Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.
Die Gestaltung des städtischen Verkehrs steht vor einer Herausforderung, weil zusätzlich zu den etablierten Verkehrsträgern (mit ebenso etablierten Methoden der Angebotsplanung) neue Anbieter mit Angeboten in den Markt drängen, die über lange Zeit stabile Mobilitätsgewohnheiten ins Wanken bringen könnten. Sie versprechen einerseits individuellen Reisenden bequeme, preiswerte Mobilität, andererseits Städten Lösungen für drängende Verkehrsprobleme vom Stau über den Flächenverbrauch des ruhenden Verkehrs bis hin zu einer effizienteren Alternative für den hochsubventionierten ÖV. Angesichts so attraktiver Systemvorteile lohnt sich ein genauer Blick auf die neuen Angebote, für die Begriffe wie „New Mobility“, „Shared Mobility“, „Mobility on Demand“ und „Mobility as a Service (MaaS)“ gängig sind. Wir verwenden hier einheitlich die Bezeichnung MaaS.
Zu den wichtigen Fragen gehören:
– Welche Beförderungsqualität kann MaaS im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln bieten?
– Welche Verlagerungen zwischen Verkehrsmitteln sind daraus zu erwarten?
– Wie stark variiert die gebotene Beförderungsqualität in Raum und Zeit (Tagesverlauf)? Ist insbesondere der diskriminierungsfreie Zugang gewährleistet?
– Beeinflussen die neuen Angebote die Qualität der übrigen Verkehrsmittel? Sinkt insbesondere wie erhofft die Verkehrsleistung oder steigt sie sogar?
– Sind für einen erfolgreichen Betrieb flankierend Änderungen an der Verkehrsinfrastruktur erforderlich?
– Wie können Städte den Ausbau von MaaS-Angeboten aktiv lenken und damit den Nutzen aus Sicht der Bürger maximieren?
Den neuen Angeboten gemeinsam ist ein Geschäftsmodell, bei dem der private Besitz von Mobilitätsinstrumenten (insbesondere dem Auto) abgelöst wird durch Inanspruchnahme von Mobilitätsdiensten genau dann, wenn man sie braucht. Zur Begriffsklärung zeigt Bild 1 das Ökosystem rund um die neuen Angebote und die möglichen Rollen, die Anbieter in diesem Ökosystem einnehmen können.
Bild 1: Marktteilnehmer und Systemkomponenten im Bereich MaaS
In der Mitte des Bildes findet sich die Schicht der Transport-Anbieter, zu denen die klassischen ÖV-Betreiber und Taxi-Unternehmen gehören. Schon seit Längerem sind auch hierzulande Anbieter von Car/Bike-Sharing am Markt. Vergleichsweise neuer sind dagegen Anbieter wie Uber, Lyft oder Moia, die Taxi-(Ride hailing) oder Sammeltaxi-(Ride pooling) Dienste anbieten. Sie vermitteln dabei über Smartphone-Apps zwischen den Fahrgästen und den Fahrern, die in einigen Fällen nicht angestellt sind und die Leistungen mit eigenen privaten Fahrzeugen erbringen. Mobilitätsanbieter wie MaaS Global, whim oder moovel beschränken sich dagegen vollständig auf die Aggregation von Diensten mehrerer Transportanbieter auf einer einheitlichen Plattform und bündeln diese oft zu vereinheitlichten kommerziellen Angeboten (Bundles). Schließlich gibt es reine Zulieferer wie bestmile, switch oder PTV, die Software-Komponenten (z. B. für die optimierte Zuordnung von Fahrgästen zu Fahrzeugen, die sogenannte Disposition) anbieten. Alle Kombinationen der Spielarten existieren, und in neuester Zeit experimentieren zunehmend auch klassische ÖV-Betreiber mit diesen Formaten (z. B. BVG und SSB mit ergänzenden Ridesharing-Angeboten sowie Stadtwerke Augsburg mit einem MaaS-Bundle).
Trotz des Medienechos steht der praktische Einsatz von MaaS in Europa noch ganz am Anfang. Deshalb gibt es noch wenige belastbare Aussagen zu den tatsächlichen Wirkungen. Die Erwartungen werden überwiegend durch Simulationsstudien bestimmt, z. B. der viel zitierten Lissabon-Studie der OECD (OECD, 2015). In USA sind dagegen einige Formen schon seit ca. 10 Jahren am Markt. Zwar ist auch dort die Datenverfügbarkeit problematisch, aber gerade auf der TRB-Konferenz 2019 wurden eine Reihe von Auswertungen vorgestellt. In diesen zeigt sich, dass nach Einführung eines MaaS-Angebots in vielen Städten die Verkehrsleistung auf der Straße zunimmt und die Zahl der ÖV-Fahrgäste abnimmt. Die Untersuchungen sind anspruchsvoll, weil einerseits für statistische aussagefähige Ergebnisse Daten aus mehreren Jahren ausgewertet werden müssen, andererseits der MaaS-Effekt von alternativen Erklärungen (z. B. zunehmender Pkw-Besitz, rückläufiges ÖV-Angebot) abgegrenzt werden muss. Dabei erwies sich für alle untersuchten nordamerikanischen Städte außer San Francisco MaaS als stärkster Treiber sinkender ÖV-Fahrgastzahlen (Graehler, 2019; Taylor, 2019). Befürworter halten diesen Beobachtungen entgegen, dass MaaS bislang nur einen kleinen Marktanteil besitzt, überwiegend in Schwachlastzeiten oder im Randbereich der Städte genutzt werde und die Effizienz durch gemeinsame Beförderung mehrerer Personen höher ist als im IV. Empirische Beobachtungen widerlegen alle diese Behauptungen.
Aufgrund dieser Beobachtungen kann man nicht davon ausgehen, dass das freie Spiel der Marktkräfte zu einer gesellschaftlich gewünschten Lösung führt. Eine Lenkung durch Preise und/oder Regulierung erscheint erforderlich. Exemplarisch wird im Nahverkehrsplan des Landes Berlin (Landgraf, 2018) die Genehmigungsfähigkeit bedarfsgesteuerter Verkehre an die Bedingung geknüpft, dass sie dem öffentlichen Verkehrsinteresse dienen, wobei folgende Kriterien genannt werden:
– Verringerung Verkehrsaufwand,
– Förderung Klima- und Umweltschutz,
– Förderung Verkehrssicherheit,
– Stärkung Umweltverbund durch Zu-/Abbringerfunktion,
– Keine Erhöhungen von Behinderungen der Verkehrsmittel des Umweltverbundes.
Dementsprechend werden für die Erprobung von Bedarfsverkehren gezielt Quartiere ausgewählt, in denen diese Kriterien mit höherer Wahrscheinlichkeit erreicht werden, z. B. wegen schlechter Erschließbarkeit durch klassischen ÖV. Eine besondere Herausforderung stellt sich bei der Preisbildung. Liebchen (Liebchen, 2018) weist darauf hin, dass MaaS auch preislich konkurrenzfähig zum privaten Pkw sein muss, wenn Autofahrer gewonnen werden sollen. Andererseits wird MaaS damit in Verbindung mit der räumlich-zeitlichen Flexibilität zur attraktiven Alternative auch für ÖV-Fahrgäste, so dass Abwanderung droht. Das letzte im Nahverkehrsplan genannte Kriterium verweist auf mögliche Auswirkungen von MaaS auf den Verkehrsfluss, jenseits der reinen Verkehrsleistung. Bereits jetzt ist in Städten mit höherer MaaS-Nutzung zu beobachten, dass die zahlreichen Haltevorgänge für Aufnehmen und Absetzen von Fahrgästen, oft mangels geeigneter Ausweichmöglichkeiten mit Halt auf dem normalen Fahrstreifen, den restlichen Verkehr behindern. Daraus resultiert eine Kapazitätsminderung der betroffenen Straßen sowie ggf. Verspätungen im straßengebundenen ÖV.
Zusammengefasst hat die Einführung von MaaS komplexe Auswirkungen: erwünschte und unerwünschte Verlagerungseffekte zwischen den Verkehrsmitteln, verschiedene Einflüsse auf den Verkehrszustand, schließlich das Potenzial für induzierten Verkehr. Bei der Entscheidung über gestalterische Eingriffe, durch Preisinstrumente oder Regulierung, können wie in anderen Bereichen der Verkehrsplanung Untersuchungen in Verkehrsmodellen unterstützen.
Wie lassen sich MaaS-Angebote in einem Verkehrsmodell berücksichtigen? Beim gängigen 4-Stufen-Modell liegt es nahe, die neuen Angebote als zusätzliche Alternativen auf der Ebene der Verkehrsmittelwahl einzufügen (Bild 2).
Bild 2: Einbettung von MaaS-Angeboten in ein hypothetisches Verkehrsnachfragemodell. MaaS1 und MaaS2 stehen beispielhaft für mehrere alternative Angebote
Auf diese Weise ist zunächst der Fall abgedeckt, bei dem MaaS als exklusiv genutzte Alternative den übrigen Verkehrsmitteln gegenübersteht. Wie für jedes andere Verkehrsmittel wird auch für MaaS ein Routenwahlmodell (Umlegung) benötigt, das abbildet, welchen Weg Personen von der Quelle zum Ziel nehmen würden und welche generalisierten Kosten (Fahrzeit, Wartezeit, Zu/Abgangszeit, Fahrpreis) anfallen. Im Gegensatz zum klassischen ÖV zeigt sich, besonders im Fall des Ride Pooling, dass die Reisezeit stärker durch die Betriebsweise des MaaS-Systems (z. B. die Effizienz der Disposition) bestimmt ist als durch eigene Entscheidungen des Fahrgasts. Sie hängt insbesondere auch von allen übrigen Fahrtwünschen ab statt nur von Start/Ziel der betroffenen Person, weil die Bündelung mehrerer Personen auf das gleiche Fahrzeug Warte- und Fahrzeit beeinflusst. Das „Umlegungsverfahren“ für MaaS im Rahmen des Verkehrsmodells muss hierzu die Disposition des MaaS-Betreibers nachbilden – ein Typ von Optimierung, der in üblicher Verkehrsmodellierungssoftware fehlt und erst in jüngster Zeit ergänzt wird.
Aus Sicht des einzelnen Fahrgasts ergibt sich daraus eine Unsicherheit über die zu erwartende Reisezeit, und zwar nicht nur im Störungsfall (Verspätung), sondern bereits bei Normalbetrieb. Simulationsexperimente zeigen dabei eine breite Streuung. Darüber hinaus steigen die Reisezeiten nicht monoton mit dem Niveau der Nachfrage, sondern liegen bei mittlerer Nachfrage tendenziell höher als bei geringer und hoher Nachfrage. Dieser überraschende Effekt ergibt sich daraus, dass bei niedriger Nachfrage der Großteil der Fahrgäste doch exklusiv bedient wird, wogegen im Fall hoher Nachfrage ausreichend viele Fahrtwünsche für nahezu umwegfreie Disposition vorliegen. Nur im mittleren Bereich müssen sich relativ stark voneinander abweichende Fahrtwünsche ein Fahrzeug teilen. Ein solcher nicht-monotoner Verlauf ist modelltechnisch problematisch, weil kein reibungsloses Einschwingen auf einen Gleichgewichtszustand erwartet werden kann. Die Stochastik der Reisezeiten ist nicht einer unzulänglichen Modellbildung geschuldet, sondern der Natur der MaaS-Dienste. Insofern dürfte der beste Lösungsansatz darin bestehen, die Variabilität der erwarteten Reisezeit explizit als Nutzenbestandteil in das Verkehrsmittelwahlmodell aufzunehmen. Noch anspruchsvoller ist die Modellierung der intermodalen Kombination von MaaS mit klassischem ÖV, also die Nutzung von MaaS für die erste/letzte Meile. Etablierte Verfahren für die Routenwahl im ÖV (Gentile; Nökel, 2016) unterstellen fest vorgegebene, pünktlich befolgte Fahrpläne und nutzen effiziente Suchverfahren für Verbindungen im Fahrplan-Graph. Der von MaaS beigesteuerte Teil des gemeinsamen Angebots bildet sich dagegen erst dynamisch durch die Nachfrage und verändert sich sogar noch während der Ausführung der Fahrten. Praktikable und realistische Umlegungsverfahren für die intermodale Kombination sind Gegenstand aktueller Forschung und Entwicklung. Operative Fragen schließlich, wie die Kapazitätseffekte der Halte von MaaS-Fahrzeugen, lassen sich mittels mikroskopischer Verkehrsflusssimulation untersuchen, wie sie für verkehrstechnische Untersuchungen allgemein gängig ist.
Derartige Verkehrsmodelle liefern Städten und Kommunen wertvolle Hinweise:
– Reisezeiten und -kosten für die Nutzung von MaaS als Grundlage für die Verkehrsmittelwahl,
– Räumliche/zeiltliche Verteilung von Reisezeitvorteilen durch MaaS und damit die Überprüfung der Hypothese flächendeckend verbesserter Erreichbarkeit,
– Wirtschaftlichkeitsrechnung für den MaaS-Betrieb, damit objektivere Ermittlung berechtigter Subventionsforderungen im Gegenzug für geforderte Bedienqualität,
– Auswirkungen auf Verkehrsleistung und Auslastung des Straßennetzes,
– Optimale Lage von intermodalen Verknüpfungspunkten zwischen ÖV und MaaS für erste/ letzte Meile,
– Umweltwirkungen.
Obwohl erkennbar ist, aus welchen Bausteinen ein MaaS umfassendes Verkehrsmodell aufgebaut werden kann und wie die neuen Bestandteile (z. B. Nachbildung des Dispatchings) implementiert werden können, bleibt als Schwachpunkt die große Unsicherheit über alle Modellparameter, die sich auf das Fahrgastverhalten beziehen. Solange MaaS-Dienste sich noch überwiegend im frühen Testbetrieb befinden, sind belastbare Werte für die Elastizitäten zwischen den Verkehrsmitteln oder z. B. die Gewichtung der Reisezeitunsicherheit in der Nutzenfunktion schwer zu ermitteln.
Umso mehr empfiehlt sich rechtzeitig mit Monitoring und darauf aufbauender Begleitforschung zu beginnen. Auch zum Monitoring hat die Senatsverwaltung Berlin konkrete Vorschläge entwickelt (Bild 3).
Bild 3: Empfehlungen zum Monitoring aus dem Nahverkehrsplan des Landes Berlin
Für die Prognose zukünftiger Nachfrage ist es wichtig, aus dem beobachteten Verhalten der MaaS-Nutzer Erkenntnisse über ihre Präferenzen zu erhalten. Ebenso wichtig ist es jedoch, die Nicht-Nutzer zu befragen. Stated Preference-Befragungen können Aufschluss darüber geben, unter welchen Bedingungen weitere Verlagerungen zu erwarten sind und ob (noch) nicht eingetretene Verlagerungen nur auf Unkenntnis der neuen Angebote zurückzuführen sind.
Zusammenfassung
Die möglichen positiven Wirkungen neuer Mobilitätsangebote sind so attraktiv, dass Städten und Kommunen nur empfohlen werden kann, sich mit ihnen konstruktiv auseinanderzusetzen. Nach Erkenntnissen aus den USA, wo solche Dienste am längsten angeboten werden, drohen mögliche Fehlentwicklungen (aus gesellschaftlicher Perspektive), wenn die Ausgestaltung der Dienste allein den Anbietern überlassen wird. Die Entwicklung einer ausgewogenen Strategie zur Lenkung des Ausbaus ist eine wichtige Aufgabe städtischer Verkehrsplanung und profitiert wie andere solche Aufgaben von geeigneten Verkehrsmodellen.
Literaturverzeichnis
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L i e b c h e n, C: Aspekte der Gestaltung von On-Demand Ride-Sharing Systemen aus der Sicht von Städten, Braunschweiger Verkehrskolloquium, April 2018
OECD, Urban Mobility System Upgrade, https://www.itf-oecd.org/urban-mobility-system-upgrade-1, accessed on 15.02.2019
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