häufigkeit der Grenzwertüber- bzw. -unterschreitung betrachtet. Gibt es weniger als nStop&Go Phasen der Geschwindigkeitsunterschreitung, handelt es sich um den Stautyp Breiter Stau. Andernfalls liegt der Stautyp Stop&Go vor.

Bild 5: Schematische Darstellung der Stauklassifizierung (nach Bogenberger 2010, [14])

Auf den Geschwindigkeitsverlauf aus Bild 3 angewendet ergibt sich bei der Parametrierung vcrit = 40 km/h, ΔtJamWave = 3 min, ΔtMegaJam = 30 min,nStopandGo = 3 ein Breiter Stau.

Nachdem durch das Ablaufdiagramm von Bild 5 jeder Trajektorie einzeln ein Stautyp zugewiesen werden kann, wird im nächsten Schritt für ein vollständiges Staugebilde der passende Stautyp gesucht. Dazu werden zeitlich äquidistant startende Trajektorien durch einen Stau geschickt und für jede Trajektorie individuell ein Stautyp ermittelt. Wenn alle Trajektorien den Bereich mit niedriger Geschwindigkeit passiert haben und dabei jeweils den gleichen Stautyp errechnet haben, wird diesem Stau auch diese Kategorie zugeordnet. Weiterhin gibt es den Fall, dass die Trajektorien verschiedene Stautypen in dem gestauten Bereich erkannt haben – aufgrund der zeitlichen Verschiebung der Startzeiten. Dann wird dem Stau die Klassifikation, die am häufigsten detektiert wurde, zugeordnet. Bild 6 zeigt den gestauten Bereich aus Bild 2, wobei nur die 17 Trajektorien, die tatsächlich zu mindestens einem Zeitpunkt die Geschwindigkeit vcrit unterschreiten, dargestellt sind. Diese Trajektorien starten mit einem zeitlichen Abstand von 5 min. Das Ergebnis zeigt, dass die ersten 16 dargestellten Trajektorien als Breiter Stau klassifiziert werden. Die letzte Trajektorie berührt das Staumuster nur sehr kurz und wird daher als Stauwelle kategorisiert. Aufgrund der deutlichen Häufung des Stautyps Breiter Stau wird das gesamte Staugebilde als Breiter Stau klassifiziert.

Bild 6: Trajektorien durch einen Stau mit der Kategorisierung "Breiter Stau"

4 Anwendung und Sensitivitätsanalyse

Die Klassifikation der vier unterschiedlichen Stauarten hängt von mehreren Parametern ab (Abbildungen 4 und 5). Um eine plausible Belegung der Parameter der verschiedenen Stautypen zu erhalten, werden eine Variation dieser Parameter und eine Sensitivitätsanalyse durchgeführt. Diese Sensitivitätsanalyse zeigt, inwiefern diese Klassifizierung flächendeckend auf die verschiedensten Staus anwendbar ist. Als Referenz werden die untersuchten Staugebilde manuell den Kategorien zugeordnet.

4.1 Verwendeter Datensatz

Die vorgestellte Methodik wurde auf Daten der BAB9 nördlich von München angewandt. Die betrachtete Strecke umfasst 47,7 km in Fahrtrichtung Nürnberg (NB) und 31,4 km in Fahrtrichtung München (SB). Überkopfsensoren detektieren dort lokale Geschwindigkeiten. Analysiert wurden Daten aus dem Zeitraum April bis Juni 2015. Die betrachtete Geschwindigkeit ist ein flussgewichteter Mittelwert über alle Fahrspuren pro Minute (siehe Kessler 2018, [19]). Die Daten wurden mittels der Adaptive Smoothing Method (ASM) (siehe Treiber 2002, [15]; Treiber 2011, [16]) interpoliert, um geglättete Geschwindigkeitswerte für die Abschnitte zwischen den Detektorpositionen (33 Detektoren in NB, 27 Detektoren in SB) (siehe Kessler 2018, [19]) zu generieren. Die verwendeten ASM-Parameter finden sich in Tabelle 1.

Tabelle 1: ASM-Parameter für die Interpolation der stationären Detektordaten

4.2 Parameterdefinition mit Basiswerten

Die Ausgangsparameter sind abgeleitet von (Bogenberger 2010, [14]). Weiterhin wird parametriert, wie viele Trajektorien pro Stunde erstellt werden, genannt ntraj. Die Basiswerte des Parametersatzes sind in Tabelle 2 zu finden.

Tabelle 2: Parameterdefinition mit Basiswerten

4.3 Parametervariation

Die sechs in Abschnitt 4.2 eingeführten Parameter werden modifiziert. Jeder Parameter variiert in beide Richtungen (siehe Tabelle 3). Zunächst wird jeder Parameter separat variiert, die anderen Parameter werden währenddessen konstant gehalten. Im zweiten Schritt werden mehrere Parameter gleichzeitig modifiziert. Zusätzlich gibt es eine Berechnung mit allen Parametern auf deren Minimum und eine Berechnung, bei der alle Parameter auf deren Maximum gesetzt werden, um die Ergebnisse der verschiedenen Settings miteinander zu vergleichen. Für jeden Stautyp werden wenige Datensätze ausgewählt. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden für eine weitere Analyse mit allen Datensätzen genutzt.

Tabelle 3: Variation der Parameter

4.4 Sensitivitätsanalyse

Im Folgenden werden jeweils ein oder zwei Geschwindigkeitsfelder mit Staugebiet exemplarisch für jeden Stautyp untersucht. Eine Verkehrssituation mit dem Stautyp Stauwelle ist in Bild 7 dargestellt. Zusätzlich zu der einen Verkehrssituation wird eine weitere ähnliche berücksichtigt (Trajektorie ganz rechts). Die Variationen der Parameter haben bei dieser Verkehrssituation keinen Einfluss auf die Klassifizierung des Staus. Die Variation des Parameters tJamWave führt lediglich zu einer Änderung der Typisierung einzelner Trajektorien.

Die Klassifizierung eines Breiten Staus ist in Bild 8 dargestellt. Durch diese Stauung laufen bei der Basisparametrierung zwölf Trajektorien, von denen neun dem Typ Breiter Stau zugeordnet sind, während die anderen als Stauwelle klassifiziert sind. Letztere sind die Trajektorien am Anfang und am Ende des Staumusters, da sie den Stau nur kurz durchqueren. Dieser Stautyp ist gegenüber der Parametervariation robust. Durch Erhöhung von tJamWave ändern sich Trajektorien von Breiter Stau zu Stauwelle. Durch Reduktion der Anzahl der Trajektorien ntraj wird die Klassifikation dieses Staugebildes unzuverlässiger.

In der Konfiguration mit erhöhtem vcrit und nStop&Go = 2 werden die meisten Trajektorien bei der Stauung in Bild 9 als Stop&Go klassifiziert. Die übrigen Trajektorien gehören dem Stautyp Mega-Stau an. Letzterer ist schwer zu untersuchen aufgrund des vergleichsweise seltenen Auftretens und der damit verbundenen geringen Datenverfügbarkeit. Die automatisierte Klassifizierung ergibt in etwa die gleiche Anzahl Trajektorien beider Typen. Der Gesamttyp ist abhängig von den Parametern. Zwischen 12 und 16 Uhr verhält sich der Stau als Mega-Stau, zwischen 16 und 20 Uhr ähnelt die Formation einem Stop&Go-Stau.

Bild 7: Trajektorien durch einen Stau mit der Kategorie "Stauwelle"

Bild 8: Trajektorien durch einen Stau mit der Kategorie "Breiter Stau"

Bild 9: Trajektorien durch einen Stau mit den Kategorien "Mega-Stau" und "Stop&Go"

Die Variation von tbreak wirkt sich auf Trajektorien aus, die als Stauwelle oder Breiten Stau klassifiziert sind. Dies kann beispielsweise in Bild 10 beobachtet werden. Mehrere benachbarte Geschwindigkeitseinbrüche treten auf, diese werden entweder als Stauwelle oder als Breiter Stau mit einer etwas späteren Stauwelle identifiziert. Dies hängt von vcrit und tbreak ab. Wenn diese beiden Parameter klein sind, wird diese Überlastung eindeutig als mehrere Stauwellen klassifiziert und nicht als Stop&Go, da die Geschwindigkeitseinbrüche zu weit voneinander entfernt sind. Wenn beide Parameter auf ihren maximalen Wert gesetzt werden, wird der Stau als Breiter Stau klassifiziert.

Wenn alle Parameter auf das Maximum gesetzt sind (Ausnahme ntraj wird auf das Minimum gesetzt, um einen maximalen zeitlichen Abstand der Trajektorien zu generieren), ist die gesamte Klassifikation ungenau und unzuverlässig. Stautypen werden oft nur von einzelnen Trajektorien durchfahren und dies kann an jeder Stelle des Staus sein und somit nicht das vollständige Gebilde widerspiegeln. Im Fall, dass alle Parameter ihr Minimum annehmen, verändern nur zwei von allen betrachteten Staumustern die Klasse im Vergleich zur Betrachtung mit den Basiswerten. Wie oben beschrieben ändert die Stauung in Bild 9 den Typ durch Variation der Anzahl der Geschwindigkeitseinbrüche. Wenn nStop&Go abnimmt, ändert sich der Typ von Mega-Stau zu Stop&Go. Auch wechseln wenige Trajektorien von Stauwelle zu Mega-Stau, weil die maximale Dauer einer Stauwelle kürzer ist als deren Basiswert.

Bild 10: Trajektorien durch einen Stau mit den Kategorien "Stauwelle" und "Breiter Stau"

Zusätzlich zu diesen einzeln ausgewerteten Staus werden Datensätze von 157 Tagen analysiert. Die Erkenntnisse der vorangegangenen Analyse werden für diese erweiterte Untersuchung herangezogen. Die Anzahl der Geschwindigkeitseinbrüche nStop&Go wird auf zwei optimiert. Für die Grundeinstellung werden folgende Parameterwerte eingestellt:

vcrit = 40 km/h, tbreak = 4 min, ΔtJamWave = 3 min,

ΔtMegaJam = 30 min, nStop&Go = 2, nTraj = 12

Für die Parametervariation wird eine Berechnung erstellt, bei der alle variierten Parameter auf ihre beiden jeweiligen Extremwerte gesetzt werden. Der Anteil der klassifizierten Trajektorien von der Gesamtmenge der berechneten Trajektorien wird analysiert. Die Werte und die Ergebnisse der Sensitivitätsanalyse sind in Tabelle 4 dargestellt.

Die Variation des Geschwindigkeitsschwellwertes vcrit beeinflusst die Klassifizierung am meisten, die Verteilung der Stauklassen bleibt aber gleich. Jede Modifikation der anderen Parameter bewirkt nur kleine Änderungen an den Ergebnissen. Diese Änderungen erscheinen in jede Kategorie außer bei Mega-Stau, dieser Stau wird nur in sehr wenigen Datensätzen klassifiziert. In Tabelle 4 ist dargestellt, dass die Stauarten Stauwelle und Breiter Stau von der maximalen Dauer einer Stauwelle ΔtJamWave stark abhängen.

Wenn alle untersuchten Parameter auf ihr Maximum gesetzt werden, ebenso die Zeitspanne zwischen den Trajektorien maximal ist, zeigen die Ergebnisse die gleiche Verteilung der Trajektorien in der Klassifikation auf wie im Fall, bei dem nur die Grenzgeschwindigkeit maximal ist. Dies ist auch der Fall, wenn alle Parameter minimal sind, verglichen mit der Berechnung, bei der nur vcrit minimal ist. Dies zeigt, dass der größte Einfluss der Kategorisierung der Geschwindigkeitsschwellwert vcrit ist.

Tabelle 4: Ergebnisse und Einstellungen der Parametervariation der 157 Tage

4.5 Ergebnisse

Einige Parametervariationen wirken sich auf die automatische Klassifizierung mehr aus als andere. Der größte Effekt auf die Typisierung kann durch die Variation des Geschwindigkeitsschwellwertes vcrit erreicht werden. Die Basiswerte, die in (Bogenberger 2010, [14]) definiert sind, erweisen sich als plausibel. Die Lücke zwischen einer Stauwelle und mehreren Stauwellen wird durch den Typ Stop&Go gefüllt. Die Anzahl der Geschwindigkeitseinbrüche nStop&Go wird von 3 auf 2 verringert. Stop&Go entspricht somit dem Stautyp mit mehr als einem Geschwindigkeitseinbruch. Zusätzlich sollte der Parameter, der den zeitlichen Abstand der Trajektorien bestimmt, höchstens 5 Minuten betragen. In Tabelle 5 sind die optimierten Parameter dargestellt.

Tabelle 5: Ergebnisse der optimierten Parameter

Die erweiterte Analyse von 157 Datensätzen begründet die Funktionsweise der Klassifizierung. Der durch die automatisierte Analyse zugeordnete Stautyp entspricht bei der optimierten Parameterkonfiguration in ca. 80% der untersuchten Staugebilde der manuellen Zuordnung. Die restlichen 20% der Staus sind so komplex, dass sie nicht eindeutig einem Typ zugeordnet werden können, weder manuell noch algorithmisch.

5 Zusammenfassung und Ausblick

Dieser Artikel behandelt eine automatisierte Klassifizierung eines Staus in verschiedene Stauarten durch virtuelle Trajektorien. Virtuelle Trajektorien simulieren das Fahrerlebnis eines einzelnen Fahrzeugs durch den Stau. Eine Stauung wird immer dann definiert, wenn der Geschwindigkeitsverlauf einer Trajektorie einen Schwellwert von 40 km/h unterschreitet. Es wurden vier verschiedene Stauarten identifiziert: Stauwelle, Stop&Go, Breiter Stau und Mega-Stau. Für jeden Typ sind mehrere Parameter zur Klassifizierung erforderlich, um eine Stausituation eindeutig zuzuordnen. Durch eine Sensitivitätsanalyse wurden optimierte Parameterwerte erhalten (Tabelle 5). Mit diesen Parametern können für jedes räumlich-zeitlich diskretisierte Geschwindigkeitsbild die Stautypen automatisch ermittelt werden.

Als nächster Schritt wird die Parameterstudie mit weiteren Datensätzen getestet, sowohl auf anderen Autobahnen als auch aus anderen Datenquellen. Im Anschluss kann so eine Untersuchung von Häufungen einzelner Stauklassen in bestimmten Autobahnabschnitten wie Abfahrten, Autobahnkreuzen oder ähnlichem durchgeführt werden.

6 Danksagung

Die Autoren bedanken sich bei Arne Kesting (ehemaliger TRANSVER-Mitarbeiter), der den Abschlussbericht für BMW unterstützt und seine Ideen zur Definition von Staus und den Klassifikationen eingebracht hat. Darüber hinaus möchten sich die Autoren bei der Autobahndirektion Südbayern für die Bereitstellung der Daten bedanken.

7 Literatur

[1] K. Bogenberger, G. Huber, Verkehr besser verstehen und Verkehrsprobleme optimal lösen, Politische Studien 452, Hanns Seidel Stiftung, 2013. https://www.hss.de/download/publications/PS_452_Internet.pdf

[2] M. Randelhoff, Die drei Haupttheoreme der Stauforschung: Der Schmetterlingseffekt, unsichtbare Wellen (= Phantomstau) und die Tragik des Zufalls, 2017. https://www.zukunft-mobilitaet.net/3344/analyse/wie-entstehen-staus-phantomstau/

[3] ASTRA Bundesamt für Straßen Schweizerische Eidgenossenschaft, 2019. https://www.astra.admin.ch/astra/de/home/themen/nationalstrassen/verkehrsfluss-stauaufkommen/definitionen.html

[4] Bayerisches Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr, 2019. http://www.bayerninfo.de/

[5] G. Cookson, INRIX Global Traffic Scorecard 2017, Februar 2018.

[6] T. Reed, INRIX Global Traffic Scorecard 2018, Februar 2019.

[7] G. Morrison, TomTom Traffic Index 2017, Februar 2018.

[8] B. S. Kerner, H. Rehborn, Experimental Properties of Complexity in Traffic Flow, Physical Review E, 53, pp. R4275-R4278, May 1996, DOI:10.1103/physreve.53.r4275.

[9] J. Palmer, H. Rehborn, I. Gruttadauria, Reconstruction Quality of Congested Freeway Traffic Patterns Based on Kerner’s Three-Phase Traffic Theory, International Journal on Advances in Systems and Measurements, April 2011, pp. 168–181.

[10] B. S. Kerner, The Physics of Traffic, 2004, Berlin-Heidelberg: Springer, ISBN 978-3-540-40986-1.

[11] B. Bursa, N. Gajic, M. Mailer, Classification of traffic jams on alpine motorways, Transport Research Arena TRA 2018.

[12] B. S. Kerner, Introduction to Modern Traffic Flow Theory and Control – The Long Road to Three-Phase Traffic Theory, 2009, Berlin-Heidelberg: Springer, DOI:10.1007/978-3-642-02605-8

[13] D. Helbing, M. Treiber, A. Kesting, M. Schönhof, Theoretical vs. Empirical Classification and Prediction of Congested Traffic States, The European Physical Journal B, Vol. 69 (4), April 2009, pp. 583-598, DOI:10.1140/epjb/e2009-00140-5.

[14] K. Bogenberger, Stauklassifizierung und Untersuchung des Zusammenhangs Verkehrsstärke und Verkehrszusammenbruch – Abschlussbericht, 2010.

[15] M. Treiber, D. Helbing, Reconstructing the spatio-temporal traffic dynamics from stationary detector data, January 2002, Cooperative Transportation Dynamics, 1,3.1-3.24.

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[18] L. Kessler, B. Karl, K. Bogenberger, Spatiotemporal Traffic Speed Reconstruction from Travel Time Measurements Using Bluetooth Detection, to be published by IEEE ITSC 2019.

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