FGSV-Nr. FGSV 002/96
Ort Stuttgart
Datum 16.03.2011
Titel Vom Katastrophen- und vom dynamischen Straßenverkehrsmanagement lernen – Störfallprogramme bei Betriebsstörungen im Schienenverkehr
Autoren Dipl.Wi-Ing. Friederike Chu, Dipl.Wi-Ing. Leif Fornauf
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Betriebsstörungen im Bahnbetrieb führen zu Unregelmäßigkeiten im Betriebsablauf und zu zusätzlichen Betriebskosten. Da Störungen nicht vermieden werden können, müssen Wege des effizienten Umgangs mit diesen gefunden werden. Dabei dürfen sich die Bemühungen nicht nur auf Optimierungsansätze zur Konfliktlösung und zur Anschlusssicherung beschränken. Abgeleitet von den Prinzipien des Katastrophenmanagements wird im vorliegenden Beitrag auf die ebenfalls notwendigen organisatorischen Aufgaben der Vorsorge und Vorbereitung im Rahmen eines umfassenden Störfallmanagements eingegangen. Weiterhin wird der Einsatz von Störfallprogrammen als adäquate Lösung dieser Aufgaben vorgestellt.

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1 Einleitung

Betriebsstörungen sind in dem von vielfältigen externen Einflüssen mitbestimmten Bahnbetrieb unvermeidbar und führen zu Abweichungen vom Fahrplan – zum Beispiel durch Störungen der Infrastruktur, Ausfälle des Rollmaterials, Unfälle oder extreme Witterungsverhältnisse. Auswirkungen dieser Abweichungen sind beispielsweise eine unwirtschaftliche Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Infrastruktur, eine verringerte Pünktlichkeit und somit eine sinkende Kundenzufriedenheit. Betriebsstörungen verursachen demzufolge sowohl direkte als auch indirekte Folgekosten und stehen dem Qualitätssowie dem Pünktlichkeitsziel im Eisenbahnverkehr entgegen. Deshalb müssen strukturierte Wege gefunden werden, um ihnen zu begegnen.

Der Fokus dieses Beitrags besteht jedoch nicht in der Beseitigung des Störungsgrundes im Rahmen des Notfallmanagements, z.B. durch die Sicherung und Beseitigung von Unfallstellen, der Koordination von Rettungseinsätzen oder ähnliches. Dergleichen sind auch Algorithmen zur Lösung von Belegungskonflikten bzw. zur Entscheidung ob Züge warten oder nicht, nicht Thema dieses Beitrags. Im Vordergrund stehen die Sicherstellung eines angepassten Betriebs und der Leistungsversprechen sowie die adäquate Steuerung der Reisendenströme während der gesamten Störfalldauer. Dieses Bestreben wird im Folgenden als „Umgang mit Betriebsstörungen im Schienenverkehr“ bezeichnet.

Das erste Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, auf der Basis von Erkenntnissen des Katastrophenmanagements, ein allgemeines Rahmenwerk zum integrierten Management von Betriebsstörungen im Schienenverkehr zu erarbeiten. Die Anwendung eines solchen Rahmenwerks soll Handlungslücken im Umgang mit Betriebsstörungen im Schienenverkehr aufzeigen und damit einen allgemeinen Beitrag zur Verbesserung der Betriebsqualität im Schienenverkehr leisten.

Das zweite Ziel besteht in der Darstellung des sich aus den Handlungslücken ergebenden Forschungsbedarfs im Bereich Vorsorge und Vorbereitung auf Betriebsstörungen. Hierbei wird speziell auf die Entwicklung von Störfallprogrammen für Strecken mit Mischverkehr und für hochbelastete Strecken im Schienenverkehr eingegangen und es werden erste Lösungsansätze beschrieben. Unter Störfallprogrammen werden vorgefertigte Dispositionsszenarien im Falle von (teilweise) nicht verfügbarer Infrastruktur verstanden, in deren Rahmen ausgewählte und vorab definierte Maßnahmen umgesetzt werden (nach [1] und [2]). Eine allgemeine Anwendung solcher Störfallprogramme und der damit verbundenen standardisierten Informationskette unterstützt die schnelle, effiziente und kundenorientierte Bewältigung von Betriebsstörungen. Somit wird ein spezieller Beitrag zur Verbesserung der Betriebsqualität im Schienenverkehr geleistet.

Der Artikel ist wie folgt gegliedert: Eingangs werden Betriebsstörungen im Kontext des vorliegenden Beitrags kurz beschrieben. Ausgehend von den Parallelen zwischen Charakteristiken von Naturkatastrophen und Betriebsstörungen wird der sogenannte Katastrophenzyklus auf den Umgang mit Betriebsstörungen im Schienenverkehr übertragen. Dabei werden vier Hauptaufgaben identifiziert und definiert. Aus diesem Rahmenwerk für den Umgang mit Betriebsstörungen werden Handlungslücken in Bezug auf proaktive Ansätze des Störfallmanagements verdeutlicht und die Vorausplanung von und Vorbereitung auf Betriebsstörungen als Lösungsansatz etabliert. Anschließend folgt eine kurze Diskussion dieses Lösungsansatzes. Nach der Identifikation des allgemeinen Forschungsbedarfs im Bereich des Störfallmanagements wird das spezielle Handlungsfeld der Störfallprogramme als Bestandteil von Vorsorge und Vorbereitung vorgestellt sowie der für die Etablierung notwendige Forschungsbedarf beschrieben.

2 Beschreibung von Betriebsstörungen im Schienenverkehr

Bei Betriebsstörungen im Schienenverkehr handelt es sich um ein Ereignis oder eine Serie von Ereignissen, welche dazu führen, dass Fahrpläne und Umlaufpläne für Personal und Fahrzeuge nicht eingehalten werden können (nach [1]).

Die Ursachen für Störungen im Bahnbetrieb sind vielfältig und können allgemein in folgende Bereiche eingeteilt werden (nach [4]):

- Störungen des Fahrwegs und der Leitund Sicherungstechnik (z.B. Baumaßnahmen, Oberleitungsstörungen, Störungen von Weichen oder Signalen etc.),

- Störungen des Betriebsablaufs (z.B. Anschlusssicherung, fehlendes Personal, Triebfahrzeugstörungen, verspätete Zugübergabe, Abweichungen von der geplanten Zugbildung etc.),

- Störungen der Verkehrsstationen (z.B. Baumaßnahmen, fehlendes Personal etc.),

- Störungen der Energieversorgung und

- Sonstiges (z.B. gefährliche Ereignisse, Witterung, Einwirkungen von außen).

Trotz der Vielfältigkeit der Störungsursachen ergeben sich lediglich zwei Hauptfolgen für den Eisenbahnbetrieb. Zum Einen können Verspätungen durch einzelne, punktuelle Störungen verursacht werden, die sich anschließend im gesamten Netz fortpflanzen. Dabei handelt es sich um zeitliche Abweichungen vom Fahrplan, also um Verzögerungen im Betriebsablauf. Zum Anderen können größere oder großräumige Störungen zeitweise zu einer eingeschränkten Verfügbarkeit des Netzes (Teilsperrung) bzw. zu einer Vollsperrung von Netzabschnitten und somit zu zeitlichen und räumlichen Abweichungen vom Fahrplan führen.

3 Rahmenwerk für den Umgang mit Störungen im Schienenverkehr

Vergleicht man die o.g. Beschreibung von Betriebsstörungen im Schienenverkehr mit der Definition des Katastrophenbegriffs im Zivilschutz, so gibt es keine offensichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Begriffen. Trotzdem lassen sich Parallelen erkennen: Naturkatastrophen können sich wiederholen und sind i.d.R. nur bedingt vorhersagbar. So werden auffällige Regionen, wie z.B. Erdbebenareale, heutzutage überwacht und auch die Zeiträume zwischen dem Auftreten von Beben sind statistisch beschrieben [6]. Ausgehend davon, dass sich Katastrophen wiederholen, lässt sich der Umgang mit Katastrophen im sogenannten Katastrophenzyklus abbilden (siehe Abbildung 1, [6]), aus welchem sich die vier Hauptaufgaben Vorsorge, Vorbereitung, Bewältigung der Katastrophe und Rückkehr zur Normalität (engl. mitigation, preparation, response und recovery) ableiten lassen.
Auch Betriebsstörungen im Schienenverkehr wiederholen sich. Störungen sind i.d.R. zwar nicht eindeutig prognostizierbar, aber es ist zu erkennen, dass sie bestimmten Mustern und Regeln folgen und wiederholt auftreten – auch wenn diese Muster noch erforscht werden müssen (siehe Abschnitt 4, [7]). Deshalb können für den Umgang mit Störungen im Schienenverkehr ebenfalls ein Störfallzyklus (siehe Abbildung 2) sowie die dazugehörigen Hauptaufgaben (siehe Tabelle 1) Vorsorge, Vorbereitung, Aufrechterhaltung des Betriebs und Rückkehr zum Fahrplan formuliert werden.

Von den fünf Phasen des Störfallzyklus sind die Phasen der Störung, des Einschwingens und des Normalbetriebs i.d.R. bedeutender als die Phase des Wiederaufbaus und die Phase vor dem Störfall. Eine Phase des Wiederaufbaus bedingt eine vorhergehende massive Schädigung der Eisenbahninfrastruktur, welche verhältnismäßig selten einen Grund für Betriebsstörungen darstellt. Je nach Sichtweise ist die Phase vor dem Störfall und damit auch die Aufgabe einer Vorbereitung von geringer Bedeutung, wenn davon ausgegangen wird, dass sich Störfälle im Eisenbahnbetrieb i.d.R. nicht ankündigen. In einem Hochwasserszenario mit möglichem Dammbruch kündigt sich die Gefahr bspw. durch steigende Pegelstände flussaufwärts an. In diesem Fall verbleibt ein gewisser Zeitraum, um verschiedene dispositive Maßnahmen – wie die Bereitstellung von Sandsäcken und eine vorsorgliche Evakuierungen – zu ergreifen. Bei einfachen Betriebsstörungen, wie bei einem Weichenausfall, steht eine solche Vorwarnzeit dagegen nicht zur Verfügung. Betrachtet man jedoch Betriebsstörungen, welche durch langfristig geplante Großereignisse verursacht werden, so ist hier eine Phase der Vorbereitung – bspw. durch rechtzeitige Mobilisierung von zusätzlichem Personal – möglich.

Bild 1: Katastrophenzyklus nach [6]

Bild 2: Abgeleiteter Störfallzyklus für Betriebsstörungen im Schienenverkehr

Tabelle 1:Definition der Hauptaufgaben im Umgang mit Störungen im Eisenbahnbetrieb (in Anlehnung an [6]

Ein weiterer Unterschied zwischen dem Katastrophenzyklus nach [6] und dem vorgeschlagenen Störfallzyklus für Betriebsstörungen im Schienenverkehr besteht in deren zeitlichem Ablauf. Während zwischen zwei Hochwasserereignissen in derselben Region Monate oder Jahre vergehen können, kann im Eisenbahnbetrieb diese „Ruhephase“ in einem Netzabschnitt u.U. sehr kurz sein. Dies ergibt sich aus dem Grund, dass verschiedene Ursachen zu Störfällen führen können und diese sich gleichzeitig oder in kurzer Abfolge ereignen können. Einzelne Phasen von zeitgleich auftretenden Störfällen können sich also überlagern und verstärken. Trotzdem ist es sinnvoll, im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung, die einzelnen Phasen abzugrenzen und Maßnahmen zur Erfüllung der jeweiligen Hauptaufgaben zu planen. Aus diesem Umstand heraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass der Umgang mit Störfällen einerseits störfallspezifisch, andererseits auch in einer störfallübergreifenden, integrierten Vorgehensweise erfolgen muss.

4 Klassifikation bestehender Handlungsansätze im Schienenverkehr

Ausgehend von den in Tabelle 1 definierten Hauptaufgaben zum Umgang mit Betriebsstörungen im Schienenverkehr wurden in der Praxis bestehende Handlungsansätze entsprechend zugeordnet (siehe Tabelle 2). Die durchgeführte Literaturrecherche zeigt, dass vor allem die Konstruktion robuster Fahrpläne sowie Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Betriebs im Fokus von Forschung und operativen Bemühungen stehen. Viele der Ansätze sind oft reaktiv und analytisch geprägt [3], [7], [9], [13] mit dem Ziel der rechnerunterstützten Disposition [10]. Organisatorisch geprägte oder integrierte Ansätze sind in der Literatur nur schwer zu finden [3]. Auch die theoretische Untermauerung von Ansätzen für eine schnelle Rückkehr zum Ausgangsfahrplan fehlt.

Tabelle 2: Auswahl bestehender Handlungsansätze zum Umgang mit Betriebsstörungen im Schienenverkehr

Weiterhin fällt auf, dass die theoretische Beleuchtung von vorsorgenden oder vorbereitenden Ansätzen, wie z.B. der Erstellung von Störfallprogrammen für den Schienenverkehr, in der Literatur fehlt. Zwar wird in [3] darauf hingewiesen, dass vorgefertigte Szenarien als Indikatoren für Dispositionsentscheidungen dienen können und dass v.a. in stark befahrenen Netzen „angemessene Notszenarien“ für einen alternativen Betrieb benötigt werden. Auf die Fragestellung, wie solche Notszenarien bzw. Störfallprogramme im Schienenverkehr erstellt werden könnten, wird jedoch keine Antwort gegeben. Auch in der übrigen Literatur lassen sich bis auf das Praxisbeispiel der Münchener S-Bahn [1] und Informationen über ein bestehendes Informationssystem der Österreichischen Bundesbahnen zum Störfallmanagement [11] keine Antworten auf diese Fragestellung finden.

Führt man die oben begonnenen Parallelen zwischen Störfallmanagement und dem Katastrophenmanagement weiter, sind aber gerade die proaktiv vorsorgenden und vorbereitenden Handlungsansätze von großer Bedeutung für ein effizientes und effektives Bewältigen von Störfällen. Im Katastrophenmanagement bildet die Erstellung eines Katastrophenplans den Rahmen aller Aktivitäten. Dies lässt sich ebenfalls auf den Schienenverkehr übertragen – durch Störfallprogramme.

5 Diskussion „Planung im Voraus“ vs. „ständige Umplanung“ und genereller Forschungsbedarf

Im vorhergehenden Teil des vorliegenden Beitrags wird vorsorgende Planung als Basisstrategie für einen effektiven und effizienten Umgang mit Betriebsstörungen im Schienenverkehr identifiziert. Recherchen haben jedoch gezeigt, dass auch die Philosophie der ständigen Umplanung [16] bzw. die der Echtzeitdisposition [7] als Alternative zur vorsorgenden Planung betrachtet werden kann. Beide Ansätze sollen im Folgenden kurz diskutiert werden. In [16] wird Störfallmanagement folgender Maßen definiert: „Am Anfang einer Operation steht ein optimaler (…) Plan, welcher durch die Verwendung bestimmter Optimierungsmodelle und Lösungsansätze erstellt wurde. Während ein solcher operativer Plan ausgeführt wird, können Störungen auftreten (…). Dies kann dazu führen, dass ein operativer Plan nicht mehr optimal ist oder sogar undurchführbar wird. Deshalb ist es notwendig, den Plan dynamisch zu überprüfen, um einen neuen Plan zu erhalten, welcher die Ziele und Beschränkungen der veränderten Umwelt einbezieht und gleichzeitig die negativen Effekte der Störung berücksichtigt.“ (übersetzt nach [16]). Das Hauptargument dieser Philosophie des ständigen Umplanens ist, dass man Situationen nie exakt antizipieren kann. Dies sei vor allem in komplexen und von externen Faktoren beeinflussten Systemen, wie z.B. dem Luftverkehr der Fall. Dementsprechend sollte dieser Ansatz ebenfalls im Schienenverkehr eingesetzt werden.

Dagegen steht die Begründung der Philosophie der Vorausplanung bestimmter Störszenarien, da „kurzfristige Planungen (…) nicht effizient während einer Krise improvisiert werden [können], da es unwahrscheinlich ist, dass genügend Zeit zum Sammeln und Analysieren von Informationen besteht.“ (übers. nach [6]).
Diese eher gegensätzlichen Betrachtungsweisen sind unserer Meinung nach beide Teil der Antwort auf den Umgang mit Betriebsstörungen im Schienenverkehr. Legt man die Erfahrungen des Luftverkehrs zu Grunde, ist ein agiles, situationsgerechtes, rechnergestütztes Anpassen des Betriebsablaufs sowie der Personalumlaufpläne wünschenswert. Eine Übertragung auf den Bahnbetrieb stellt aufgrund der höheren Komplexität des Bahnbetriebes eine große Herausforderung dar: So fanden im Netz der DB AG 2009 pro Tag ca. 32.000 Zugfahrten statt [17], während beispielsweise der Lufthansa Konzern 2009 durchschnittlich rund 2.400 Flüge pro Tag abwickelte [18]. Für eine Echtzeitunterstützung von Dispositionsentscheidungen im Eisenbahnbetrieb besteht demnach noch ein großer Forschungsund Entwicklungsbedarf in Bezug auf rechnergestützte Entscheidungssysteme unter Einbezug von Echtzeitdaten sowie auf entsprechende Optimierungsmodelle, Ressourcen und Algorithmen. Diese Aufgabe wurde bereits begonnen ([7], [19]), die Entwicklung jedoch noch lange nicht abgeschlossen. Eine erste prototypische Entwicklung für geschlossene S-BahnSysteme existiert bereits [10], ist jedoch noch auf eine reguläre und allgemeine Anwendung hin auszuarbeiten.

Erfahrungen im Straßenverkehr [2] belegen, dass auch Vorausplanung für bestimmte Situationen gewinnbringend eingesetzt werden kann. Für den Schienenverkehr lässt sich die Vorausplanung von Störfallprogrammen z.B. durch Infrastrukturcharakteristika begründen. Das zur Verfügung stehende Schienennetz bietet nur eine begrenzte Anzahl alternativer Fahrwege und Verkehrsstationen, aus welchen bereits im Voraus Lösungen für den eingeschränkten Betriebszustand erarbeitet werden können. Dies erspart im Störungsfall Zeit und ermöglicht eine bessere Lösung, da genügend Zeit zur Informationssammlung und v.a. zur Bewertung sowie Auswahl möglicher Lösungen besteht. Weiterhin wird so die Komplexität der Situation, in welcher Dispositionsentscheidungen getroffen werden müssen, verringert – was den Disponenten entlastet.

Erfahrungen aus dem Straßenverkehr zeigen weiterhin, dass in Betriebsszenarien, in denen sich mehrere Organisationen bzw. Organisationseinheiten abstimmen müssen, im Voraus verabredete Kommunikationsstrukturen und Handlungsmuster helfen, um im Störfall effizient zusammen zu arbeiten. Die Notwendigkeit, verschiedene Akteure in die Störfallbewältigung einzubinden, ist im Schienenverkehr gegeben. Ein weiterer Vorteil des Einsatzes dieser Philosophie liegt – im Gegensatz zur oben beschriebenen rechnergestützten Umplanung – in dem verhältnismäßig geringen Aufwand für Ausarbeitung und Implementierung. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Philosophie der Vorausplanung zum Umgang mit Störfällen im Schienenverkehr eine komplementäre Strategie zur ständigen Umplanung darstellt.

Unabhängig davon, welche dieser zwei Philosophien vorangetrieben wird, ist es notwendig, mehr Wissen über auftretende Muster zur Charakterisierung von Betriebsstörungen im Schienenverkehr zu erlangen. Dieses Wissen ist nicht nur für die Erstellung von Störfallprogrammen, sondern auch für ein integriertes Störfallmanagement im Hinblick auf die Aufgabe der Vorbereitung nützlich. So wäre zu ergründen, ob die Entwicklung eines (Früh-) Warnsystems für Betriebsstörungen, welches auf diesem Wissen basiert, mit vertretbarem Aufwand machbar ist. Mit einem solchen System wäre es wiederum denkbar, dass mit Hilfe des Wissens um nahende Störungen und deren Ausmaß Vorhersagen über benötigte Ressourcen getroffen und diese rechtzeitig bereitgestellt werden können. Auch eine präzisere Kundeninformation, und damit mehr Verständnis bei Passagieren und Frachtkunden [20], wären durch dieses Wissen möglich.

Betrachtet man die Idee des integrierten Störfallmanagements, gewinnen neben organisatorischen Fragestellungen auch die Themen der Echtzeitsimulation sowie der mathematischen (Echtzeit-) Optimierung an Bedeutung. Letzteres ist z.B. bei der Entwicklung von Algorithmen zur Berechnung optimaler Dispositionen im Störungsfall oder zur Entscheidung bei der Strategieauswahl bzw. der Auswahl von Vorsorgemaßnahmen für den wirkungsvollsten Einsatz von begrenzten Budgets zur Störfallbewältigung von Bedeutung.

Viele der in diesem Abschnitt beschriebenen Forschungsfelder stehen noch am Anfang der wissenschaftlichen Ergründung. Trotzdem existieren Handlungsfelder mit großem Potential, welche mit geringem Aufwand zu bewerkstelligen sind, und welche zu einem effizienteren Umgang mit Betriebsstörungen im Schienenverkehr beitragen können.

6 Erstellung von Störfallprogrammen als Erfüllung der Aufgabe Vorsorge

Eines der in Abschnitt 5 erwähnten Handlungsfelder ist die Planung und Anwendung von Störfallprogrammen im Schienenverkehr für stark belastete Netzabschnitte bzw. Strecken mit Mischverkehr. Die Literaturrecherche ergab, dass derzeit keine schienenverkehrsspezifischen Konzepte für die Erstellung von Störfallprogrammen verfügbar sind. Hier besteht demnach Forschungsbedarf.

Da für den Verkehrsträger Straße bereits solche Konzepte existieren, besteht ein Forschungsansatz in der Übertragung dieser Konzepte: Im Bereich des dynamischen Verkehrsmanagements für den Straßenverkehr werden systematisch geplante Vorgehensweisen (so genannte „Strategien“ – sie entsprechen dem Begriff Störfallprogramm im Kontext dieses Beitrags) verwendet, mit denen der Verkehr in bestimmten Situationen durch Beeinflussungsmaßnahmen optimal gestaltet werden soll [2]. Die für die Erstellung solcher Strategien im Straßenverkehr verwendete Vorgehensweise bildet den ersten Grundstein für die Entwicklung einer ähnlichen Methode im Schienenverkehr. Die Entwicklung dieser Methode ist Ziel der von den Autoren verfolgten Forschung.

Der zweite Grundstein wird in der Übertragung klassischer Methoden für die Erstellung von Katastrophenplänen gesehen. Dort spielen die qualitative und quantitative Risikoanalyse und vor allem die Visualisierung von Gefährdungen, Auswirkungen und Risiken eine tragende Rolle [6]. Für eine Übertragung dieser Methoden besteht der bereits erwähnte Forschungsbedarf hinsichtlich der qualitativen sowie der statistischen Analyse in Bezug auf Muster bei Störungsursachen und Verspätungen [21]. Dadurch sollen die Auswirkungen von Störszenarien abgeschätzt und Lösungsmöglichkeiten bewertet werden können (siehe auch Abschnitt 5). Dazu ist u.a. eine Typologie von Störungsursachen zu entwickeln, welche zu den Auswirkungen, beispielsweise der Verzögerung im Betriebsablauf oder (Teil-) Sperrungen, führen.
Im Hinblick auf die Erstellung von Störfallprogrammen im Schienenverkehr ergeben sich derzeit zwei Handlungsfelder. Das Erste gilt dem Erstellungsaufwand von Störfallprogrammen. Störfallprogramme müssen netzabschnittsindividuell oder linienbezogen erarbeitet werden, was einen nicht geringen Aufwand mit sich bringt. Deshalb besteht die Gefahr, dass der Aufwand bei der Erstellung den dadurch generierten Nutzen überwiegt. Gelingt es aber eine allgemeingültige, modulare Vorgehensweise zur Erstellung solcher Störfallprogramme zu beschreiben, kann der Erstellungsaufwand signifikant gesenkt werden. Somit kann eine großflächige Anwendung von Störfallprogrammen als Teil des integrierten Störfallmanagements im Schienenverkehr gewährleistet werden.

Das zweite Handlungsfeld besteht in der Gestaltung der für die Kommunikation notwendigen Informationen und Handlungsanweisungen an alle am Betrieb beteiligten Akteure (Personal und Reisende) im Störungsfall. Dazu ist es notwendig, zweckmäßige Kommunikationsstrukturen und –standards zu erarbeiten und Vorschläge für entsprechende technische und organisatorische Lösungen anzubieten.

7 Zusammenfassung und Ausblick

Die vorliegenden Ausführungen haben gezeigt, dass bereits viele verschiedene Handlungsansätze zum Umgang mit Störungen im Eisenbahnbetrieb existieren, welche jedoch eher unabhängig voneinander betrachtet werden. Ausgehend von den Klassifizierungen des Katastrophenmanagements wurde ein Rahmenwerk zum Umgang mit Betriebsstörungen vorgeschlagen, welches bestehende Philosophien, Handlungsansätze und Aktivitäten zueinander in Zusammenhang setzt und Lücken aufzeigt. Es gilt, dieses Bezugssystem weiter zu detaillieren und daraus das integrierte Management von Störfällen im Schienenverkehr zu etablieren.

Ausgehend von diesen grundlegenden Betrachtungen wurde die Notwendigkeit von Störfallprogrammen für hochbelastete Strecken und Strecken mit Mischverkehr im Schienenverkehr abgeleitet. Anschließend wurde das Fehlen schienenverkehrsspezifischer Methoden zur Erstellung solcher Störfallprogramme aufgezeigt. Zur Lösung dieses Problems wurde die Übertragung und Kombination bestehender Methoden aus den Bereichen des dynamischen Verkehrsmanagements im Straßenverkehr sowie Methoden des Katastrophenmanagements vorgeschlagen. Mit den in Abschnitt 6 erläuterten Maßgaben der Wirtschaftlichkeit des Lösungsansatzes sowie dem Fokus auf der Sicherung von Informationsketten im Störungsfall ergeben sich bei der Erarbeitung einer Methode zur Erstellung von Störfallprogrammen? folgende Schritte.

Zuerst gilt es, eine allgemeine Methode für die Erstellung netzspezifischer Störfallprogramme im Schienenverkehr mit Handlungshinweisen und Gestaltungsempfehlungen für Standardsituationen zu entwickeln. Dafür sind eine Betrachtung der verschiedenen Möglichkeiten der Reisendenlenkung sowie die Formulierung von Planungsstandards und technisch-organisatorischen Lösungsmöglichkeiten für die erforderlichen Kommunikationsstrukturen und Informationsketten notwendig. Anschließend ist eine Bewertung der erarbeiteten Lösungen anhand von noch festzulegenden Kennzahlen, beispielsweise der Anzahl der Fehlinformationen im Störungsfall, Dauer der Rückkehr zum regulären Fahrplan, Kundenzufriedenheit, verbrauchter Ressourcen etc., durchzuführen. Eine simulationsgestützte Bewertung ist ebenfalls denkbar. Als mittelfristiges Ziel der Forschungsarbeit sollen ein standardisierter Planungsleitfaden für Störfallprogramme, Lösungsvorschläge für die Gestaltung optimaler Kommunikationsstrukturen im Störungsfall sowie neue Ideen für Optimierungsansätze für das Störfallmanagement im Schienenverkehr entstehen.

8 Literatur

[1] Rey, G.; Elk, T.; Neuhäuser, R. (2007). Störfallmanagement der S-Bahn München und Vorschläge für den Infrastrukturausbau. Eisenbahntechnische Rundschau, 2007 (11), S 696 – 703.

[2] Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen (FGSV). Hinweise zur Strategieentwicklung im dynamischen Verkehrsmanagement. Köln 2003.

[3] Jespersen-Groth, J.; Potthoff, D.; Clausen, J.; Huisman, D.; Kroon, L.; Maróti, G.; Nielsen, M. N. (2009). Disruption Management in Passenger Railway Transportation. In: Ahuja R.K. et al. (Hrsg.). Robust and Online Large-Scale Optimization. Lecture Notes in Computer Science 5868, S. 399 – 421, Springer-Verlag Berlin/Heidelberg

[4] Richtlinie 420.01 der DB AG (2002). Betriebszentralen DB Netz AG, V 420.9001 00 Kodierliste von Verspätungsursachen. DB Netz AG, Frankfurt am Main.

[5] Ständige Konferenz für Katastrophenvorsorge und Katastrophenschutz (2003). Wörterbuch des Zivilund Katastrophenschutzes. Köln 2003. http://www.nokrima.de/WB- SKK.pdf (Stand 28.06.2010).

[6] Alexander, D.E. (2002). Principles of Emergency Planning and Management. Oxford University Press, Oxford.

[7] Ahuja, R. K.; Möhring, R. H.; Zaroliagis, C. D. (2009). Robust and Online Large-Scale Optimization. Models and Techniques for Transportation Systems. Lecture Notes in Computer Science. Bd. 5868, Springer-Verlag Berlin/Heidelberg.

[8] Jacobs, J., Kurby, S., Schöbel, A., Scholl, S., Bissantz, N., Güttler, S., Schaer, T. (2005). DisKon – Laborversion eines flexiblen, modularen und automatischen Dispositionsassistenzsystems. Eisenbahntechnische Rundschau, 2005 (54),S. 809–821.

[9] Moosbrugger, R. (2008). Disposition und Störfallmanagement bei der DB Netz AG. Eisenbahntechnisches Kolloquium „Disposition und Störfallmanagement“, Darmstadt, 3. Juni 2008.

[10] Haunstein, A.; Kirchhoff, P.; Wehner, P. (2004). Rechnergestütztes Störfallmanagement in Schnellbahnsystemen. Eisenbahntechnische Rundschau, 2004 (10), S. 679 – 685.

[11] Täubler, H. (2010). Weiterentwicklung des Notfallmanagements am Beispiel der ÖBBInfrastruktur AG. Signal + Draht, 2010 (5), S. 16 -19.

[12] Wolters, A.; Böhme, A.; Naundorf, S. (2009). Ausund Weiterbildung für Disponenten der Transportleitungen und Leitstellen. Deine Bahn., 2009 (8), S. 22-25.

[13] Kliewer, N; Suhl, L. (2010). A Note on the Online Nature of the Railway Delay Management Problem. Networks. n/a. doi: 10.1002/net.20381

[14] Schachtebeck, M.; Schöbel, A. (2010). To Wait or Not to Wait---And Who Goes First? Delay Management with Priority Decisions. Transportation Science 2010 (3) doi: 10.1287/trsc.1100.0318

[15] Sahin, I. (1999). Railway Traffic Control and Train Scheduling Based on Inter-train Conflict Management. Transportation Research Part B33 (1999), S. 511 – 534.[16] Yu, G.; Qi, X. (2004). Disruption Management: Framework, Models and Applications. World Scientific Publishing Company, Singapur.[17] Website Deutsche Bahn AG. Konzernprofil in Zahlen und Fakten, Geschäftszahlen 2009. URL: http://www.deutschebahn.com/site/bahn/de/konzern/konzernprofil/zahlen fakten /zahlen fakten.html (Stand 02.07.2010)

[18] Deutsche Lufthansa AG: Geschäftsbericht 2009. Köln 2010.

[19] Website des Projekts ARRIVAL (Algorithms for Robust and Online Railway Optimization: Improving the Validity and Reliability of Large-scale Systems). URL: http://arrival.cti.gr/index.php/Documents/ListWP (Stand 05.07.2010)

[20] Törnquist, J. (2006). Railway Traffic Disturbance Management. Dissertation, Blekinge Institute of Technology, Karlskrona, Schweden.

[21] Teichmann, C. (2010). Einbruchsverspätungen an Baustellen. Eisenbahntechnisches Kolloquium „Bauen im Betrieb“, Darmstadt, 10. Juni 2010.