FGSV-Nr. FGSV 001/24
Ort Leipzig
Datum 16.10.2012
Titel Prognosen der Zustandsentwicklung von Straßen mit Hilfe Neuronaler Netze
Autoren MR Dipl.-Ing. Roland Degelmann
Kategorien Kongress
Einleitung

Die Erhaltung der Straßenverkehrsanlagen ist die vordringlichste Aufgabe aller für die Infrastruktur Verantwortlichen, um die Sicherheit und Leistungsfähigkeit der Straßeninfrastruktur langfristig zu gewährleisten. Die wachsende Beanspruchung der Straßen – insbesondere durch den Schwerverkehr –, die ungünstiger werdende Altersstruktur von Fahrbahnen und Bauwerken sowie die nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehenden Finanzmittel zwingen die Straßenbaulastträger zunehmend, die Erhaltung netzweit zu systematisieren und alle heute verfügbaren Möglichkeiten für Zustandsprognosen zur Auswahl der jeweils optimalen Maßnahme zu nutzen. Nur so kann auch in Zukunft ein technisch und wirtschaftlich optimierter und bedarfsorientierter Mitteleinsatz gewährleistet werden.

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1 Erhaltungsmanagement

Das Straßennetz – nicht nur im Freistaat Bayern – ist historisch gewachsen. Es weist allein von daher unterschiedliche Ausbaustandards hinsichtlich der Trassierung, Breite, Frostsicherheit, Tragfähigkeit der Fahrbahnbefestigungen sowie Konstruktion und Tragfähigkeit der Bauwerke auf. Entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands stammt ein erheblicher Anteil des Bestandes in den alten Bundesländern aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Besonders für diesen Netzanteil stehen in den nächsten Jahren wesentliche Erhaltungsmaßnahmen der Fahrbahnbefestigungen und der Ingenieurbauwerke an, damit diese auch künftig den Verkehrsanforderungen genügen.

Der Verkehrsteilnehmer benötigt für die sichere Fahrt ausschließlich eine ausreichende Qualität der Fahrbahnoberfläche. Der Baulastträger kann ein entsprechendes Angebot dauerhaft und wirtschaftlich aber nur bereit stellen, wenn er nicht nur nach den Gebrauchseigenschaften der Oberfläche orientiert, sondern den Zustand und die Entwicklung der Substanz des Gesamtstraßenaufbaus, der Ingenieurbauwerke und der sonstigen Anlagenteile im Auge hat. Diese allein kann langfristig gute Oberflächeneigenschaften gewährleisten.

Das für ein langfristiges Erhaltungsmanagement notwendige Wissen über Zustand und Entwicklung der Infrastruktur muss sich einbinden in einen geschlossenen Prozesskreislauf
der Erhaltung (Bild 1).

Wesentliche Aufgaben in einem solchermaßen betriebenen Erhaltungskreislauf sind

  • die Bewertung der Netzqualität (Situationsanalyse),
  • die Bewertung der Zustandsentwicklung,
  • die Planung von Erhaltungsmaßnahmen auf Netzebene,
  • die Erstellung eines mittelfristigen Erhaltungsprogramms sowie
  • die Umsetzung des Erhaltungsprogramms auf Ausführungsebene.

Bild 1: Prozesskreislauf Erhaltungsmanagement

Die Arbeiten, die im Rahmen des Prozesskreislaufs zu erledigen sind, werden heute über eine Vielzahl auch informationstechnisch unterstützter Werkzeuge bearbeitet, die vom strategischen Bereich der Pavement-Management-Systeme bis zur Bearbeitung der operativen Bau- und Haushaltsprogramme reichen. Die heute vorhandenen Werkzeuge müssen – um sie zukunftsfähig zu erhalten – kontinuierlich weiter verbessert werden.

2 Zustandsprognosen heute

Bei der Beschreibung der Zustandsentwicklung mit Hilfe von Verhaltensfunktionen – wie sie heute regelmäßig zum Einsatz kommen – wird davon ausgegangen,

  • dass sich in den aktuell gemessenen Zustandsdaten alle Einflüsse aus Baustoffeigenschaften, Einbaubedingungen, Verkehr, Klima, baulicher Unterhaltung, Störungen (z. B. durch Aufgrabungen) und ähnliches widerspiegeln,
  • dass neben dem Zeitpunkt der aktuellen Zustandserfassung auch der Zeitpunkt bekannt ist, zu dem der Zustand optimal war und
  • zudem der Typ der jeweiligen Verhaltensfunktion – also die Art der Zustandsentwicklung – selbst feststeht.

Für die Beschreibung der Zustandsentwicklung werden für die einzelnen Zustandsmerkmale Verhaltensfunktionen definiert, die sich dadurch unterscheiden, dass die Zustandsentwicklung nach durchgeführter Maßnahme langsam, mittel, schnell oder sehr schnell verschlechtern. Die konkrete Ermittlung der Funktionsparameter erfolgt u. a. auf Grundlage stochastischer Verfahren, wobei ein qualitativer Verlauf der Funktion vorab bereits festgelegt sein muss (Bild 2).

Auch wenn die geschilderten Verfahren und der Verlauf der Verhaltensfunktionen vielfach als gesichert angesehen werden, so unterliegen sie gewissen systematischen Beschränkungen. Unabhängig von diesen ermöglichen Prognosen auf Grundlage entsprechender Funktionen keine unmittelbare Verknüpfung unterschiedlicher Zustandsmerkmale. So lässt sich beispielsweise kein Zusammenhang beschreiben, wie die Unebenheit einer Fahrbahn sich entwickelt, wenn die Oberfläche einen hohen Anteil von Netzrissen aufweist, oder gar, wenn der Anteil der Netzrisse schnell oder langsam zunimmt. Hier gilt es die Prognosegrundlagen deutlich zu verbessern.

Bild 2: Verhaltensfunktionen für Spurrinnen

3 Ansätze für eine Weiterentwicklung

Seit 1992 werden in Bayern in regelmäßigem Turnus Zustandserfassungen und -bewertungen des qualifizierten Straßennetzes durchgeführt. Diese bilden die Grundlage für die Darstellung der Zustandsentwicklung und die Prognose von Tendenzen für die Zukunft. Erstmals nach der Zustandserfassung 2007 wurden neben der Zusammenstellung der aktuellen Ergebnisse sowohl für die Bundes- wie für die Staatsstraßen alle Daten der letzten drei Erfassungskampagnen aufbereitet und zusammengeführt. Damit war es erstmals möglich den aktuellen Zustand, auch die Dynamik der Zustandsentwicklung, der einzelnen Straßenabschnitte (jeweils 100-m-Abschnitte) in den letzten acht Jahren zu beschreiben.

Dies ermöglicht zum einen eine Überprüfung der vorhandenen Verhaltensfunktionen, weil über die Kenntnis von jeweils dreier Messgrößen an einer Vielzahl von Erfassungsabschnitten eine Prüfung der Funktionsverläufe möglich wurde. Darüber hinaus wurde auch eine Verschneidung unterschiedlicher Zustandsmerkmale im Rahmen weitergehender Auswertungen möglich. Neben den allgemein üblichen Ansätzen öffnete sich hier auch der Weg, komplexere Zustandsprognosen mit Hilfe Neuronaler Netze zu erstellen.

4 Zustandsprognosen mit Hilfe Neuronaler Netze

Die Methodik Neuronaler Netze lehnt sich an biologische Informationsverarbeitungsprozesse im Gehirn an – daher auch der Name. Neuronale Netze sind in der Lage, selbständig aus beliebigen (gemessenen) Daten (z. B. Zustandsdaten, Finanzdaten, Verkaufsdaten usw.) Strukturzusammenhänge dieser Daten zu ermitteln und davon ausgehend Entwicklungen aufzuzeigen. Sie stellen so ein flexibel handhabbares Werkzeug der Prognosetechnik dar.

Die Verarbeitung in neuronalen Strukturen erfolgt so, dass die Informationen der einzelnen Neuronen über Synapsen an die Dendriden des nachfolgenden Neurons weiter gereicht werden. Dort werden sie im Soma zusammengeführt und in Abhängigkeit einer Aktivierungsfunktion über das Axon wiederum an die nachfolgenden Neuronen weitergereicht (Bild 3).

Bild 3: Informationsverarbeitung in einer Nerven-Zelle1)

Innerhalb eines Neuronalen Netzes werden künstliche Neuronen („Nervenzellen“) als Grundelemente der Informationsverarbeitung in Schichten organisiert, wobei jedes Neuron mit anderen Neuronen – in der Regel denen einer nachgelagerten Schicht – verbunden ist. Dadurch lassen sich auch hochgradig nicht-lineare und komplexe Zusammenhänge ohne spezifisches Vorwissen über die etwaige Richtung und das Ausmaß der Wirkungsbeziehungen zwischen einer Vielzahl von Variablen modellieren.

Zum Erlernen von Strukturen wird das Neuronale Netz zunächst in einer sogenannten Trainingsphase mit beobachteten Daten „gefüttert“. Nach der Trainingsphase ist das Netz konfiguriert und kann für die Analyse neuer Daten eingesetzt werden (Bild 4). Für die durchgeführten Untersuchungen im Bereich der Zustandserhaltung kommen BackpropagationNetze zum Einsatz.

Für Prognosen im Bereich des Erhaltungsmanagements werden mit den Zustandsdaten zweier aufeinander folgender Erfassungs-Kampagnen als Eingangswerte mit Hilfe von Gewichtungsmatrizen die Zustandsgrößen der dritten Kampagne errechnet und mit den tatsächlich gemessenen Werten verglichen. Im Rahmen der Fehlerkorrekturen im Laufe des Trainings werden die Gewichtungsmatrizen so weit korrigiert, dass die Soll-Ist-Abweichungen minimiert werden. Mit den trainierten Matrizen können in anschließenden Berechnungsläufen eigenständige Prognosen erstellt werden (Bild 5).

Bild 4: Training des Backpropagation-Netzes

Bild 5: Prognose mit Hilfe des Backpropagation-Netzes

Die Umsetzung des Backpropagation-Verfahrens für die Erhaltungsprognosen in Bayern erfolgte auf der Grundlage von Excel und darin eingebundener eigener, externer C#-Bibliotheken. Berechnungen erfolgten auf einem Rechner mit einer 3,2GHz getakteten CPU mit 6 Kernen und insgesamt 12 Recheneinheiten.

Zur Verfügung standen Eingangswerte aus jeweils 3 Mess-Kampagnen im Umfang von:
– BAB:    95850 Datensätzen,
– B:       109621 Datensätzen,
– St:      249028 Datensätzen.

Bild 6: Screenshot der Neuronalen-Netze-Anwendung

Mit dem gewählten System war es möglich Berechnungen mit verschiedensten Parametern durchzuführen, wobei neben den eigentlichen Daten der Zustandserfassung und -bewertung (AUN, LWIFS, LWIOD, MSP, MSPH, GRI40, GRI60, RISS, FL, TWSUB, TWGEB, GW) auch andere örtliche Parameter der Fahrbahn wie (Schwer-)Verkehrsbelastung, Deckschichtalter, Deckschichtart und Fahrbahnbreite in die Berechnung mit eingegangen sind.

5 Festlegungen für Neuronale Netze im Erhaltungsmanagement

Auf der Grundlage der durchgeführten Untersuchungen können heute Grundaussagen zur Modellierung und Anwendung neuronaler Netze für die Erstellung von Zustandsprognosen
von Fahrbahnen getroffen werden, die nachfolgend zusammengestellt sind.

– Für Zustandsprognosen im Bereich des Erhaltungs-Managements haben sich Neuronale Netze in Form von Backpropagation-Netzen besonders bewährt. Andere Netztopologien
führen zu keinen besseren und stabileren Prognoseergebnissen. Zum Einsatz sollten 3-schichtige Backpropagation-Netze kommen, da diese kontinuierliche Abbildungsfunktionen von Input- zu Outputdaten beschreiben.

– Die Reihenfolge der präsentierten Muster sollten vor jedem Durchlauf gemischt werden, um zu erreichen, dass das Netz die Musterinhalte und nicht die Reihenfolge der Datenpräsentation trainiert.

– Für die Netzknotenzahl der einzelnen Schichten gilt:
Input-Schicht:       berechnet mit max.160 Neuronen = (3 • 2 + 2) Input-Werte • 20 Neuronen
Hidden-Schicht:    regelmäßig: Hidden < 2 • Input; Input > Hidden > Output;
                             berechnet mit: Hidden = 2/3 (Input + Output) = [ 1,2 .. 2/3 • Input]
Output-Schicht:    berechnet mit max. 60 Neuronen = (3 • 1 + 0) Input-Werte • 20 Neuronen

– Die verfügbaren Daten sollten jeweils zu 2/3 zum Training und zu 1/3 zum Test, das heißt zur Plausibilisierung der Trainingsqualität, herangezogen werden.

– Input- und Output-Muster sollten dem Netz nicht als gemessener Wert angeboten werden.
Eine unmittelbare Verwendung der Daten führt zwar zur Berechnung mit kleinen Netzen, das heißt mit Netzen mit wenigen Neuronen pro Schicht, bedeutet aber gleichzeitig eine nicht ausreichende Auflösung der Beziehungen von Input- zu Output-Daten und damit zu unpräzisen Prognosen. Vorgeschlagen wird von daher, Datenmuster (z. B. einen Messwert „1,8376“) „binär aufzulösen“ (0/1-Werte). Diese erhalten in einem Intervall (von 0 bis 65535 = 2 • 215–1) die Form „0001001111100010“ (18376; binär umgerechnet). Während in der Form des Messwertes, die Information direkt nur einem Neuron zugeführt wird, werden in der binären Form mit der Eingangsinformation insgesamt 16 Neuronen jeweils eindeutig signalisiert (Null oder Eins). Insbesondere bei den Output-Mustern ergibt sich mit der binären Berechnung, dass die dort an den Ausgangswerten ermittelten Größen in eindeutige Werte (Null oder Eins) umgesetzt werden können. Dies kann nicht nur in Form, von Rundungen erfolgen, sondern auch in Form anderer Funktionszusammenhängen.

– Im Trainingslauf können Ist-Output-Daten einzelner Muster parallel berechnet und dann diese Ergebnisse in einem gemeinsamen Schritt über die Soll-Ist-Mittelwerte zur Korrektur der Gewichts-Matrizen herangezogen werden.

– Durch Parallelisierungen können erhebliche Beschleunigungen in der Berechnung erzielt werden. In der verwendeten Rechnerarchitektur werden bei einer linearen Verarbeitung 9 % CPU-Auslastung bei 5,4 GB Speichernutzung erreicht. In der Parallelverarbeitung kann eine 50 % CPU-Auslastung bei 10,5 GB Speichernutzung erzielt werden. Dies führt zu rund 60 % Zeiteinsparung allein durch eine Parallele Berechnung beim Training der Datensätze und bei der Mustermischung, Bild 7: (oben ohne, unten mit Parallelisierung).

– Bei Berechnungen, die eine binäre Musterumsetzung nicht verwenden, sind zumindest die Ist- und die Soll-Output-Daten auf die gleiche Länge von Nachkommastellen zu runden, um die aus Rundungsdifferenzen sich rechnerisch ergebenden Fehler nicht dauerhaft in der Fehlerbereinigung beim Training der Gewichtungs-Matrizen mitzuführen.

– Auch in Neuronalen Netzen sind nicht alle möglichen Parameter-Kombinationen sinnvoll anzusetzen. Empfohlen wird eine Verschneidung von Parametern, die sich an die Ermittlung von Gebrauchs- und Substanzwertbildung der standardisierten Zustandserfassung und -bewertung ZEB anlehnt.

– Um die ermittelten Prognosen auch inhaltlich noch nachvollziehen zu können, sollten maximal drei verschiedene Parameter für eine Berechnung ausgewählt werden und diese in der Input-Schicht um zusätzlich maximal zwei „Stabilisierungsdaten“ wie (Schwer-)Verkehrsbelastung, Deckschichtalter und -art und/oder Fahrbahnbreite angereichert werden.

Bild 7: Parallelisierung des Trainings

6 Fazit

Die seit 2008 aus den jeweils drei letzten Erfassungskampagnen an Bundesfern- und Staatsstraßen zur Verfügung stehenden Daten können systematisch genutzt werden, um mit Hilfe Neuronaler Netze Prognosen zur Zustandsentwicklung zu treffen. Das Bild 8 zeigt das Ergebnis eines solchen Rechenlaufs, bei dem die normierten Soll- und Istwerte einer Zustandsgröße entlang eines Straßenabschnitts gegenüber gestellt werden. Aus den vorliegenden Untersuchungsergebnissen wird deutlich, dass die gewählten Ansätze in der Lage sind, Zustandsentwicklungen realitätsnah zu prognostizieren.

Bild 8: Beispiel Trainingslauf und Prognoseergebnis

Mit der Anwendung Neuronaler Netze konnte bestätigt werden, dass für die Prognose des Erhaltungszustandes auch mehrere Zustandsgrößen sinnvoll miteinander verbunden werden und so gegenseitige Abhängigkeiten unterschiedlicher Parameter in die Prognose mit einfließen können. Nicht nur von daher lohnt sich die weitere Vertiefung entsprechender
Prognosemethoden. Eine weitere Anwendung wird aber nur dann sinnvoll sein, wenn die mit diesen Verfahren ermittelten Ergebnisse auch konsequent mit der Realisierung entsprechend ermittelter Baumaßnahmen umgesetzt werden.