FGSV-Nr. FGSV 001/20
Ort Berlin
Datum 13.10.2004
Titel Verkehrliche Wirkungen des demografischen Wandels – Erkenntnisse aus zehn Jahren Panel
Autoren Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dirk Zumkeller
Kategorien Kongress
Einleitung

Das Deutsche Mobilitätspanel geht auf das Jahr 1990 zurück, in dem zunächst eine Pilotstudie gestartet wurde, um darauf aufbauend im Jahr 1994 die Feldphase zu beginnen. Dabei bestand und besteht die Grundidee darin, nicht nur Momentaufnahmen, sondern ein Gesamtbild der langfristigen Entwicklung der Mobilität im Personenverkehr – also einen Film – aufzunehmen. Und natürlich hat die Verkehrsforschung erwartet, ihre zukunftsgerichteten Einschätzungen und Theorien in diesem Film wiederzufinden, aber es kam anders. Wie sich heute zeigt, lag dies nicht an den Theorien, sondern an dem Umstand, dass die Grundgesamtheit – die Bundesrepublik Deutschland – sich in der letzten Dekade in erheblicher Weise verändert hat: zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, zwischen Stadt und Land und zwischen alt und jung, gemeint ist der demografische Wandel. Und so kann heute an einer Vielzahl von Bestimmungsfaktoren gezeigt werden, dass die gemessenen Entwicklungslinien leichter verstanden werden können – nicht vollständig, aber doch deutlich besser. Im Fazit führte dies zu der Forderung einer differenzierteren Früherkennung von Risiken und Chancen, oder volkstümlicher ausgedrückt: Dank besserer Einsicht mehr Klasse statt Masse, und zwar im bevorstehenden Umbau der Infrastruktur.

 

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1 Demografischer Wandel – ein Ausblick

Der demografische Wandel ist ein schleichender Prozess, dessen Ursachen bereits vor einigen Dekaden zu suchen sind, der seine Wirkungen nur sehr langsam entfaltet und von einer so beachtlichen Trägheit ist, dass er in den nächsten zwei bis drei Dekaden bei dann erheblich stärkeren Wirkungen kaum umkehrbar sein dürfte. Und natürlich hat es auch früher schon deutliche Hinweise auf mögliche verkehrliche Wirkungen dieses Prozesses gegeben (Birg, Koch 1987 [1]; Bierschenk et al. 1987 [2]), jedoch ohne die entsprechende Aufmerksamkeit zu finden. Dies hat sich schlagartig geändert, als die Rentenproblematik für alle nachvollziehbar als erstes spürbares Signal dieses Prozesses wahrgenommen wurde.

Bei näherem Hinsehen erweist sich der Prozess, der mittlerweile unter dem Kürzel „demografischer Wandel“ in aller Munde ist, als vielschichtiger. Im Bild 1 sind die wesentlichen Ursachen dieses Prozesses dargelegt, soweit sie die Vergangenheit betreffen. Weltkriege, Wirtschaftskrise und Wende haben Spuren hinterlassen, ebenso die veränderte gesellschaftliche Rolle der Frauen und der „Pillenknick“ seit den 1960er Jahren. Bei einem Blick auf die Zukunft sind natürlich Ergänzungen notwendig, die von veränderten Arbeits- und Sozialstrukturen über technische Innovationen bis hin zur Globalisierung reichen. All dies ist jedoch unterlegt von der rein demografischen Entwicklung, die bei isolierter Betrachtung zurzeit (BNN 6.10. 2004 [3]) mehr oder weniger stagnierende Bevölkerungszahlen und schon in wenigen Dekaden deutlich abnehmende Eckwerte aufweist – und dies bereits seit geraumer Zeit bei massiver Veränderung der Anteile von älteren und jüngeren Menschen zu Lasten der Jugend.

 Bild 1: Die Bevölkerungspyramide spiegelt Zeitgeschichte [4]

Die Prognose dieser Entwicklung ist einfach, wenn man sie von diversen Unsicherheiten wie

  • Wirtschaftlicher Entwicklung
  • Wanderungen
  • Veränderung der Geburtenraten usw.

befreit (Bild 2).

Die größte Unsicherheit im Hinblick auf die verkehrlichen Wirkungen besteht allerdings in der räumlichen Komponente, die insbesondere für verkehrsplanerische Fragestellungen unerlässlich ist. Das heißt, dass man es bei all diesen generalisierenden Aussagen mit Mittelwerten für die Bundesrepublik Deutschland – und mit mehr oder weniger starken Abweichungen auch für die europäischen Nachbarländer – zu tun hat, die noch keine Aussage darüber zulassen, ob man es im Einzelfall mit einer Wachstums-, Stagnations- oder Schrumpfungsregion zu tun hat (siehe Abschnitt 3.4).

Bild 2: Bevölkerungsentwicklung im 21. Jahrhundert mit einem Wanderungssaldo von 250000 p.a., einem Anstieg der Geburtenzahl pro Frau von 1,25 auf 1,5 [5]

Aus dieser Gefechtslage lassen sich für die Planungspraxis folgende Grundsätze ableiten:

  • Man braucht ein Früherkennungssystem, um in dem Prozess frühzeitig zu bemerken, ob sich der grundsätzliche Entwicklungstrend ändert.
  • Man braucht eine neue Planungskultur (Jahnke 2004 [6]), weil man es sich nicht mehr leisten kann, generalisierend generelles Wachstum des Verkehrsbereichs zu unterstellen. Und schließlich versteht sich von selbst, dass Planung für die Wachstums-, Stagnations- oder Schrumpfungsfrage sehr verschiedenartige Planungsphilosophien erforderlich macht.
  • Man braucht trotz aller damit verbundenen Unsicherheit längerfristige Prognosen, weil nach 2015 mit stärkeren Abnahmen gerechnet werden muss. Zurzeit besteht also eine Übergangsphase.
  • Bei der Abwägung von konkreten Projektalternativen sind solche Projekte zu bevorzugen, die sich als robust gegenüber Prognoseunsicherheiten erweisen (z. B. geringe Kosten bei rückläufiger Nachfrageentwicklung).

Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland – zunächst nur für die alten und dann auch die neuen Länder – ist die Forderung nach einem Früherkennungssystem bereits erfüllt, denn es besteht neben einer Vielzahl von jährlich veröffentlichten Statistiken in Form des Deutschen Mobilitätspanels mittlerweile eine Informationsquelle, die sehr frühzeitig und begründbar den Wechsel einer stetigen Aufwärtsentwicklung hin zu einer Stagnation im Personenverkehr aufzeigen konnte (Chlond, Manz, Zumkeller 2002 [7]). Die in der Folge nicht ausgebliebenen Diskussionen haben deutlich gemacht, dass dieser Befund wohl zutrifft, jedoch keineswegs auf Einzelräume übertragen werden kann.

2 Eine Dekade deutsches Mobilitätspanel – ein Rückblick

Angesichts der massiven Veränderungen der Vergangenheit und insbesondere der Zukunft besteht ein zentrales Beschäftigungsfeld für Verkehrsplaner darin, Veränderungen im Verkehrsverhalten zu messen, zu verstehen und letztendlich auf demografische und sozio-ökonomische Bestimmungsfaktoren zurückzuführen, um darauf aufbauend die zu erwartende Entwicklung vorhersagen zu können. Hierzu sind Panelerhebungen als neues Element der Verkehrsforschung nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt worden. Panelerhebungen werden definiert als Befragungen derselben Probanden an zwei oder mehr bestimmten Zeitpunkten. Dies unterscheidet sie von wiederholten Querschnittserhebungen, bei welchen jeweils verschiedene Probanden zu mehreren Zeitpunkten befragt werden (z.B. KONTIV [8] und MID). Da beide Erhebungsformen methodische Vor- und Nachteile aufweisen, ist deren Kombination – wie dies in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist – als günstigste und vorbildliche Methode zur Messung von Zuständen und Entwicklungen erkannt worden (Kish 1985 [9]).

2.1 Von der Pilotstudie zur Früherkennung

Das Deutsche Mobilitätspanel geht auf das Jahr 1990 zurück, in dem zunächst eine Pilotstudie gestartet wurde, um darauf aufbauend 1994 die Feldphase zu beginnen. Im Bild 3 ist die rollierende Stichprobe für die bisherige Laufzeit dargestellt. Daraus wird auch deutlich, dass im Jahr 2002 eine spezielle Selektivitätsstudie durchgeführt wurde, die Aufschluss über das Ausmaß von Selektivität (einschließlich non-response) gibt und damit bei der Steuerung der Stichprobe in der Zukunft sehr wertvolle Dienste leistet. Weiter gehende Informationen zur Art und Steuerung der Stichprobe finden sich bei www.mobilitaetspanel.de.

Bild 3: Entwicklung des Deutschen Mobilitätspanels 1990 bis 2003/04 und Stichprobenaufbau

Die Grundidee bestand und besteht darin, nicht Momentaufnahmen, sondern ein Gesamtbild langfristiger Entwicklung der Mobilität im Personenverkehr – also einen Film – aufzunehmen. Und natürlich hat die Verkehrsforschung erwartet, ihre zukunftsgerichteten Einschätzungen und Theorien in diesem Film wiederzufinden – aber es kam anders. Wie sich heute zeigt, lag dies nicht an den Theorien, sondern an dem Umstand, dass die Grundgesamtheit – die Bundesrepublik Deutschland – sich in der letzten Dekade in erheblicher Weise verändert hat: zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, zwischen Stadt und Land und zwischen Alt und Jung. Und so kann heute gezeigt werden, dass die Vorstellung eines weiterhin kontinuierlichen Wachstums des Personenverkehrs nicht mehr haltbar ist. Die Bilder 4 und 5 zeigen sehr differenziert, dass das Panel zwar insgesamt durchaus hohe Nachfragewerte misst, wenn man die Schätzwerte mit denen anderer Erhebungen vergleicht, dass aber zumindest seit 1998/99 von einer Stagnation der gesamten Nachfrage im Personenverkehr ausgegangen werden muss. Diese Einsicht fiel zunächst schwer, mittlerweile wird aber intensiv an der Frage gearbeitet, in welchem Ausmaß welche Bestimmungsfaktoren an dieser Entwicklung beteiligt sind. Und im Fazit führt diese zunächst schlechte Nachricht dazu, Risiken und Chancen bei der Entwicklung unserer Verkehrsinfrastruktur besser einschätzen zu können, um auf dieser Basis eine gezieltere Allokation der Mittel herbeizuführen. Oder volkstümlicher ausgedrückt: differenzierter hinschauen und mehr Klasse statt Masse produzieren – ein Thema, welches bei der Entwicklung der neuen Bundesländer auch in verkehrsfremden Bereichen mit dem Begriff „Leuchtturm“ verknüpft ist.

Bild 4: Verkehrsleistung [MOP, 10]

Bild 5: Eckwerte der Mobilitätsentwicklung

2.2 Ein Blick über die Grenzen

Angesichts des Vereinigungsprozesses ist das Thema von Veränderungen in Deutschland besonders virulent. Gleichwohl findet demografischer Wandel auch in anderen Ländern statt und findet dort entsprechende Beachtung. Dies gilt insbesondere für die europäischen Nachbarn. Und so ist es auch kein Wunder, dass die bedeutendsten methodischen Entwicklungen in diesem Bereich in den Niederlanden, in Frankreich und in Großbritannien stattgefunden haben, während es in Übersee erst kleinere Pilotanwendungen zu Panelerhebungen gibt, die möglicherweise später zu landesweiten Panels führen. Dies gilt in gleicher Weise für die USA, Kanada, Australien und Japan. Gleichwohl sind die Forderungen aus dem wissenschaftlichen Bereich deutlich, auch hier zu weiteren konkreteren Schritten zu kommen (Kitamura, Golob, Long 1997 [13]), weil die Erklärungskraft von Panelerhebungen in Kombination mit Querschnittserhebungen ganz allgemein als das günstigste Vorgehen eingeschätzt wird (Murakami, Greeves, Ruiz 2004 [14]). Angesichts der Laufzeit des Deutschen Mobilitätspanels ist in dieser internationalen Debatte durchaus erfreulich, dass – wie auch Frankreich – bereits auf einen erheblichen Erfahrungsschatz zurückgeblickt werden kann, der auch in potenziellen Realisierungen in anderen Ländern genutzt werden kann (Zumkeller, Madre, Chlond, Armoogum 2004 [15]).

3 Risiken und Chancen von Prognosen

3.1 Treffsicherheit von Prognosen

Prognosen bieten ein hohes Irrtumspotenzial; deshalb sind sie von Wissenschaftlern auch so gefürchtet. Der Verzicht auf Prognosen bietet allerdings das höhere Irrtumspotenzial, deshalb sind Prognosen so unerlässlich – insbesondere in den folgenden Dekaden. Und selbstverständlich steigt die Irrtumswahrscheinlichkeit von Prognosen immer dann, wenn langjährige Trends sich ändern. Ein schönes Beispiel hierzu bietet der Vergleich einer ganzen Reihe von Prognosen (ADAC-Studie 2004 [16]) mit der tatsächlichen Entwicklung, wie dies im Bild 6 dargestellt ist. Danach zeigt sich, dass die reale Entwicklung der Verkehrsleistung gegenüber dem Unisono von Prognosen der Fachwelt genau in den Jahren systematisch abweicht, in denen sich erhebliche Veränderungen des langfristigen Trends einstellen.

Und selbstverständlich ist die Bandbreite von Einschätzungen und Szenarien in solchen Zeiten erheblich. Als Beispiel sei hier nur die jüngste Shell-Prognose (Shell-Pkw-Szenarien bis 2030) erwähnt (Bild 7), die in ihrer Einschätzung zur Entwicklung der Gesamtfahrleistung folgende prinzipiellen Möglichkeiten ausweist:

Bild 6: Prognosen und Ist-Entwicklung der Pkw-Fahrleistung [16]

Bild 7: Durchschnittliche Fahrleistung und Gesamtfahrleistung [17]

  • Erneuter Anstieg der Verkehrsleistung nach Jahren moderater Abnahme oder Stagnation (eine Einschätzung, die nach den aktuellen Ergebnissen des Deutschen Mobilitätspanels nicht geteilt werden kann)
  • Ein Szenario „Tradition“, welches durchaus realistisch erscheint und eine Abnahme der Fahrleistung nach 2015 prognostiziert
  • Ein Szenario „Impulse“, welches eine unbegrenzte Zunahme der Fahrleistung weiterhin für möglich hält (eine Einschätzung, die nicht geteilt wird).

Was ist das Fazit: Man muss sich langfristigen Prognosen stellen, ob man will oder nicht, denn nur so werden die Risiken und Chancen bei der weiteren Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur deutlich. Divergierende Auffassungen über mögliche Entwicklungslinien sind hier das kleinere Übel.

3.2 Wirtschaftliche Entwicklung

Die wirtschaftliche Entwicklung stellt sich bei jeder Prognose als größeres Rätsel dar, weil der Blick in besonderer Weise auf die Konjunkturzyklen der nächsten ein bis zwei Jahre gerichtet ist, während für die zu gestaltende Infrastruktur Abschreibungszeiten von 30 bis 70 Jahren ins Kalkül zu ziehen sind. Es wäre fahrlässig, wenn ein Verkehrsingenieur versuchen würde, hierzu eine Aussage zu machen, die über die nächsten Jahre heraus geht. Es muss aber erlaubt sein, angesichts der aktuellen Entwicklung (Bild 8) und der erheblichen Handlungsspielräume beim Gestalten der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung davon ausgehen zu dürfen, dass das Bruttoinlandsprodukt real zumindest nicht sinken wird, was immerhin bedeuten würde, dass das hohe absolute Niveau aufrechterhalten werden kann.

Bild 8: Reales Bruttoinlandsprodukt in Deutschland in Preisen von 1995 [18]

3.3 Wanderungen

Wanderungen stellen für Bevölkerungsprognosen ein Rätsel ähnlicher Dimension dar, wie es bereits bei der wirtschaftlichen Entwicklung geschildert wurde, weil räumliche Disparitäten der Wertschöpfung den wesentlichen Treiber für eben diese Wanderungen darstellen. Ein Rückblick auf das Ausmaß bereits stattgefundener Wanderungen vermittelt gleichwohl einen Eindruck von der Größenordnung sowohl der Binnen- (Bild 9) als auch der Außenwanderung (Bild 10).

Bild 9: Ost-West-Wanderungen in Deutschland 1957 bis 2001 [19]

Bild 10: Wanderungen über die Grenzen Deutschlands [19]

Beide Grafiken machen deutlich, dass der zeitliche Verlauf der Binnenwanderungen in hohem Maße durch politische Ereignisse bestimmt worden ist, während die Außenwanderungen eine eher abnehmende Tendenz aufweisen. Dies gilt im Übrigen mittlerweile auch für die Binnenwanderungen zwischen Ost und West. Deutlich wird auch, dass das derzeitige Volumen an Wanderungen bei weitem nicht in der Lage ist, die Wirkungen der natürlichen Bevölkerungsentwicklung zu kompensieren. Dies schließt natürlich nicht aus, dass Deutschland einer neuen Welle von Außenwanderungen entgegensieht, wenn dies vor dem Hintergrund ökonomischer Rahmenbedingungen in Europa und auch weltweit Sinn machen würde. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die demografische Struktur der Nachbarländer Ähnlichkeiten aufweist, die es nicht nahelegen, dass hier eine deutliche Trendwende zu erwarten ist. Erweitert man vor diesem Hintergrund den Blick auf globale Wanderungen, dann sind auch hier die englischsprachigen und klassischen Immigrationsländer wie die USA, Kanada oder auch Australien vermutlich in einer besseren Position, um Wanderungsprozesse in ihrem Sinne selektiv zu gestalten.

Im Fazit führt dies zu der Annahme, dass es maßgeblicher politischer und ökonomischer Veränderungen bedürfte, um die derzeitige Wanderungssituation so zu verändern, dass die negativen Entwicklungen der natürlichen Bevölkerungsentwicklung gedämpft oder sogar kompensiert werden.

3.4 Räumliche Verteilung

Die räumliche Verteilungen der Wirkungen des demografischen Wandels innerhalb der Bundesrepublik erweist sich als außerordentlich heterogen. Zur Darstellung dieser Ausgangslage steht umfangreiche Literatur zur Verfügung, die teilweise auch populärwissenschaftlich aufbereitet wurde (Kröhnert, Nienke, Klingholz 2004 [20]; GEO-Demographie-Studie 2004 [21]). An dieser Stelle soll eine räumliche Darstellung der Altersstruktur, bezogen auf die letzte und die nächsten zwei Dekaden, genügen (Bild 11).

Bild 11: Prozentualer Anteil der unter 20-Jährigen im Vergleich zu jenem der über 60-Jährigen [21]

Daraus wird deutlich, dass die allgemeine Stagnation des Personenverkehrs als Mittelwert der Bundesrepublik auf keinen Fall den Schluss zulässt, dass dies mehr oder weniger in allen Räumen in ähnlicher Weise stattfinden wird. Das Umgekehrte ist der Fall:

  • Es wird nach wie vor Wachstumsregionen geben (insbesondere (süddeutsche) Metropolen und Umlandbereiche), in denen Überlastungserscheinungen der Verkehrsinfrastruktur auch als limitierende Faktoren für weiteres Wachstum wirksam werden können und damit die Frage nach einem weiteren Ausbau der Verkehrsinfrastruktur aufwerfen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Entspannungstendenzen im Straßenverkehr insbesondere in traditionell überlasteten Infrastrukturen neue Wachstumsanreize auslösen können
  • Umgekehrt wird es Schrumpfungsbereiche geben, in denen sich zum Beispiel das Problem der kritischen Masse für die Aufrechterhaltung bestimmter Angebote stellt (z. B. ÖPNV im ländlichen Raum)
  • Dazwischen wird es eine Vielzahl von Räumen geben, bei denen sich vor dem Hintergrund stagnierender Entwicklung die schwierige Frage stellt, ob ein geordneter Rückzug oder eine risikobeladene Vorwärtsbewegung die mittel- bis langfristig richtige Strategie So können in solchen Räumen z. B. Entspannungstendenzen in einem entlasteten Straßenverkehrsnetz Wachstumsimpulse auslösen. Umgekehrt können teure ÖV-Systeme (z. B. schienengebundene Systeme) bei nachlassender Nachfrage Belastungen darstellen, die langfristig nicht kompensiert werden können. In diesem Zusammenhang wird sich immer wieder die schwierige Frage stellen, wie die zahlreichen älteren Menschen der nächsten beiden Dekaden im hohen Alter mit dem ihnen vertrauten Pkw umgehen – wahrscheinlich indem sie ihn nutzen.

3.5 Früherkennung, Prognose, Planung

Insbesondere bei Betrachtung der räumlichen Verteilung wurde deutlich, dass die Wirkungen des demografischen Wandels in verschiedenen Räumen stark differieren und deutlich zeitversetzt ablaufen werden. Erste Signale sind schon seit längerem in einer ganzen Reihe von ostdeutschen Städten zu beobachten1), in prosperierenden Räumen hingegen wird wenig Anlass gesehen, mögliche Trendwenden zur Kenntnis zu nehmen. Man braucht also

  • In den verschiedenen Raumtypen Früherkennungssysteme, die früher oder später eintretende prinzipielle Veränderungen der Entwicklung frühzeitig ankündigen
  • Prognosen, die mutig genug sind, auch „hinter den Berg“, d. h. die Zeit nach 2015, zu schauen
  • Mindestens drei Planungsphilosophien, die sich mit den Fragen befassen:
    1. Wie geht man mit Wachstumsräumen um, die für eine mehr oder weniger lange Zeit Übergangslösungen für immer noch steigende Nachfrage finden müssen (z. B. Telematik)?
    2. Wie geht man mit schrumpfenden Räumen um, die gleichwohl eine geordnete Verschlankung und Sicherung ihrer Verkehrsinfrastruktur benötigen?
    3. Welche Planungsgrundsätze lassen sich für die Vielzahl von indifferenten Räumen entwickeln, die über den Tag hinaus ihre Entwicklungsstrategie definieren müssen? Als Sieger werden vermutlich die Räume aus dem Rennen hervorgehen, die für sich frühzeitig eine spezifische Nischenstrategie haben definieren können.

1)Obwohl das folgende Beispiel nicht verkehrsspezifisch ist, es es doch sehr prägnant: hätte man bei der Sanierung von Plattenbauten in den 90er Jahren nicht viel Geld sparen können, wenn man den Blick ein wenig weiter nach vorn gerichtet hätte?

4 Klasse statt Masse – eine neue Chance

Das Hauptanliegen des vorliegenden Beitrags besteht darin, deutlich zu machen, dass ein Verschließen der Augen vor früher oder später einsetzenden Entwicklungen der Personenverkehrsnachfrage die schlechteste aller möglichen Alternativen darstellt. Umgekehrt bieten ein frühzeitiges Erkennen und Akzeptieren ohnehin nicht aufhaltbarer Prozesse die Option von neuen Chancen. Im Einzelnen gilt es

  • für den ÖPNV zwischen Untersuchungsräumen außerordentlich differenziert zu unterscheiden und sich ein Höchstmaß an infrastruktureller, betrieblicher und räumlicher Flexibilität zu erhalten
  • für den MIV im Zusammenspiel mit dem (noch?) wachsenden Güterverkehr die Kräfte in besonderer Weise auf Projekte mit hoher Nutzenstiftung zu konzentrieren
  • den nicht motorisierten Verkehr angesichts der wachsenden Zahl älterer Menschen so zu pflegen, dass er eine bedeutende Rolle bei der Bereitstellung hoher Stadtqualitäten spielen kann.

Die Chancen bestehen also darin, einen Umbau der Verkehrsinfrastruktur qualitativ so hochwertig zu gestalten, dass folgende Ziele erreichbar werden:

  • Der zunehmenden Zahl an älteren Menschen müssen qualitativ hochwertige und sichere Verkehrsgelegenheiten geboten werden, damit sie sowohl im urbanen Raum, als auch in Freizeitregionen qualitativ hochwertige Ziele erreichen können, oder, wie Holz-Rau und Scheiner es formulieren „Erreichbarkeit und Sicherheit sind wichtiger als hohe Geschwindigkeit“ [22]
  • Im Straßenverkehr ist anzustreben, die Kapazitätsprobleme in Wachstumsräumen eher durch Telematik und organisatorische Maßnahmen zu überbrücken, als durch Ausbaumaßnahmen das ohnehin schon vorhandene Problem von Erhaltung und Erneuerung zu vergrößern
  • Umgekehrt sind im Straßenverkehr die neuen Erschließungschancen, die durch Entspannungstendenzen der Verkehrsnachfrage entstehen, zu nutzen. Dies gilt insbesondere für flachere zeitliche Verteilungen, als auch für dispersere Raumstrukturen
  • Die Allokation der Mittel im Investitionshaushalt ist auf unstrittig notwendige Projekte im Kernnetz zu konzentrieren. Dabei stellt die zu erwartende Zunahme des Regional- und Fernverkehrs ein besonderes Problemfeld dar
  • Eine weitere Umorientierung auf die Bestandserhaltung (statt Ausbau der Infrastruktur) ist zu fördern
  • Kleinteilige, differenzierte und flexible Strukturen sind Großprojekten vorzuziehen.

Die Chance besteht also darin, einen planvollen Umbau der Verkehrsinfrastruktur – in noch engerer Verzahnung zur Raumplanung – als Gestaltungsoption zu erkennen, um Qualität als Standortmerkmal weiter entwickeln zu können. Und selbstverständlich wird dies nicht einfacher als in Wachstumsphasen, denn die allbekannten Dilemmasituationen verschiedener Teufelskreise (Kutter 1975 [23]) werden uns auch in Abwärtsspiralen wieder begegnen – insbesondere das Spannungsfeld zwischen motorisiertem Individualverkehr und öffentlichem Personennahverkehr. Auch hier wird es nicht so sein, dass der MIV der alleinige Sieger und der ÖPNV der Verlierer sein wird. Es geht vielmehr darum, ein nachhaltiges Konzept für eine Sicherung und Arrondierung von Kernnetzen im ÖPNV und ein angemessenes Rollenspiel zwischen MIV und ÖPNV in stagnierenden Bereichen zu definieren.

Literaturverzeichnis

  1. Birg, ; Koch, H.: Der Bevölkerungsrückgang in der Bundesrepublik Deutschland – Langfristige Bevölkerungsvorausschätzungen auf der Grundlage des demographischen Kohortenmodells und der biografischen Theorie der Fertilität, Forschungsberichte des IBS, Bd. 13, Frankfurt/New York 1987: Campus
  2. Bierschenk, ; Merckens, R.; Pfeif fle, M.; Vogt, W.; Zumkeller, D.: Szenarien zu langfristigen Mobilitätsentwicklungen, Arbeitspapier Nr. 18 der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, Köln 1987
  3. Badische Neueste Nachrichten vom 6.10.2004: Geburtenrate sinkt auf einen Tiefpunkt, Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom 5.10.2004 „Statistisches Jahrbuch 2004 erschienen“
  4. GEO-Demographie-Studie, Demographie: Was Deutschland erwartet, Demographie-Beilage des GEO Magazins 5/04
  5. Birg, : Perspektiven der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland und Europa – Konsequenzen für die sozialen Sicherungssysteme, Unterlagen für den Vortrag bei der Sachverständigenanhörung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, 4. Juli 2000
  6. Jahnke, : Die Planung belastbar machen. Zu optimistische Prognosen vermeiden, Der Nahverkehr, Heft 6/2004, S. 43ff
  7. Chlond, ; Manz, W.; Zumkeller D.: Stagnation der Verkehrsnachfrage – Sättigung oder Episode?, Teil 1 der dreiteiligen Artikelserie „Entwicklung der Mobilität im vereinigen Deutschland“, Internationales Verkehrswesen (54) 2002, Heft 6
  8. http://www.kontiv2002.de
  9. Kish, : Timing of Surveys for Public Policy, Australian Journal of Statistics, Heft 28 (1), 1985, S. 1–12
  10. Verkehr in Zahlen 2002/2003, Hrsg. BMVBW, Deutscher Verkehrsverlag, Hamburg 2002
  11. Kunert, ; Kloas, J.: Über die Schwierigkeiten Verkehrsverhalten zu messen. Die drei KONTIV-Erhebungen im Vergleich, Teil I, Teil II, Verkehr + Technik (47) 1994, Nr. 3 und 5
  12. Kunert, ; Kloas, J.; Kuhfeld, H.: Mobilität in Deutschland – KONTIV 2002: Neue Nutzungsperspektiven und erweiterte Analysemöglichkeiten, 11. DVWG-Workshop über Statistik und Verkehr, Mannheim, 20. Juni 2002, Mobilitätsdaten besser nutzen, DVWG Line B, Issue 255, Bergisch Gladbach 2003
  13. Golob, ; Kitamura, R.; Long, L. (Hrsg.): Panels for Transportation Planning, Methods and Applications, Transportation Research, Economics and Policy Vol. 5, 1997
  14. Murakami, ; Greaves, St.; Ruiz, T.: Moving Panel Surveys from Concept to Implementation, Workshop Report on Workshop A8 on Panel Surveys, Costa Rica Conference 2004, August 1–6, 2004, Veröffentlichung in Vorbereitung
  15. Zumkeller, ; Madre, J.-L.; Chlond, B.; Armoogum, J.: „Panel Surveys”, Paper presented for Costa Rica Conference 2004, August 1–6, 2004, Veröffentlichung vorgesehen
  16. ADAC-Studie zur Mobilität, Überprüfung ausgewählter langfristiger Verkehrsprognosen, 2004
  17. Shell-Pkw-Szenarien bis 2030, Hrsg. Shell Deutschland Oil, shell.de
  18. DIW-Konjunkturbarometer September 2004, diw.de
  19. DIW Wochenbericht 33/2004
  20. Kröhnert, ; Nienke, O.v.; Klingholz, R.: Deutschland 2020. Die demografische Zukunft der Nation, Berlin-Institut für Weltbevölkerung und globale Entwicklung (Hrsg.), 2004
  21. GEO-Demographie-Studie: die Ergebnisse im Überblick, GEO.de
  22. Holz-Rau, ; Scheiner, J.: Folgerungen aus der demografischen Entwicklung für die Verkehrsplanung; in: Gerz, C.; Stein, A. (Hrsg.): Raum und Verkehr gestalten, Berlin 2004
  23. Kutter, : Mobilität als Determinante städtischer Lebensqualität; in: DVWG (Hrsg.): Beiträge zu „Verkehr in Ballungsräumen“, Reihe B, Band 24, Köln, S. 64–75