FGSV-Nr. FGSV 002/107
Ort Karlsruhe
Datum 17.09.2013
Titel Entwicklung eines Risiko-Parcours für das Betriebsdienstpersonal und erste Erfahrungen
Autoren Dipl.-Ing. Michael Höhne, Dipl.-Ing. Christian Fritsch
Kategorien Straßenbetrieb, Winterdienst
Einleitung

Im Jahr 2009 wurde im Landesbetrieb Straßenbau zusammen mit der Unfallkasse NRW, dem Verkehrsministerium NRW (MBV) und dem Netzwerk Verkehrssicheres NRW ein Projekt gestartet, welches die Erhöhung der Sicherheit des Betriebsdienstpersonals im Verkehrsraum zum Ziel hatte. Nach einem Ideenwettbewerb in den 29 Autobahnmeistereien in NRW wurde aus vielen Vorschlägen u. a. der „Risiko-Parcours Straßenbetriebsdienst“ entwickelt. Es handelt sich hierbei um ein halbtägiges Fortbildungsmodul für Hochrisikosituationen. Dem Betriebsdienstpersonal soll es helfen, gefährliche Situationen im Arbeitsalltag besser einschätzen zu können. Das soll dazu dienen, die Arbeit sicherer zu machen. Der Risiko-Parcours beinhaltet fünf Stationen, die allesamt unter dem Fokus stehen, aus dem täglichen Routinehandeln heraus gegebenenfalls unterschätzte Risiken neu zu bewerten und die Sensibilität für die Risiken der Straße wieder herzustellen bzw. neu zu entdecken. Themen der einzelnen Stationen sind die Doppelbelastung bei der Arbeit, Einschätzung und Abschätzung von Geschwindigkeiten, Entfernungen und Fahrzeuglücken, Faustregeln für die korrekte Einstellung des Fahrerarbeitsplatzes, Queren von Richtungsfahrbahnen sowie das Übersteigen von Schutzsystemen wie Schutzplanke bzw. Betonschutzwand. Nach Start des Parcours im Jahr 2012 soll dieser in allen Autobahnmeistereien und zukünftig auch Straßenmeistereien in NRW durchgeführt werden. Eine erste Akzeptanzanalyse nach bisher 13 durchgeführten Veranstaltungen zeigt, dass aus der sichtbaren Anlehnung an typische Arbeitssituationen auf der Autobahn eine hohe Akzeptanz bei den Parcours-Teilnehmern erwächst. Der Parcours wurde inzwischen auch von der Bayerischen Landesunfallkasse und der bayerischen Straßenbauverwaltung übernommen.

Nach 20 Jahren der Beobachtung des Unfallgeschehens im Betriebsdienst des Landesbetriebes Straßenbau NRW kommt man zum Schluss, dass neben den üblichen Gefährdungen einer Straßenwärterin oder eines Straßenwärters weitere hohe Risiken beim Ausüben dieses vielschichtigen Berufes eine Rolle spielen. Die üblicherweise auch in anderen Berufen vorkommenden mechanischen, physikalischen, elektrischen, durch Lärm + Vibrationen oder chemischen Gefährdungen sind nicht zu unterschätzen. Allerdings sind diese im Unfallgeschehen von Straßen.NRW gleichmäßig verteilt. Risiken können minimiert werden, indem man Technik, Organisation oder Persönliche Schutzausrüstung verbessert. Allerdings kommt es immer wieder zu schweren Unfällen mit Beteiligung von Betriebsdienstpersonal im Verkehrsraum. Diese Unfälle zeichnen sich dadurch aus, dass Fehlverhalten von Verkehrsteilnehmern zu Schäden an Material und Menschen führt. Schäden an Material lassen sich reparieren und werden seitens der Haftpflichtversicherer abgewickelt. Der Schaden, der den arbeitenden Menschen von Straßen.NRW zugefügt wird, ist jedoch nicht so leicht zu reparieren. Schwere Unfälle führen in regelmäßigen Abständen dazu, dass Straßenwärterinnen oder Straßenwärter schwerst verletzt oder gar getötet werden. In den Jahren 1993 bis zum Ende des Jahres 2012 wurden von der Stabsstelle Arbeitssicherheit von Straßen.NRW 477 fremdverschuldete Unfälle mit Personenschaden registriert, die der gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallkasse NRW) gemeldet wurden. Dazu kommt noch eine etwa gleich große Zahl von Unfällen, die nur mit Sachschäden einher gegangen sind. Die Dunkelziffer der „Beinaheunfälle“ ist nicht bekannt, wird aber mindestens gleich hoch, wenn nicht sogar höher eingeschätzt.

18 Beschäftigte kamen im Beobachtungszeitraum bei diesen Unfällen ums Leben und hinterließen Angehörige und Familien. Auf den Zeitraum, die Unfallzahlen und die Zahl der Beschäftigten bezogen, heißt das im Vergleich mit gewerblichen Berufen, dass eine Straßenwärterin oder ein Straßenwärter ein 13-fach höheres Risiko hat, bei seiner Tätigkeit tödlich verletzt zu werden.

Ein Umstand also, der Unfallkasse NRW und Straßen.NRW immer wieder nach Lösungen suchen lässt, um dieses Risiko zu minimieren.

Aus dem Jahr 2009 wurde an dieser Stelle schon einmal darüber berichtet, dass viele Lösungen zum Ziel führen können. Nach einem Unfall stehen insbesondere die systematische und qualitätsgesicherte Unfallursachenermittlung im Vordergrund, die durch Straßen.NRW gewährleistet ist. Weiterhin ist eine zeitnahe Betreuung nach schweren Unfällen notwendig. Gespräche mit internen und externen (Notfallseelsorger, Psychotherapeuten) vertrauenswürdigen Personenkreisen haben gezeigt, dass Ängste abgebaut werden können und sich Verletzte auch nach einem Unfall gut im Betrieb aufgehoben fühlen.

So wurde im Jahr 2009 im Landesbetrieb Straßenbau zusammen mit der Unfallkasse NRW, dem Verkehrsministerium NRW und dem Netzwerk Verkehrssicheres NRW ein Projekt gestartet, welches die Erhöhung der Sicherheit des Betriebsdienstpersonals im Verkehrsraum zum Ziel hatte. Es wurde „Projekt Sicherer Arbeitsraum Straße“ genannt. Gestartet wurde es mit einem Ideenwettbewerb in den Autobahnmeistereien des Landesbetriebes. Denn die Beschäftigten in den Meistereien sind ein großes Ideenpotenzial, welches man nutzen kann und muss.

In einer groß angelegten Aktion wurden Plakate an die Dienststellen verschickt. Jeder Beschäftigte wurde gebeten, seine Ideen zu folgenden Fragestellungen vorzustellen:

    Wie könnte Technik Ihre Sicherheit an Arbeitsstellen verbessern?

    Wie könnten Änderungen der Arbeitsorganisation Ihre Sicherheit an Arbeitsstellen verbessern?

    Wie könnten Sie selbst und andere Personen dazu beitragen, dass sich Ihre Sicherheit an Arbeitsstellen verbessert?

Selbstverständlich hatte jeder Beschäftigte einer Meisterei die Möglichkeit anonym auch Ideen mit einzubringen. Die Ideen wurden gesammelt und sortiert. Folgende Staffelung hat sich dabei ergeben.

Nach der Sammlung wurde gefiltert, welche Vorschläge neu und innovativ waren. Daraus ergaben sich 130 Vorschläge, die verfolgbar waren und in zwei Expertenworkshops besprochen wurden. In den Workshops saßen Führungskräfte und Betriebsdienstpersonal jeweils homogen zusammengesetzt. Die Vorschläge wurden vorgestellt und es wurde über die Wirksamkeit abgestimmt. Hieraus ergaben sich 4 Handlungsfelder, die im Bild 2 zu sehen sind. Da sich dieser Vortrag nur mit dem Risiko-Parcours beschäftigt, wird über die anderen Themen hier nicht berichtet.

Beim Risiko-Parcours handelt es sich um ein halbtägiges Fortbildungsmodul für Hochrisikosituationen. Dem Betriebsdienstpersonal soll es helfen, gefährliche Situationen im Arbeitsalltag besser einschätzen zu können und eigene Verhaltensmuster zu hinterfragen. Das soll dazu dienen, die Arbeit sicherer zu machen.

Bild 1: Auswertung Umfrage unter Meistereibeschäftigten

Der Risiko-Parcours beinhaltet fünf Stationen, die allesamt unter dem Fokus stehen, aus dem täglichen Routinehandeln heraus gegebenenfalls unterschätzte Risiken neu zu bewerten und die Sensibilität für die Risiken der Straße wiederherzustellen bzw. neu zu entdecken.

Bild 2: Vier Handlungsfelder aus Ideenwettbewerb in 29 AM in NRW

Bild 3: Risiko-Parcours mit fünf Stationen

Im Fokus aller Stationen steht der Gedanke, dass nicht die Moderatoren des Parcours richtige oder falsche Verhaltensweisen vorgeben. Durch simulierte Praxissituationen werden die Teilnehmer dazu eingeladen, mit den Kolleginnen und Kollegen kritisch über eigene Risikoeinschätzungen und eigenes Verhalten zu diskutieren und sich dadurch möglicherweise neue Verhaltensmuster mit höherem Sicherheitspotenzial zu eröffnen.

Station DoppelDenker

Die Station „DoppelDenker“ macht deutlich, dass auch scheinbar einfache Aufgaben, wie das Aufsammeln von verlorener Ladung oder einfache Arbeiten, wie das Einbringen kleiner Mengen Kaltasphalt viel Aufmerksamkeit benötigen, da jegliche Arbeitsaufgaben auf oder am Rande der Autobahn immer eine Doppelbelastung aus Arbeitsaufgabe und permanenter Verkehrsbeobachtung darstellen.

Station ArgusAuge

Anhand von Entfernungs- und Geschwindigkeitsschätzungen sowie der Abschätzung von Lückengrößen im Verkehr illustriert die Station „ArgusAuge“, dass Schätzungen im Verkehr extrem schwierig sind – und die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs ohne Vergleich mit der Geschwindigkeit anderer Fahrzeuge (hilfreich hier: Lkw mit ca. 80 km/h) kaum sinnvoll schätzbar ist. Die Parcoursteilnehmer erfahren durch eingespieltes Bild- und Videomaterial sowohl vom Fahrersitz eines Lkw aus, als auch aus der Perspektive von der Fahrbahn realistisch die Schwierigkeit der Einschätzungen in Abhängigkeit verschiedener Rahmenbedingungen. Diskussionen der Teilnehmer über die erlebten Schwierigkeiten der Einschätzungen bringen zahlreiche, individuell verschiedene Risikoeinschätzungen und Verhaltensmuster hervor. Die Teilnehmer werden eingeladen, die eigenen Einschätzungen und Verhaltensweisen zu hinterfragen.

Station LückenSpringer

Das Queren von Richtungsfahrbahnen bei Arbeiten im Betriebsdienst sollte möglichst vermieden und nur nach sorgfältigem Abwägen alternativer Maßnahmen erfolgen. Gleichwohl zeigt die Praxis, dass eine vollständige Vermeidung unrealistisch ist. Die Station „LückenSpringer“ greift dieses Thema deshalb offensiv auf und lädt die Beteiligten dazu ein, sich das Überqueren einer zweistreifigen Richtungsfahrbahn zu vergegenwärtigen – und mit den Kolleginnen und Kollegen darüber zu diskutieren, welche Geh- oder Laufgeschwindigkeit angemessen ist, welche Sicherheitsreserven beim Überqueren mit einberechnet werden müssen und wie auf Unvorhergesehenes (z. B. während der Querung Verlieren der eigenen Ausrüstung) reagiert werden kann.

Station FluchtWege

Schutzplanken und Betonschutzwände sind nicht für das Übersteigen konstruiert und bieten dem Betriebsdienstpersonal somit keine sicheren bzw. ergonomischen Übersteighilfen. Der Alltag im Betriebsdienst erfordert jedoch regelmäßig das Übersteigen dieser Einrichtungen,

z. B. bei Arbeiten im Mittelstreifen, sei es zur Ausführung alltäglicher Arbeiten oder auch als Fluchtweg bei kritischen Verkehrssituationen. Welche Bewegungsabläufe beim Übersteigen einer Super-Rail und einer Betonschutzwand erfolgen, welche mehr und welche weniger sicher bzw. gesundheitsförderlich sind – das ist unter anderem ein Thema der Station „Flucht-Wege“.

Station FaustRegeln

Wie mit einer adäquaten Sitzeinstellung gesundheitliche Belastungen verringert werden können und welche Sicherheitsgewinne sich aus einer korrekten Sitzposition erschließen lassen, wird in der Station „FaustRegeln“ mit den Straßenwärtern erörtert.

Die bisherigen durchgeführten Parcoursveranstaltungen (und die pro Station mitlaufende Akzeptanzanalyse) zeigen zunächst, dass aus der sichtbaren Anlehnung an typische Arbeitssituationen auf der Autobahn (sogenannte Augenschein-Validität) eine hohe Akzeptanz bei den Parcours-Teilnehmern erwächst. Das praktische Erproben in den Stationen liefert die Brücke zum Alltagshandeln: Die Teilnehmer vergleichen, wie es theoretisch sein sollte (z. B. laut Arbeitsanweisungen) und wie sich die Arbeit im Praxisalltag tatsächlich gestaltet. Alltäglich-ehrliche Verhaltensmuster werden aufgrund der augenscheinvaliden Situation gezeigt und die Risiken dieser Verhaltensmuster werden diskutiert; in den Abmoderationsphasen der Stationen tauschen die Teilnehmer untereinander Sicherheitstipps aus.

Seit Start des Parcours im Jahr 2012 wird dieser sukzessive in allen Autobahnmeistereien und zukünftig auch Straßenmeistereien in NRW als Schulungsveranstaltung der Unfallkasse NRW durchgeführt werden.

Der Parcours wurde inzwischen auch von der Bayerischen Landesunfallkasse und der bayerischen Straßenbauverwaltung übernommen. Weitere Bundesländer haben Interesse bekundet.

PDF
Volltext

Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.