FGSV-Nr. FGSV 002/96
Ort Stuttgart
Datum 16.03.2011
Titel Ermittlung von Wunschgeschwindigkeiten für die mikroskopische Verkehrsflusssimulation
Autoren Prof. Dr.-Ing. Justin Geistefeldt
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Die Wunschgeschwindigkeit bezeichnet die Geschwindigkeit, die ein Fahrer wählt, wenn er nicht durch andere Verkehrsteilnehmer beeinflusst wird. Die Verteilungsfunktion der Wunschgeschwindigkeit ist ein wichtiger Parameter für die mikroskopische Simulation des Verkehrsflusses auf Straßen. Für die empirische Ermittlung von Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit wurden bislang üblicherweise frei oder allein fahrende Fahrzeuge analysiert. Der vorliegende Beitrag stellt ein neuartiges Verfahren zur Ermittlung von Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit vor, bei dem die Geschwindigkeiten beeinflusster Fahrer als zensierte Werte in die Analyse einbezogen werden. Die Anwendung des Verfahrens zeigt, dass damit eine realistischere Nachbildung des Geschwindigkeitsverhaltens in mikroskopischen Simulationsmodellen möglich ist.

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1 Einleitung

Die Wunschgeschwindigkeit bezeichnet die Geschwindigkeit, die ein Fahrer auf ebener Strecke wählt, wenn er nicht durch andere Verkehrsteilnehmer beeinflusst wird. Die Wunschgeschwindigkeit ergibt sich aus dem Verhalten des Fahrers in Verbindung mit dem technischen Leistungsvermögen seines Kraftfahrzeugs. Darüber hinaus wird die Wunschgeschwindigkeit durch strecken- und situationsabhängige Faktoren wie die Streckengeometrie, die zulässige Höchstgeschwindigkeit, die Witterungsverhältnisse oder den jeweiligen Fahrtzweck systematisch beeinflusst. In der mikroskopischen Verkehrsflusssimulation werden die Eigenschaften des Fahrers und des Fahrzeugs in der Regel zusammenfassend als Fahrer-Fahrzeug- Element nachgebildet. Die Wunschgeschwindigkeit stellt dabei eine wesentliche Eigenschaft eines solchen Fahrer-Fahrzeug-Elements dar.

Bei der mikroskopischen Betrachtung eines Verkehrsstroms ist die Wunschgeschwindigkeit als Zufallsgröße aufzufassen, die durch eine Verteilungsfunktion repräsentiert wird. Für die empirische Ermittlung von Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit sind Messungen des Verkehrsablaufs erforderlich. Eine direkte Erfassung der Wunschgeschwindigkeit einzelner Fahrer-Fahrzeug-Elemente ist allerdings nur für frei fahrende Fahrzeuge möglich. Dies sind solche Fahrzeuge, bei denen der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug so groß ist, dass der Fahrer in seiner Geschwindigkeitswahl nicht beeinflusst wird. Der Anteil der frei fahrenden Fahrzeuge ist allerdings bei hoch belasteten Verkehrsanlagen relativ gering. Diese Problematik betrifft insbesondere empirische Analysen des Geschwindigkeitsverhaltens auf Autobahnen.

Ein möglicher Ansatz für die Ermittlung von Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit ist die ausschließliche Betrachtung des Teilkollektivs der frei fahrenden Fahrzeuge. Mit diesem Vorgehen wird jedoch die mittlere Wunschgeschwindigkeit in der Regel unterschätzt, da die schnelleren Fahrzeuge in diesem Teilkollektiv systematisch unterrepräsentiert sind. Dies ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass bei einer Kolonnenbildung im Verkehrsstrom nur das erste Fahrzeug in der Kolonne als frei fahrendes Fahrzeug in die Auswertung eingeht, während alle weiteren in der Kolonne folgenden Fahrzeuge mit höheren Wunschgeschwindigkeiten ausgeschlossen werden. Aufgrund dieses systematischen Fehlers wurden Experimente durchgeführt, bei denen nur die allein fahrenden Fahrzeuge für die Ermittlung der Wunschgeschwindigkeitsverteilung berücksichtigt wurden [1]. Als „allein fahrend“ werden die Fahrzeuge aufgefasst, denen kein Fahrzeug in dichtem Abstand vorausfährt oder folgt. Die Verteilung der Wunschgeschwindigkeiten der allein fahrenden Fahrzeuge kann jedoch ebenfalls systematisch von der Verteilung der Wunschgeschwindigkeiten sämtlicher Fahrzeuge abweichen. Zudem ergibt die Beschränkung auf allein fahrende Fahrzeuge vor allem bei mittleren und hohen Verkehrsstärken sehr geringe Stichprobenumfänge.

Der vorliegende Beitrag stellt ein Verfahren vor, bei dem die Geschwindigkeiten beeinflusster und unbeeinflusster Fahrzeuge als zensierte bzw. unzensierte Werte aufgefasst werden. Das Grundprinzip der Statistik zensierter Daten wurde für die Ermittlung von Wunschgeschwindigkeitsverteilungen von Botma [2] und Hoogendoorn [3] vorgeschlagen und wird auch in anderen verkehrstechnischen Anwendungen erfolgreich eingesetzt [4]. Die Anwendung des Verfahrens auf der Grundlage empirischer Daten zeigt, dass mit dem Ansatz eine bessere Nachbildung des Geschwindigkeitsverhaltens auf Autobahnen erreicht werden kann. Die mikroskopische Simulation des Verkehrsablaufs auf der Grundlage der empirisch ermittelten Wunschgeschwindigkeiten liefert konsistente Ergebnisse.

2 Verfahrensansatz

Grundlage des hier vorgestellten Verfahrens für die empirische Ermittlung von Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit sind die Daten lokaler bzw. quasi-lokaler Verkehrsmessungen. Für die Auswertungen werden Einzelfahrzeuggeschwindigkeiten sowie die Zeitlücken zwischen den Fahrzeugen, die ggf. aus den Differenzen der Fahrzeugankünfte abzuleiten sind, benötigt.

Die Ermittlung von Wunschgeschwindigkeitsverteilungen basiert auf einer Unterscheidung zwischen beeinflusst und unbeeinflusst fahrenden Fahrzeugen. Bei unbeeinflusst fahrenden Fahrzeugen entspricht die Wunschgeschwindigkeit vW der gemessenen Geschwindigkeit v (vW  v). Diese Beobachtungen werden als unzensiert bezeichnet. Bei den beeinflusst fahrenden Fahrzeugen kann die Wunschgeschwindigkeit dagegen nicht direkt gemessen werden. Allerdings muss die Wunschgeschwindigkeit größer oder gleich der gemessenen Geschwindigkeit sein (vW  v). Diese Beobachtungen werden als zensiert bezeichnet.

Stichproben, die zensierte und unzensierte Werte enthalten, sind vor allem aus der Lebensdaueranalyse bekannt. Bei Lebensdauerexperimenten werden die Untersuchungsobjekte, z.B. mechanische Bauteile, über eine bestimmte Zeitdauer beobachtet. Zensierte Werte sind dabei die Bauteile, die am Ende des Experiments noch intakt sind, d.h. deren Lebensdauer größer als die Dauer des Experiments ist.

Mathematische Verfahren zur Ermittlung von Lebensdauerverteilungen können allgemein für Stichproben, die sich aus unzensierten und zensierten Werten zusammensetzen, verwendet werden. Bei den sog. nicht-parametrischen Verfahren erfolgt die Schätzung der Verteilungsfunktion ohne die Annahme eines bestimmten Funktionstyps der Lebensdauerverteilung. Zu den nicht-parametrischen Verfahren zählt die Product-Limit-Methode [5]. Danach lautet die Schätzung der Überlebensfunktion S(t):

Formel (1) siehe PDF.

Anstelle der Bildung von Intervallen i kann für jeden Zeitpunkt ti, zu dem ein Versagensfall eintritt, ein Faktor des Produkts in Gleichung (1) gebildet werden, so dass jeweils di = 1 ist.

Übertragen auf die Geschwindigkeitsanalyse lautet die Product-Limit-Schätzung der Verteilungsfunktion der Wunschgeschwindigkeit:

Formel (2) siehe PDF.

Die Schätzung der Verteilungsfunktion mit der Product-Limit-Methode bricht beim größten unzensierten Wert ab. Ist der größte beobachtete Stichprobenwert zensiert, so erreicht die empirisch bestimmte Verteilungsfunktion nicht den Wert 1.

Unter Vorgabe eines bestimmten Funktionstyps für die Lebensdauerverteilung kann die bestmögliche Anpassung der Verteilungsfunktion an die empirischen Daten durch eine Maximum-Likelihood-Schätzung erfolgen. Die Likelihood-Funktion lautet:

Formel (3) siehe PDF.

Die Parameter der Verteilungsfunktion werden durch Maximierung der Likelihood-Funktion bestimmt. Für die Optimierung ist es wegen der Größenordnung der zu berechnenden Zahlenwerte zweckmäßig, die logarithmierte Likelihood-Funktion zu verwenden, die wegen der Stetigkeit und des monoton steigenden Verlaufs der Logarithmusfunktion an den gleichen Stellen ihr Maximum erreicht wie die nicht-logarithmierte Likelihood-Funktion.

Übertragen auf die Ermittlung von Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit lautet die Likelihood-Funktion:

Formel (4) siehe PDF.

Für die Anwendung der Statistik zensierter Daten zur Ermittlung von Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit sind geeignete Kriterien für die Unterscheidung beeinflusst und unbeeinflusst fahrender Fahrzeuge festzulegen. Der wesentliche Parameter für eine Beeinflussung des Geschwindigkeitsverhaltens ist die Zeitlücke zum vorausfahrenden Fahrzeug. Bei mehrstreifigen Richtungsfahrbahnen, z.B. auf Autobahnen, kann darüber hinaus zusätzlich das Kriterium, ob für das betrachtete Fahrzeug eine Überholmöglichkeit besteht, einbezogen werden. Denkbar ist auch eine Einbeziehung der Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den aufeinander folgenden Fahrzeugen.

In der vorliegenden Untersuchung werden die Geschwindigkeiten der Fahrzeuge, bei denen aufgrund eines geringen Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeug und der fehlenden Überholmöglichkeit von einer Beeinflussung des Geschwindigkeitsverhaltens auszugehen ist, als zensierte Werte aufgefasst. Von einer Beeinflussung des Geschwindigkeitsverhaltens wird ausgegangen, wenn gleichzeitig die folgenden beiden Kriterien erfüllt sind (vgl. Bild 1):

- Die Zeitlücke zum vorausfahrenden Fahrzeug ist kleiner als der Grenzwert tv.

- Die Zeitlücke zu dem auf dem Fahrstreifen links vom betrachteten Fahrzeug (falls vorhanden) vorausfahrenden oder folgenden Fahrzeug ist kleiner als der Grenzwert tv bzw. th.

Für Pkw werden als Grenzwerte Zeitlücken von tv = 2 s und th = 4 s angenommen. Für Lkw wird wegen der geringeren Fahrzeuggeschwindigkeiten tv = 3 s angesetzt, das Kriterium der Überholmöglichkeit wird für Lkw nicht verwendet. Da der zeitlückenbasierte Ansatz bei zähfließendem und gestautem Verkehr zur Unterscheidung von beeinflusst und unbeeinflusst fahrenden Fahrzeugen ungeeignet ist, wurden Fahrzeuge mit einer Geschwindigkeit  v < 70 km/h aus der Analyse ausgeschlossen. Zu beachten ist, dass insbesondere die Wahl des Grenzwerts tv einen erheblichen Einfluss auf die Schätzung der Verteilungsfunktion der Wunschgeschwindigkeit hat. Daher wird der Einfluss dieses Parameters im Rahmen der Überprüfung der Konsistenz des Verfahrens (Abschnitt 5) genauer analysiert.

Bild 1: Zeitlücken zur Beurteilung der Beeinflussung der Fahrzeuggeschwindigkeiten

3 Anwendung des Verfahrens

Die Anwendung des Verfahrens zur empirischen Ermittlung von Wunschgeschwindigkeiten wird anhand von lokal gemessenen Geschwindigkeitsdaten von zwei Autobahn-Richtungsfahrbahnen demonstriert. Die Autobahnen weisen im Bereich der Messquerschnitte unterschiedliche streckengeometrische und verkehrliche Randbedingungen auf. Die Parameter der Untersuchungsstellen und die jeweiligen Stichprobenumfänge sind in Tab. 1 angegeben. Die Untersuchungsstellen liegen jeweils auf der freien Strecke außerhalb des Einflussbereichs der benachbarten Knotenpunkte. Die Geschwindigkeit ist auf beiden Autobahnabschnitten nicht beschränkt. Für Untersuchungsstelle Nr. 1 wurden Einzelfahrzeugdaten einer automatischen Dauerzählstelle ausgewertet, Datensatz Nr. 2 stammt aus einer quasi-lokalen Verkehrsmessung mittels Videotechnik (aus [6]).

Tabelle 1: Parameter der Untersuchungsstellen

Die Ermittlung der Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit erfolgte mit der Maximum-Likelihood-Methode nach Gleichung (4). Dabei wurden normalverteilte Wunschgeschwindigkeiten angenommen. Durch Maximierung der Likelihood-Funktion wurden der Mittelwert vW und die Standardabweichung o der Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit der Pkw und Lkw ermittelt. Zum Vergleich wurden auch die Verteilungsfunktion der Wunschgeschwindigkeit für die unbeeinflusst fahrenden Fahrzeuge, d.h. ohne Berücksichtigung der zensierten Werte in Gleichung (4), ermittelt. Dabei bestätigte sich, dass sich die mit und ohne Berücksichtigung der beeinflussten Fahrzeuge ermittelten Wunschgeschwindigkeitsverteilungen systematisch voneinander unterscheiden. Erwartungsgemäß ergeben sich unter Einbeziehung sämtlicher Fahrzeuge deutlich höhere mittlere Wunschgeschwindigkeiten als für das Teilkollektiv der unbeeinflusst fahrenden Fahrzeuge.

Für Untersuchungsstelle Nr. 1 (zweistreifige Richtungsfahrbahn) wurde für die Pkw eine mittlere Wunschgeschwindigkeit von vW = 129,6 km/h sowie eine Standardabweichung von o = 20,4 km/h ermittelt, für Lkw ergaben sich die Werte vW = 88,7 km/h und o = 8,6 km/h. Die entsprechenden Verteilungsfunktionen zeigt Bild 2. Die Verteilungsfunktion der Geschwindigkeit der unbeeinflusst fahrenden Pkw liegt im Mittel um etwa 12 km/h unter der Verteilung der Wunschgeschwindigkeit, die sich unter Einbeziehung der beeinflusst fahrenden Pkw als zensierte Werte ergibt. Bei den Lkw weichen die Mittelwerte der beiden Verteilungen um rund 3 km/h voneinander ab.

Der Streckenabschnitt im Bereich der Untersuchungsstelle Nr. 2 (vierstreifige Richtungsfahrbahn) weist infolge des sehr breiten Querschnitts und der gestreckten Linienführung ein sehr hohes Geschwindigkeitsniveau auf. Die Auswertung der Messdaten ergab für die Pkw eine mittlere Wunschgeschwindigkeit von vW = 160,2 km/h sowie eine Standardabweichung von o = 30,9 km/h, für Lkw wurden Werte von vW =  91,6 km/h und o = 7,3 km/h ermittelt (Bild 3). Die mittleren Geschwindigkeiten der unbeeinflusst fahrenden Pkw und Lkw liegen um etwa 22 bzw. 3 km/h unter den mittleren Wunschgeschwindigkeiten für alle Fahrzeuge.

Bild 2: Ermittelte Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit für Untersuchungsstelle Nr. 1 (zweistreifige Richtungsfahrbahn)

Bild 3: Ermittelte Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit für Untersuchungsstelle Nr. 2 (vierstreifige Richtungsfahrbahn)

Zur Analyse des Einflusses der Ermittlung der Wunschgeschwindigkeiten auf die Ergebnisse mikroskopischer Verkehrsflusssimulationen wurden die Autobahnabschnitte im Bereich der Untersuchungsstellen mit den Simulationsprogrammen BABSIM [7] und VISSIM modelliert. Aufgrund der Lage der Untersuchungsstellen im Bereich der freien Strecke war es ausreichend, die Richtungsfahrbahnen ohne die benachbarten Knotenpunkte nachzubilden. Für die Simulation wurden jeweils die empirisch ermittelten Wunschgeschwindigkeitsverteilungen zugrunde gelegt. Ansonsten wurden die Standardparameter der Simulationsprogramme weitgehend beibehalten. Lediglich die vom Fahrer angestrebte Folgezeitlücke wurde in VISSIM jeweils auf 0,6 s und in BABSIM für die Modellierung der vierstreifigen Richtungsfahrbahn (auf der Grundlage der Ergebnisse aus [6]) auf 0,4 s verringert, um eine realistischere Nachbildung des Verkehrsablaufs insbesondere bei hohen Verkehrsstärken zu erreichen. Die für die Simulation verwendeten Verkehrsnachfrageganglinien entsprechen jeweils ungefähr den an den Untersuchungsstellen gemessenen Verkehrsstärken.

Die Gegenüberstellung der q-v-Diagramme in Bild 4 und Bild 5 zeigt, dass mit beiden Simulationsprogrammen auf der Grundlage der empirischen Wunschgeschwindigkeitsverteilungen eine sehr gute Nachbildung des realen Geschwindigkeitsverhaltens erreicht wird. Dargestellt sind jeweils Kfz-Verkehrsstärken und mittlere lokale Pkw-Geschwindigkeiten in 5-Minuten- Intervallen. Wird dagegen die Verteilung der Geschwindigkeiten der unbeeinflusst fahrenden Fahrzeuge (ohne zensierte Werte) für die Simulation zugrunde gelegt, wird das tatsächliche Geschwindigkeitsniveau erheblich unterschätzt.

Bild 4: q-v-Diagramm der Untersuchungsstelle Nr. 1 (zweistreifige Richtungsfahrbahn): Vergleich der Messdaten in 5-Minuten-Intervallen mit Simulationsergebnissen aus BABSIM und VISSIM

Bild 5: q-v-Diagramm der Untersuchungsstelle Nr. 2 (vierstreifige Richtungsfahrbahn): Vergleich der Messdaten in 5-Minuten-Intervallen mit Simulationsergebnissen aus BABSIM und VISSIM

4 Funktionstyp der Wunschgeschwindigkeitsverteilung

Anhand der empirischen Datensätze wurde ein Vergleich der Anpassungsgüte unterschiedlicher Funktionstypen der Wunschgeschwindigkeitsverteilung durchgeführt. Dies kann auf zwei Arten erfolgen:

- Vergleich der Werte der Likelihood-Funktion (4) für verschiedene Funktionstypen,

- Vergleich der mit der Maximum-Likelihood-Methode angepassten Verteilungsfunktionen mit der nicht-parametrischen Product-Limit-Schätzung nach Gleichung (2).

Als Funktionstypen wurden neben der Normalverteilung die Gammaverteilung und die Weibullverteilung getestet. Für Untersuchungsstelle Nr. 1 zeigt Bild 6 den Vergleich der mit der Maximum-Likelihood-Methode angepassten Verteilungsfunktionen der Pkw-Wunschgeschwindigkeit mit der Product-Limit-Schätzung. Alle Verteilungen liegen relativ dicht beieinander. Im Vergleich der Werte der Likelihood-Funktion (4) erreicht die Normalverteilung den größten Wert, d.h. die beste Anpassungsgüte, während sich für die Weibullverteilung die schlechteste Anpassung an die empirischen Daten ergibt. Für Untersuchungsstelle Nr. 2 wurde dieselbe Reihenfolge der Anpassungsgüte der Funktionstypen ermittelt.

Bild 6: Vergleich verschiedener Funktionstypen der Wunschgeschwindigkeitsverteilung für die Pkw mit der Product-Limit-Schätzung für Untersuchungsstelle Nr. 1

Im Vergleich der Funktionstypen der Verteilungsfunktion der Lkw-Wunschgeschwindigkeit wurde für beide Untersuchungsstellen mit der Gammaverteilung eine geringfügig bessere Anpassung als mit der Normalverteilung erreicht. Die Unterschiede der Funktionsverläufe sind allerdings so gering, dass sie für die praktische Anwendung keine Rolle spielen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich durch die stärkere Heterogenität des Teilkollektivs der Lkw eine insgesamt ungünstigere Anpassung im Bereich hoher Geschwindigkeiten ergibt, da sich in diesem Bereich Messdaten von Fahrzeugen mit unterschiedlichen zulässigen Höchstgeschwindigkeiten (z.B. Lastkraftwagen und Omnibusse, in Einzelfällen evtl. auch falsch klassifizierte Fahrzeuge) überlagern.

5 Konsistenz der Geschwindigkeitsschätzung

Die Wunschgeschwindigkeit ist nur für unbeeinflusst fahrende Fahrzeuge messbar. Eine Überprüfung, ob das Verfahren für die Ermittlung von Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit konsistente Ergebnisse liefert, kann daher nicht auf der Grundlage empirischer Daten erfolgen, da die wahre Verteilungsfunktion unbekannt ist. Stattdessen wurden synthetische Daten verwendet, die mit dem Simulationsprogramm BABSIM generiert wurden.

Für die Erzeugung der synthetischen Daten wurden zwei einfache Netzmodelle, bestehend aus einer zwei- und einer dreistreifigen Richtungsfahrbahn mit je einer Quelle und einer Senke, erstellt. Für die Simulation wurden verschiedene Kombinationen der Wunschgeschwindigkeitsverteilungen von Pkw und Lkw vorgegeben (Parameter gemäß Spalte „Input“ in Tab. 2). Die Verkehrsnachfrage wurde bei der zweistreifigen Richtungsfahrbahn zwischen 1.000 und 3.000 Kfz/h sowie bei der dreistreifigen Richtungsfahrbahn zwischen 2.000 und 4.500 Kfz/h variiert. An einem Querschnitt in den Netzmodellen wurden jeweils die lokalen Geschwindigkeiten der Einzelfahrzeuge und Fahrzeugankünfte über einen Simulationszeitraum von 8 Stunden aufgezeichnet. Anhand dieser Datensätze wurden dann analog zu den empirischen Untersuchungen mit der Maximum-Likelihood-Methode nach Gleichung (4) die Parameter der Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit der Pkw und Lkw ermittelt (Spalte „Output“ in Tab. 2). Die Gegenüberstellung in Tab. 2 zeigt, dass die Outputwerte in allen Fällen sehr gut mit den Inputwerten übereinstimmen.

Tabelle 2: Vergleich der Input- und Outputwerte der Parameter der Verteilungsfunktion der Wunschgeschwindigkeit [km/h]

Anhand der synthetischen Datensätze erfolgte auch eine Überprüfung des Grenzwerts der Zeitlücke tv für die Unterscheidung beeinflusst und unbeeinflusst fahrender Fahrzeuge (vgl. Bild 1). Dazu wurden Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit für unterschiedliche Werte von tv ermittelt und mit den vorgegebenen Verteilungen verglichen. Der Grenzwert tv wurde für die Pkw zwischen 1,5 und 4,0 s und für die Lkw zwischen 2,0 und 5,0 s in 0,5 s- Schritten variiert. Die Analyse ergab, dass mit den Ausgangswerten von tv = 2,0 s für Pkw und tv = 3,0 s für Lkw in den meisten Fällen die beste Übereinstimmung von Output- und Inputwerten erreicht wird.

Bild 7 zeigt den Zusammenhang zwischen dem Grenzwert tv und dem Mittelwert der Wunschgeschwindigkeitsverteilung vW der Pkw am Beispiel des 2-streifigen Netzmodells mit einer Inputverteilung mit den Parametern vW = 140 km/h und o = 20 km/h. Vergleichbare Zusammenhänge ergeben sich auch für die empirischen Datensätze. Anhand der ebenfalls dargestellten Mittelwerte der Geschwindigkeitsverteilung der unbeeinflusst fahrenden Pkw wird deutlich, dass unabhängig von der Wahl des Grenzwertes tv eine konsistente Schätzung der Wunschgeschwindigkeitsverteilung nur unter Einbeziehung der zensierten Messwerte möglich ist.

Bild 7: Berechnete Mittelwerte der Wunschgeschwindigkeitsverteilung der Pkw für unterschiedliche Grenzwerte tv

6 Zusammenfassung

Die Wunschgeschwindigkeit ist ein wichtiger Verhaltensparameter für die mikroskopische Verkehrsflusssimulation. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags wurde ein Verfahren zur Ermittlung von Verteilungsfunktionen der Wunschgeschwindigkeit anhand lokal gemessener Verkehrsdaten vorgestellt, das auf mathematischen Ansätzen aus der Lebensdaueranalyse basiert. Dabei werden Fahrzeuge, die in ihrer Geschwindigkeitswahl von anderen Verkehrsteilnehmern beeinflusst werden, als zensierte Werte in die Auswertung einbezogen. Die Anwendung und Überprüfung des Verfahrens auf der Grundlage empirischer und synthetischer Daten zeigt, dass damit konsistente Wunschgeschwindigkeitsverteilungen ermittelt werden, die zu einer präzisen Nachbildung des realen Geschwindigkeitsverhaltens in mikroskopischen Simulationsmodellen führen.

In mikroskopischen Simulationsmodellen werden bislang üblicherweise standardisierte Wunschgeschwindigkeitsverteilungen angenommen, die ausschließlich durch eine globale Gegenüberstellung der Simulationsergebnisse mit empirischen Daten (z.B. anhand des q-v- Diagramms) kalibriert sind. Mit dem hier vorgestellten Ansatz ist es dagegen möglich, auf der Grundlage von Messdaten eine direkte Kalibrierung der Wunschgeschwindigkeitsverteilung unabhängig von weiteren Modellparametern vorzunehmen. Damit leistet das Verfahren einen wichtigen Beitrag zur Optimierung von mikroskopischen Simulationsmodellen für verkehrstechnische Anwendungen. Das am Beispiel von Autobahnen demonstrierte Verfahren ist auch für Analysen des Geschwindigkeitsverhaltens auf Landstraßen anwendbar.

7 Literatur

[1]    BRESSLER, A. (2001): Verkehrssicherheit und Verkehrsablauf an Steigungsstrecken – Kriterien für Zusatzfahrstreifen. Schriftenreihe des Lehrstuhls für Verkehrswesen der Ruhr-Universität Bochum, Heft 24.

[2]    BOTMA, H. (1999): The free speed distribution of drivers: estimation approaches. In: BOVY, P. (Ed.): Five years “Crossroads of Theory and Practice” – Proceedings of the 5th TRAIL Annual Congress 1999. Delft University Press, Delft, pp. 1-22.

[3]    HOOGENDOORN, S.P. (2005): Unified approach to estimating free speed distributions. Transportation Research B 39 (8), pp. 709-727.

[4]    BRILON, W.; GEISTEFELDT, J. (2008): Stochastische Kapazität von Straßenverkehrsanlagen. Tagungsdokumentation zur HEUREKA ’08 – Optimierung in Verkehr und Transport. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Hrsg.), Köln.

[5]    KAPLAN, E.L.; MEIER, P. (1958). Nonparametric estimation from incomplete observations. Journal of the American Statistical Association, Vol. 53, pp. 457-481.

[6]    GEISTEFELDT, J. (2007). Verkehrsablauf und Verkehrssicherheit auf Autobahnen mit vierstreifigen Richtungsfahrbahnen. Schriftenreihe des Lehrstuhls für  Verkehrswesen der Ruhr-Universität Bochum, Heft 30.

[7]    BRILON, W.; HARDING, J.; HARTMANN, D.; ERLEMANN, K. (2007): Weiterentwicklung des bundeseinheitlichen Simulationsmodells für Bundesautobahnen. Forschung Straßenbau und Straßenverkehrstechnik, Heft 974, Bonn.