FGSV-Nr. FGSV 002/127
Ort online-Konferenz
Datum 13.04.2021
Titel Wieviel Stau hätten wir denn gerne?
Autoren Univ.-Prof. Dr.-Ing. Markus Friedrich
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Staubedingte Verlustzeiten im Straßenverkehr sind ein Thema von gesellschaftlicher Bedeutung. Die Unternehmen ADAC, INRIX und TomTom veröffentlichen jährlich eine Staustatistik. Sie veröffentlichen Staukilometer oder Staustunden. Ohne eine einordnende Interpretation der Werte ist die Aussage der Staustatistik klar: Die Werte sollten niedriger sein. Vor diesem Hintergrund analysiert der Beitrag die Aussagekraft verfügbarer Staudaten, macht Vorschläge zur Quantifizierung des Staus und formuliert Hypothesen zum Umgang mit dem Thema Stau.

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1 Einleitung

Jedes Jahr im Frühjahr veröffentlichen der ADAC und die Unternehmen INRIX und TomTom ihre Staustatistik. Der ADAC analysiert den Stau auf den deutschen Autobahnen [1][2], INRIX [8] und TomTom [13] liefern Kenngrößen für Städte. Alle drei Unternehmen versuchen ihre Ergebnisse zu veranschaulichen:

  • ADAC für 2018: „Die Länge aller Staus reicht also rund 38 Mal um die Erde“.
  • INRIX quantifiziert die jährlichen Staukosten pro Autofahrer und kürt eine Stauhauptstadt.
  • TomTom rechnet die ermittelten Staustunden um in die Einheiten „Anzahl gestrickte Pullis“ oder „How many times could you have listend to Imagine by John Lennon“.

Diese Ergebnisse werden dann von den Medien aufgegriffen. Viele Medien übernehmen die Pressemitteilungen mehr oder weniger unverändert und ergänzen sie nur um eine Schlagzeile („Rekord-Stillstand in Deutschland“, Auto Bild 17.01.2019). Andere Medien nutzen die Meldungen als Anlass für eine weitergehende Zustandsanalyse („Von Verkehrswende keine Spur“, Die Zeit 29.01.2020) oder als Grundlage für eine Kritik der Bundesverkehrsminister („Die drei von der Baustelle“, Süddeutsche Zeitung, 23.07.2019). In fast allen Fällen werden die Kenngrößen nicht hinterfragt, sondern als ein gegebener Wert übernommen. Beispiel für eine Ausnahme ist ein Beitrag mit dem berechtigten Titel „Wann ist ein Stau ein Stau?“ (Die Zeit, 19.03.2021).

Die Daten finden auch Eingang in verkehrspolitische Analysen. So nutzt beispielsweise der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie die Staulängen des ADAC für ein Gutachten zur Qualität der Infrastruktur [5] und stellt so fest, dass die Staulänge zwischen 2002 und 2018 um das Fünffache gestiegen ist.

Offensichtlich ist der „Stau“ ein Thema von gesellschaftlicher Bedeutung. Verkehrsteilnehmende stehen natürlich nicht gerne im Stau und Stadtverwaltungen sind nicht stolz auf den Titel „Stauhauptstadt“. Vor diesem Hintergrund analysiert der Beitrag die Aussagekraft verfügbarer Staudaten, macht Vorschläge zur Quantifizierung des Staus und formuliert Hypothesen zum Umgang mit dem Thema Stau.

2 Definition Stau und Verlustzeit

2.1 Die ADAC-Staubilanz

Der ADAC veröffentlich seit vielen Jahren eine Staubilanz für deutsche Autobahnen. Eine Staubilanz umfasst im Wesentlichen drei Kenngrößen für den Zeitraum eines Jahres:

  • Anzahl der Staus
  • Länge der Staus
  • Dauer der Staus

Der ADAC definiert einen Stau dabei als ein Ereignis, bei dem die Geschwindigkeit von 20 km/h für mindestens 5 Minuten auf einer Länge von einem Kilometer unterschritten wird. Tabelle 1 zeigt die Kenngrößen für die Jahre 2017 bis 2020. Aus den Kenngrößen lässt sich eine mittlere Staulänge und eine mittlere Staudauer ableiten. Diese Werte ermöglichen aber keine Aussage zur Verkehrsablaufqualität. Eine nachvollziehbare Kenngröße könnte die Wahrscheinlichkeit von Stauereignissen sein. Dabei wird das Produkt aus Staulänge und Staudauer über alle Stauereignisse aufsummiert und auf die gesamte Netzlänge und die Dauer des Analysezeitraums bezogen:

Formel in PDF

Mit den Werten des ADAC ergibt sich für das Jahr 2019 bei einer Autobahnlänge von 26.000 km eine Stauwahrscheinlichkeit von:

Formel in PDF

Ein Autofahrer, der seine Fahrten im Autobahnnetz räumlich und zeitlich gleichmäßig verteilt, muss also bei 0,4% seiner Fahrten oder in 40 Stunden eines Jahres mit einem Stauereignis rechnen. Dieser Wert liegt in der gleichen Größenordnung wie die Bemessungsstunde des HBS [7], das für Autobahnen den Verkehrszustand der 50. Stunde bewertet. Allerdings unterscheiden sich die ADAC-Staubilanz und das HBS. Im HBS wird eine Autobahnstrecke bereits ab einer Geschwindigkeit von 80 km/h als schlecht bewertet, beim ADAC erst ab 20 km/h. Allerdings berücksichtigt das HBS keine Einflüsse aus Arbeitsstellen und zufälligen Störungen. In den Werten des ADAC sind diese Einflüsse enthalten. Auffallend ist der deutliche Rückgang der Stauwahrscheinlichkeit im Jahr 2020, der deutlich größer ist als der Rückgang der Fahrleistung auf Autobahnen (etwa 12%).

Tabelle 1: Kenngrößen der ADAC-Staubilanz und daraus abgeleitete Wahrscheinlichkeit eines Stauereignisses (Datenquelle: [1], [2])

2.2 TomTom-Traffic-Index

Der TomTom-Traffic-Index entspricht einem Fahrzeitindex, der Ist-Fahrtzeit und Soll-Fahrtzeit ins Verhältnis setzt und den relativen zeitlichen Mehraufwand angibt1). Die Soll-Fahrtzeit wird aus der Fahrtzeit bei freiem Verkehrsfluss bestimmt. Die Ist-Fahrtzeit wird für jede Stunde des Jahres ermittelt und zu mittleren Fahrtzeiten aggregiert [6]. Daraus ergibt sich dann ein sog. Congestion-Level für jede Stunde einer Woche (siehe Bild 1) und für das gesamte Jahr . Für die Ermittlung der jährlichen Verlustzeit wird angenommen, dass ein Autofahrer an 230 Werktagen in der Morgen- und in der Abendspitze jeweils eine Fahrt durchführt, die bei freiem Verkehr 30 Minuten in Anspruch nehmen würde. Für diese zwei Fahrten wird dann die Verlustzeit bestimmt und auf das Jahr hochgerechnet.

Kritikpunkte am TomTom-Traffic-Index:

  • Es ist nicht veröffentlicht, wie die Soll-Fahrtzeiten und die Ist-Fahrtzeiten bestimmt werden (Perzentil, Median, Mittelwert).
  • Die Nutzung einer 30-minütigen Fahrt bei freiem Verkehr als Bezugsgröße ist willkürlich. In den meisten deutschen Städten kann man in der Schwachverkehrszeit die komplette Stadt in 30 Minuten durchqueren.
  • Ein großer Teil der Verkehrsnachfrage entfällt nicht auf die Hauptverkehrszeit. Die ermittelten Staustunden sind deshalb zu hoch.

Bild 1: Auszug aus den TomTom-Ergebnissen für die Stadt Stuttgart

1) Definition der Fahrtzeit von TomTom (https://www.tomtom.com/en_gb/traffic-index/about/):

  • Extra travel time per day: Extra travel time during peak hours compared to a one-hour period during free flow conditions.
  • Extra travel time per year: Extra travel time during peak hours as compared to a one-hour period during free flow conditions, multiplied by 230 working days per year.
  • Free flow: A traffic situation in which travel times are not impacted by congestion. Typically occurs at night but can happen any time of day.

2.3 INRIX-Traffic-Scorecard

INRIX ermittelt wie TomTom für jede Stadt aus der Differenz einer Ist-Fahrtzeit und einer Soll-Fahrtzeit einen Zeitverlust. Die Vorgehensweise wird in [12] in folgender Weise beschrieben: „Zur Berechnung des Zeitverlusts wurden […] die Daten zur Geschwindigkeit bei Stoßzeiten und freier Fahrt für die verkehrsreichsten Pendelstrecken und Teilbereiche ausgewertet, die sich aus der Datendichte ergeben. Anhand der Daten für freie Fahrt lässt sich ein Direktvergleich zwischen den Stoßzeiten anstellen. Diese Daten bilden auch die Grundlage für die Berechnung des Zeitverlusts.“ Als räumlichen Bezug verwendet INRIX nicht das Gebiet der jeweiligen Stadt, sondern „Fahrten aus den umliegenden Pendlervierteln in die Innenstadt und wieder zurück“. Bild 2 zeigt Beispiele für INRIX-Pendelstrecken für Stuttgart und Berlin.

Kritikpunkte am der INRIX-Traffic-Scorecard:

  • Es ist nicht veröffentlicht, wie die Soll-Fahrtzeiten und die Ist-Fahrtzeiten bestimmt werden (Perzentil, Median, Mittelwert).
  • Die untersuchten Relationen sind vermutlich nicht repräsentativ für typische Relationen im Berufsverkehr, da Wege in die Stadtmitte eher mit dem ÖV zurückgelegt werden als Ziele in anderen Stadtteilen.
  • Die Verlustzeiten betrachten nur die Hauptverkehrszeit und ermitteln daraus Jahreswerte.
  • INRIX wechselte seine Berechnungsmethode mehrmals, so dass die Werte mehrerer Jahre nicht vergleichbar sind ([9], [10], [11]). Die ausgewiesenen Verlustzeiten für das Jahr 2018 sind etwa doppelt so hoch wie die Werte für das Jahr 2019.

In Tabelle 2 sind die jährlichen Verlustzeiten von INRIX und TomTom für 10 Städte gegenübergestellt. Aufgrund unterschiedlicher Berechnungsmethoden unterscheiden sich die Ergebnisse deutlich.

Bild 2: Beispiel für INRIX-Pendelstrecken

Tabelle 2: Vergleich der Verlustzeiten von INRIX und TomTom (Datenquelle: [11], [13])

2.4 Vergleich der Datenquellen, Google, HERE, INRIX und TomTom

Im Forschungsprojekt „Methoden zur Bewertung der Verbindungsqualität in Straßennetzen“ [3] wurden Fahrtzeitdaten aus den Datenquellen, Google, HERE, INRIX und TomTom für 16 ausgewählte Relationen verglichen. Geht man davon aus, dass für die Ermittlung von Verlustzeiten immer Soll- und Ist-Fahrtzeiten einer Datenquelle genutzt werden, dann ergeben sich die in Tabelle 3 gezeigten Werte für die mittlere Verlustzeit pro Kilometer. Es ist offensichtlich, dass die Verlustzeiten maßgeblich von der Datenquelle und der Wahl der Soll-Fahrtzeit abhängen. In der letzten Zeile der Tabelle werden die Verlustzeiten – analog zu TomTom und INRIX - in jährliche Verlustzeitstunden umgerechnet. Dabei wird angenommen, dass die jährlichen Pkw-Personenkilometer einer Person in Deutschland, die im Mittel etwa 11.000 km beträgt, auf den ausgewählten Relationen stattfindet. Dieser Wert umfasst Personenkilometer als Selbstfahrer und als Mitfahrer. Je nach Wahl der Soll- und Ist-Fahrtzeiten ergeben sich Verlustzeiten von 10 bis 47 Stunden. Nachfragegewichtete Verlustzeiten führen zu höheren Werten.

Tabelle 3: Vergleich der Verlustzeiten pro Kilometer [s/km] über einen Tag (04:00 bis 22:00 Uhr) für verschiedene Ausprägungen der Soll-Fahrtzeit und der Ist-Fahrtzeit.

2.5 Fazit

Mit den aus Floating-Car-Daten oder Smartphone-Apps abgeleiteten Geschwindigkeits- bzw. Fahrtzeitdaten der Anbieter Google, HERE, INRIX und TomTom steht grundsätzlich eine geeignete Datenbasis für die Ermittlung bundesweiter Verlustzeiten zur Verfügung. Die Analysen zeigen allerdings, dass die Vorgehensweise bei der Datenaufbereitung zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen kann.

3 Hypothesen zum Stau

Hypothese 1: Stau ist ein gesellschaftliches Thema. Deswegen brauchen wir verständliche Kenngrößen.

Der größte Anteil der Verkehrsleistung im Personenverkehr entfällt auf den Pkw und der größte Anteil der Transportleistung im Güterverkehr auf den Lkw. Viele Menschen haben ihr Leben so gestaltet, dass sie auf den Pkw angewiesen sind und unsere Wirtschaftsprozesse erfordern einen Warenaustausch mit dem Lkw. Deshalb sind Verlustzeiten ein gesellschaftliches Thema. Um das Thema möglichst objektiv diskutieren zu können, benötigen wir verständliche Kenngrößen als Key-Performance-Indikatoren (KPI).

Für BürgerInnen und Medien:

  • Durchschnittliche jährliche Verlustzeit pro Kopf: Dieser Wert kann allerdings nicht für ein Stadtgebiet berechnet werden.

Für die Verkehrsstatistik:

  • Verlustzeit: Absolute Fahrzeitverlängerung pro Fahrzeugkilometer.
  • Fahrtzeitindex: Relative Fahrtzeitverlängerung in einem Zeitraum gegenüber einem ungestörten Zustand. Der Fahrtzeitindex ähnelt dem TomTom-Congestion-Level.
  • Zuverlässigkeitsindex: Relative Fahrtzeitverlängerung in einem Zeitraum gegenüber der in diesem Zeitraum üblichen Fahrtzeit. Bezugsgröße ist also nicht der ungestörte Zustand, sondern der in einem Zeitraum, z.B. der Hauptverkehrszeit, übliche Zustand.
  • Pünktlichkeitsindex: Anteil der Zeiträume, in denen die Verkehrsanlage eine vorgegebene Mindestqualität einhält. Der Pünktlichkeitsindex ähnelt der ADAC-Staubilanz und beschreibt die Verfügbarkeit der Verkehrsanlagen aus Betreibersicht.

Tabelle 4 zeigt Key-Performance-Indikatoren, die im Projekt „Entwicklung eines echtzeitverfügbaren KPI-Systems für das deutsche Autobahnnetz“ [4] vorgeschlagen werden, die aber nicht auf Autobahnen begrenzt sind.

Tabelle 4: Vorschlag für die Auswahl von Qualitätskenngrößen (KPI) zur Beschreibung der Verkehrsablaufqualität (in Anlehnung an [4])

Hypothese 2: Wir bekommen so viel Stau wie wir wollen bzw. definieren.

Es ist offensichtlich, dass die Verlustzeit von der Wahl der Bezugsgröße (Soll-Fahrtzeit oder Soll-Geschwindigkeit) beeinflusst wird. TomTom und INRIX nutzen die Fahrtzeit bei freiem Verkehr. Diese Aussage ist allerdings nicht ausreichend für eine eindeutige Definition. Eine Definition erfordert mehrere Setzungen:

  • Wahl eines Perzentils: Eine Möglichkeit zur Festlegung der Soll-Geschwindigkeit besteht in der Wahl eines Perzentils der Geschwindigkeitsverteilung in der Schwachverkehrszeit. Die Wahl des Perzentils (z. B. Perzentil P15 oder Median) beeinflusst das Ergebnis deutlich.
  • Umgang mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit: Die Soll-Geschwindigkeit sollte kleiner als die zulässige Höchstgeschwindigkeit sein.
  • Umgang mit der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen: Die Soll-Geschwindigkeit sollte auf Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung kleiner oder gleich der Richtgeschwindigkeit sein.
  • Festlegung eines Fahrtzeitpuffers: Bei der Fahrplanung im öffentlichen Verkehr ist es üblich, Pufferzeiten einzuplanen. Sie verlängern die unter optimalen Bedingungen mögliche Fahrtzeit. Ein derartiger Puffer kann auch für Fahrtzeiten im Kfz-Verkehr festgelegt werden. Im gewissen Umfang erfolgt das aber bereits über die Wahl eines Perzentils.

Wenn wir nicht wollen, dass privatwirtschaftliche Unternehmen die Staustunden in Deutschland definieren und verkünden, dann bedarf es einer staatlichen Regelung, z. B. in Form einer Richtline. Idealerweise werden die Verlustzeitstunden Teil der amtlichen Statistik und unter Aufsicht einer Einrichtung des Bundes (z.B. BASt oder BBSR) mit Hilfe kommerzieller Datenquellen ermittelt.

Hypothese 3: Wir haben „im Mittel“ kein Stauproblem.

Um mittlere Verlustzeiten zu quantifizieren, muss als Ist-Fahrtzeit die mittlere Fahrtzeit herangezogen werden, da der Mittelwert, anders als der Median, auch die Fahrtzeiten im Fall von Störungen enthält. Die Datenanbieter TomTom und HERE liefern mittlere Fahrtzeiten auf Streckenebene, die aus Floating-Car-Daten abgeleitet werden. Im Forschungsprojekt „Methoden zur Bewertung der Verbindungsqualität in Straßennetzen“ [3] wurde die Datenquelle TomTom genutzt um für 21.600 Relationen der Verbindungsfunktionsstufen 0 bis III werktägliche Fahrtzeiten zu ermitteln. Als Start- und Zielort wurde ein Knoten im Ortszentrum gewählt. Für die Sollfahrzeit wurde der Median der Schwachverkehrszeit (20:00 Uhr) genutzt. Dabei wurde sichergestellt, dass die zulässigen Geschwindigkeiten bzw. Richtgeschwindigkeit eingehalten werden.

Die Ergebnisse liefern für die werktägliche Hauptverkehrszeit (7 Uhr, 17 Uhr) im Jahr 2017 eine mittlere Verlustzeit von etwa 8 s/km und für die Nebenverkehrszeit (10 Uhr) von etwa 6 s/km. Eine Hochrechnung mit 11.000 Personenkilometer pro Jahr im Pkw ergeben einen jährlichen Verlustzeitaufwand von rund 20 Stunden. Dieser Wert ist allerdings nicht repräsentativ, da die 21.600 Relationen keine typischen Ortsveränderungen in Deutschland abbilden. Ortsveränderungen in Ballungsräumen werden unterschätzt. Ermittelt man die mittlere Verlustzeit über alle Strecken und Tageszeiten gewichtet mit der Verkehrsstärke bzw. den FCD-Hits ergibt sich eine mittlere Verlustzeit, die zwischen 13 und 15 s/km liegt. Dieser Wert ist eine Schätzung, die insbesondere im nachgeordneten Streckennetz auf Hochrechnungen von ausgewählten Regionen auf ganz Deutschland beruht.

Eine mittlere Verlustzeit von 13 bis 15 s/km entspricht einem einen jährlichen Verlustzeitaufwand von rund 40 Stunden pro Einwohner oder von etwa 7 Minuten pro Tag. Bezogen auf eine Ortsveränderung mit dem Pkw beträgt der mittlere Verlustzeitaufwand etwa 4 Minuten. Die relative Fahrtzeitverlängerung liegt bei knapp 25 %.

Sind 40 Staustunden pro Jahr oder tägliche Verlustzeiten von 7 Minuten viel? Eine Bewertung erfordert immer eine Bezugsgröße. Bezogen auf die Fahrtzeit bei freier Fahrt sind 25 % Mehraufwand viel, bezogen auf die tägliche Reisezeit von 80 Minuten mit allen Verkehrsmitteln sind 7 Minuten eher wenig. Bezogen auf eine Ortsveränderung mit dem ÖV sind 7 Minuten Verlustzeit etwa die Zeit, die ein Fahrgast täglich an Haltestellen wartet. Pkw-Nutzende können nicht erwarten, dass sie zu jeder Tageszeit die Geschwindigkeiten der Schwachverkehrszeit erreichen und dass es keine Störungen ergibt. Die Fahrtzeit bei freiem Verkehrsfluss ist deshalb als Bezugsgröße nur bedingt geeignet und erfordert in der verkehrspolitischen Diskussion eine Interpretation, die die vermeintlich hohen Staustunden erklärt. Die Analysen von FCD-Daten zeigen, dass es auf großräumigen Relationen im deutschen Straßennetz eher geringe Verlustzeiten gibt. Auf Autobahnen entfallen rund ein Drittel der Fahrleistung, aber nur etwa 15 % der Verlustzeit. Für Personen, die regelmäßig Ortsveränderungen in Ballungsräumen durchführen, liegen die Verlustzeiten allerdings deutlich über dem Mittelwert.

Hypothese 4: Die Verlustzeiten im ÖV liegen in einer ähnlichen Größenordnung wie im Pkw-Verkehr.

Einige Verkehrsunternehmen veröffentlichen Pünktlichkeitsstatistiken, die angeben, welcher Anteil der Fahrplanfahrten die Haltestellen innerhalb einer vorgegebene Pufferzeit (z.B. 5 Minuten) erreichen. Aussagen zu Verlustzeiten bezogen auf die gesamte Reisekette im ÖV von der Starthaltestelle bis zur Zielhaltestelle gibt es nicht, so dass derzeit nur Vermutungen möglich sind. Neben den Verspätungen einzelner Fahrplanfahrten, führen vor allem verpasste Anschlüsse zu Verlustzeiten. Ein verpasster Anschluss im Nahverkehr wird zu Verlustzeiten von etwa 10 Minuten führen, im Fernverkehr zu Verlustzeiten von 60 Minuten. Bei Streckensperrungen z.B. aufgrund von Notarzteinsätzen oder Oberleitungsstörungen haben Fahrgäste weniger Ausweichmöglichkeiten als Pkw-Nutzende im Straßennetz. Deswegen ist es wahrscheinlich, dass im ÖV der Anteil von Ortsveränderungen mit großen Verlustzeiten höher ist als im Pkw-Verkehr. Die mittleren Verlustzeiten werden deshalb vermutlich mindestens so hoch sein wie im Pkw-Verkehr, obwohl die ÖV-Fahrpläne bereits Pufferzeiten enthalten und planmäßige Zeitverlängerungen bei Baustellen nicht in die Pünktlichkeitsstatistik eingehen.

Eine gesellschaftliche Diskussion zu staubedingten Verlustzeiten im Pkw-Verkehr sollte immer auch die Verlustzeiten im ÖV einbeziehen. Das erfordert Methoden zur Erfassung der Verlustzeiten im ÖV.

Hypothese 5: Es gibt „guten“ und „schlechten“ Stau.

Ziel der Straßenverkehrsplanung ist es, eine angemessene Verkehrsablaufqualität sicherzustellen. Stauungen im Autobahnnetz und im überregionalen Hauptstraßennetz sind offensichtlich nicht wünschenswert. Das kann bei Zufahrtsstraßen in Orte und auf städtischen Hauptverkehrsstraßen anders sein. Hier sind in vielen Städten täglich wiederkehrende Staus in der Hauptverkehrszeit die Regel. Diese Zustände lassen sich allerdings kaum beseitigen, da die erforderliche Kapazität allein aufgrund der Flächenverfügbarkeit nicht bereitgestellt werden kann. Hier ist der Stau Teil des Nachfragegleichgewichts zwischen Pkw und ÖV. Überall dort, wo die Verkehrsnachfrage hoch ist, die Geschwindigkeiten im Pkw-Verkehr deshalb niedriger sind und der ÖV eine gute Angebotsqualität aufweist, ist der ÖV konkurrenzfähig und erreicht überdurchschnittliche Modal-Split-Anteile.

Die Kapazitätsgrenzen im Stadtverkehr lassen sich in einer räumlich differenzierten Analyse der Verlustzeiten erkennen. Während die mittleren Verlustzeiten auf Autobahnen bei etwa 5 bis 7 s/km liegen, sind die Verlustzeiten auf Stadtstraßen im Vorfeld und innerhalb bebauter Gebiete mit 20 bis 30 s/km deutlich höher. Geht man davon aus, dass etwa 2/3 dieser Verlustzeiten nachfragebedingt sind und 1/3 das Ergebnis anderer unregelmäßiger Störungen sind (Unfälle, Baustellen, Demonstrationen), dann entfallen etwa ein Drittel aller Verlustzeitstunden auf den „guten Stau“, den wir nicht reduzieren können oder wollen.

4 Schlussfolgerungen

Wir leben in einer Welt, in der wir unsere Leben und unsere Umwelt vermessen. Zahlen sind Grundlagen für Analysen und Entscheidungen:

  • Der Body-Mass-Index dokumentiert den Gewichtszustand unseres Körpers und gibt uns Hinweise auf notwendige Verhaltensänderungen.
  • Der ökologische Fußabdruck rechnet unseren Ressourcenverbrauch in Hektar um und zeigt so auf, dass wir aktiv werden müssen, um das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung zu erreichen.
  • Der Human-Development-Index beschreibt den Stand der menschlichen Entwicklung eines Landes aus dem Einkommen, der Lebenserwartung und den Ausbildungsjahren. Er ermöglicht es, den Entwicklungsbedarf eines Landes zu erkennen.

Und der Stau-Index? Er quantifiziert die Verlustzeiten oder die Staulängen im Kfz-Verkehr und dokumentiert so Orte und Zeiten, an denen die Nachfrage größer ist als die Kapazität. Im Unterschied zu den oben vorgestellten Kenngrößen, bleibt beim Stau-Index die Frage, was wir mit den Zahlen machen.

40 Staustunden oder 1,5 Mio. Staukilometer auf Autobahnen werden als hohe Werte wahrgenommen. Ohne eine einordnende Interpretation der Werte ist die Aussage klar: Die Werte sollten niedriger sein. Bei einem hohen Body-Mass-Index würden uns die Ärzte empfehlen, abzunehmen. Ein hoher Stau-Index wird dagegen meist als Indiz für Unzulänglichkeiten im Straßennetz aufgefasst, die Ausbaumaßnahmen erfordern. Daraus ergeben sich aus Sicht des Autors folgende Schlussfolgerungen:

  • Wir sollten die Verlustzeiten für alle Verkehrsmittel mit einheitlichen Methoden quantifizieren. Die Entwicklung der Methoden ist Aufgabe der Verkehrsforschung. Die Festlegung der Soll-Fahrtzeit ist eine verkehrspolitische Setzung. Die Anwendung der Methoden sollte eine staatliche Aufgabe sein.
  • Die Ergebnisse sollten veröffentlicht werden, um die Deutungshoheit über Staustatistiken nicht privaten Unternehmen zu überlassen. Wie bei der Vorstellung der Erhebung „Mobilität in Deutschland“ sollten die Ergebnisse dabei fachlich eingeordnet werden.
  • Räumlich und zeitlich differenzierte Auswertungen der Key-Performance-Indikatoren zur Verkehrsablaufqualität sollten dann genutzt werden, um die Verkehrsplanung und das Verkehrsmanagement verkehrsmittelübergreifend zu verbessern. Die Lösungen bestehen nicht nur im Straßenausbau.

5 Literatur

  1. ADAC (2019): Staubilanz 2018. Online verfügbar unter adac.de/-/media/pdf/vek/fachinformationen/statistiken/staubilanz-adac-statistik.pdf, zuletzt geprüft am 18.03.2021.
  2. ADAC (2021): Staubilanz 2020. Online verfügbar unter presseportal.de/download/document/746523-adac-staubilanz-2020-bundesweit.pdf, zuletzt geprüft am 18.03.2021.
  3. Bawidamann, J., Friedrich, M. Peter, L., Waßmuth, V. (2020): Methoden zur Bewertung der Verbindungsqualität in Straßennetzen. Forschungsprojekt FE 01.0197/2016/FRB, im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen.
  4. Bawidamann, J., Friedrich, M. Janko, J., Peter, L., Schick, N., Waßmuth, V. (2020): Entwicklung eines aktuellen, echtzeitverfügbaren Key Performance Indicator (KPI) Systems für das deutsche Autobahnnetz. Forschungsprojekt 21.0059/2017, im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen.
  5. BMWi (2020): Öffentliche Infrastruktur in Deutschland: Probleme und Reformbedarf. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.
  6. Cohn, N. (2014): TomTom Traffic Index: Toward a Global Measure, ITS France, Paris.
  7. HBS (2015): Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen HBS, Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV).
  8. INRIX: INRIX Global Traffic Scorecard. URL: https://inrix.com/scorecard/
  9. INRIX Research (2018): INRIX Global Traffic Scorecard 2017.
  10. INRIX Research (2019): INRIX Global Traffic Scorecard 2018.
  11. INRIX (2020): INRIX Verkehrsstudie: Stau verursacht Kosten in Milliardenhöhe. Online verfügbar unter https://inrix.com/press-releases/2019-traffic-scorecard-german/, zuletzt geprüft am 18.03.2021.
  12. INRIX Research (2021): INRIX Global Traffic Scorecard 2020.
  13. TomTom: TomTom Traffic Index. URL: https://www.tomtom.com/en_gb/traffic-index/