FGSV-Nr. FGSV 002/119
Ort Bergisch Gladbach
Datum 29.03.2017
Titel Zwischen Klageverfahren und Feinstaubalarm – Der steinige Weg zu sauberer Luft, Beispiel Stuttgart
Autoren Dipl.-Ing. (FH) Rainer Kapp, Dr.-Ing. Ulrich Reuter
Kategorien Luftqualität
Einleitung

Nach wie vor werden die auf europäischer Ebene in der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Luftqualität und saubere Luft für Europa vom 21.05.2008 (RL 2008/50/EG, 2008) bzw. auf nationaler Ebene durch die 39. Verordnung zur Durchführung des BundesImmissionsschutzgesetzes (Verordnung über Luftqualitätsstandards und Emissionshöchstmengen) (39. BImSchV, 2010) festgelegten Luftschadstoffgrenzwerte in Ballungsräumen an viel befahrenen Straßen nicht eingehalten. Dies gilt insbesondere für den Jahresmittelwert für Stickstoffdioxid (NO2). EU-Vertragsverletzungsverfahren, Klagen der Deutschen Umwelthilfe und von Bürgern gegen die Überschreitung der Luftschadstoffgrenzwerte sind die Folge und eine zusätzliche Herausforderung für die Städte.

Der Vortrag stellt die Situation schwerpunktmäßig am Beispiel der Stadt Stuttgart dar. Stuttgart ist aufgrund seiner Lage in einem orografisch stark gegliederten Gebiet einerseits besonders anfällig gegen hohe Luftschadstoffbelastung, andererseits werden und wurden in den letzten Jahren auch einige innovative Luftreinhaltemaßnahmen entwickelt und ergriffen.

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Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.

1. Einleitung

Nach wie vor werden die auf europäischer Ebene in der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Luftqualität und saubere Luft für Europa vom 21.05.2008 (RL 2008/50/EG, 2008) bzw. auf nationaler Ebene durch die 39. Verordnung zur Durchführung des BundesImmissionsschutzgesetzes (Verordnung über Luftqualitätsstandards und Emissionshöchstmengen) (39. BImSchV, 2010) festgelegten Luftschadstoffgrenzwerte in Ballungsräumen an viel befahrenen Straßen nicht eingehalten. Dies gilt insbesondere für den Jahresmittelwert für Stickstoffdioxid (NO2). EU-Vertragsverletzungsverfahren, Klagen der Deutschen Umwelthilfe und von Bürgern gegen die Überschreitung der Luftschadstoffgrenzwerte sind die Folge und eine zusätzliche Herausforderung für die Städte.

Der Vortrag stellt die Situation schwerpunktmäßig am Beispiel der Stadt Stuttgart dar. Stuttgart ist aufgrund seiner Lage in einem orografisch stark gegliederten Gebiet einerseits besonders anfällig gegen hohe Luftschadstoffbelastung, andererseits werden und wurden in den letzten Jahren auch einige innovative Luftreinhaltemaßnahmen entwickelt und ergriffen.

2. Entwicklung der Luftbelastung und heutige Situation

Durch technische Maßnahmen auf nationaler Ebene und durch kommunale Maßnahmen wie die Optimierung des öffentlichen Personennahverkehrs, den Ausbaus des Radverkehrs und durch Verkehrsmanagement hat sich die Luftsituation in Stuttgart in der Vergangenheit kontinuierlich verbessert, allerdings nicht in allen Bereichen gleichmäßig (Bild 1). Während beispielsweise die Jahresmittelwerte für Feinstaub/PM10 auch straßennah inzwischen eingehalten werden, gehen die NO2-Jahresmittelwerte nur vergleichsweise langsam zurück. Punktuell bestehen noch Probleme bezüglich der Überschreitung des Kurzzeitgrenzwertes für PM10 und NO2. Besonders die jährliche NO2-Belastung ist nicht nur an den wenigen existierenden Messstellen hoch, sondern an vielen anderen stark befahrenen Straßenabschnitten auf ca. 100 km Länge in Stuttgart auch. Dies wird oft verdrängt, weil dort nicht gemessen wird. Handlungskonzepte müssen sich daher immer auch auf solche vergleichbaren Straßenabschnitte beziehen. Durchgeführte Maßnahmen senken insgesamt auch die Hintergrundbelastung an anderen Hotspots.

Bild 1: Entwicklung der Luftbelastung in Stuttgart

Es darf jedoch nicht unbeachtet bleiben, dass abseits der Hauptverkehrsstraßen in vielen Wohngebieten heute in der Regel gute Luftverhältnisse herrschen und die Luftbelastung dort weit unterhalb der Grenzwerte liegt.

Wegen der noch vorhandenen Grenzwertüberschreitungen sind für Stuttgart drei gerichtliche Verfahren anhängig:

-  EU Vertragsverletzungsverfahren für Feinstaub und Stickstoffdioxid. Hier datiert die letzte Erwiderung des Landes über den Bund vom Juli 2015.

-  Klageverfahren der Deutschen Umwelthilfe Ein Verhandlungsdatum liegt noch nicht fest.

-  Klage eines Bürgers gegen zu hohe Belastung am Neckartor. Hier wurde im April 2016 ein Vergleich geschlossen (s. Kapitel 3).

3. Maßnahmen zur Reduzierung der Luftbelastung und deren Umsetzung

Als Konsequenz der in Abschnitt 2 beschriebenen Überschreitungen wurde entsprechend der Rechtslage für Stuttgart der Luftreinhalteplan für Stuttgart weiter fortgeschrieben, zuletzt 2014 mit dem Ziel, die Gefahr der Grenzwertüberschreitung zu vermeiden bzw. zu verringern. U.a. aus dem Ergebnis eines von Bürgern angestrengten Klageverfahrens (Vergleich vom 26.04.2016) ergab sich ein weiterer konkreter Fortschreibungsbedarf des Luftreinhalteplans bis 31.08.2017. Eine Maßnahme muss dabei ab 1.1.2018 bei Wetterlagen, die die Ausrufung des Feinstaubalarms rechtfertigen, auf die Reduzierung des Verkehrsaufkommens am Neckartor um ca. 20 % gegenüber vergleichbaren Tagen für den Zeitraum der Verkehrsbeschränkung abzielen, sofern die Immissionsgrenzwerte für Feinstaub im Kalenderjahr 2017 noch überschritten werden.

Weitere Maßnahmen für diese Fortschreibung bewegen sich in den Themenfeldern

emissionsarme Fahrzeuge und Maschinen,

20% Kfz-Verkehrsreduzierung in Stuttgart,

-  Warnstufe Feinstaub/Feinstaubalarm (Verkehr und Kamin- und Ofennutzung),

-  Luftreinhaltung bei der Stadtplanung und beim Bau.

Um Maßnahmen insgesamt erfolgreich implementieren zu können, bedarf es einer engen Zusammenarbeit zwischen für Luftreinhaltung formalrechtlich zuständigen Landesbehörden und betroffener Kommune und einem konzertierten Vorgehen. In Stuttgart wurde dafür eine geeignete Organisationsstruktur geschaffen, die aus einer Lenkungsgruppe (Verkehrsministerium Baden-Württemberg, Regierungspräsidium Stuttgart, Landeshauptstadt Stuttgart) und acht themenspezifischen Arbeitsgruppen besteht.

Auch die Einbindung und Beteiligung der Öffentlichkeit ist von zentraler Bedeutung für den Erfolg von Maßnahmen. Gerade Maßnahmen, die an das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger appellieren, bedürfen einer vorgeschalteten und auch laufenden Kommunikation bzw. auch einer transparenten Evaluierung.

Im Zuge der Fortschreibung wurde ein Wirkungsgutachten erstellt (Fertigstellung Februar 2017), das Einzelmaßnahmen und Szenarien auf ihre jeweilige immissionsmindernde Wirkung im Hinblick auf die Einhaltung der Grenzwerte untersucht. Vor dem Hintergrund des EU-Vertragsverletzungsverfahrens steht dabei vor allem auch die zeitliche Frage im Fokus.

Erste Ergebnisse bezüglich der Wirkung einzelner Maßnahmen auf die Emission von Stickoxiden (NOx) und PM10 sind in Bild 2a und 2b dargestellt. Im Vortrag selbst können bis dahin vorliegende weitere Ergebnisse vorgestellt werden.

Erkennbar ist, dass zahlreiche, insbesondere „weiche“ Maßnahmen je für sich nur eine sehr begrenzte Wirkung entfalten, während härtere Maßnahmen, wie beispielsweise die blaue Plakette und temporäre Sperrungen für Dieselfahrzeuge deutlich mehr wirken.

Darüber hinaus werden in Stuttgart auch jetzt schon Maßnahmen pilothaft ergriffen, wie Fördermaßnahmen zur Elektromobilität und Tempo 40 – Regelungen an Steigungsstrecken. Auch innovative Maßnahmen sind in Anwendung. Dazu gehören das Pilotprojekt „Mooswand“, der bundesweit einmalige Feinstaubalarm oder auch der Einsatz von Titandioxid zum photokatalytischen Abbau von Stickstoffdioxid.

Bild 2a: Emissionsmindernde Wirkung von Maßnahmen bei NOx

Bild 2b: Emissionsmindernde Wirkung von Maßnahmen bei PM10

3.1  Pilotprojekt „Mooswand“

Im Projekt soll die Wirkung einer etwa 100 m langen und ca. 3 m hohen Mooswand an einer stark befahrenen Straße in Stuttgart wissenschaftlich untersucht und erprobt werden. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Moose in städtischen Räumen die Luftschadstoffbelastung, insbesondere auch die Feinstaubbelastung senken können, da sie sich aus der Atmosphäre „ernähren“. Allerdings beschränken sich die Untersuchungen zur Wirksamkeit von Mooswänden auf Laboruntersuchungen. In einem auf 2 Jahre angelegten Projekt wird im Frühjahr 2017 eine Mooswand entlang der B14 im Bereich „Am Neckartor“ errichtet werden. Hierbei soll die Wirkung unter realen Umweltbedingungen nachgewiesen und gegebenenfalls quantifiziert werden, um dann beispielsweise eine entsprechend ausgerichtete Begrünungsmaßnahme konzipieren zu können, die zur Senkung der Luftschadstoffbelastung beiträgt.

3.2  Feinstaubalarm

Beim Feinstaubalarm wird bei austauscharmen Wetterlagen nach eigens dafür unter Federführung des Deutschen Wetterdienstes entwickelten Kriterien die Bevölkerung gebeten, Komfortkamine nicht zu betreiben und auf das Auto zu verzichten oder Fahrgemeinschaften zu bilden. Das Auslöseschema ist in Bild 3 dargestellt. Sollte die Freiwilligkeitsphase in den Winterhalbjahren 2015/2016 und 2016/2017 nicht zum Erfolg führen, sind ab 1.1.2018 verbindliche Restriktionen möglich.

Bild 3: Zeitschema Auslösung Feinstaubalarm Stuttgart  

Bild 4: Informationssystem Feinstaubalarm in Stuttgart

Die sechs Auslösekriterien berücksichtigen neben fehlendem Regen und niedriger Windgeschwindigkeit die Inversionssituation und die Mischungsschichthöhe tagsüber. Ausgelöst wird der Alarm nicht erst bei hoher Feinstaubbelastung, sondern dann, wenn die meteorologische Situation ein Ansteigen der Belastung erwarten lässt. Dieses Prognose-Tool erfasst die Situationen hoher Belastung sehr gut, wie Bild 5 für die Monate November und Dezember 2016 zeigt.

Der freiwillige Feinstaubalarm hat einen leichten Rückgang des Individualverkehrs, einen Nachfrageanstieg beim ÖPNV und eine deutliche Bewusstseinsbildung bewirken können.

Bild 5: Feinstaub-Tageswerte und Feinstaubalarm November/Dezember 2016

3.3  Tempo 40 an Steigungsstrecken

Gemäß gutachterlicher Aussagen führt die Reduzierung der Geschwindigkeit auf 40 km/h insbesondere an Steigungsstrecken zu einer Reduzierung der Luftbelastung. Wird durch Anpassung von Ampelsteuerungen auch noch zusätzlich eine Harmonisierung in den Geschwindigkeitsprofilen erreicht, führt dies zu einem deutlichen Rückgang der NO2-Emissionen. Sukzessive ist deshalb die Einführung dieser Regelung in Stuttgart auf weiteren Straßenabschnitten geplant (Bild 6).

Bild 6: Steigungsstrecken „Tempo 40“

3.4  Titandioxid

Nach ersten theoretischen Überlegungen mit fotokatalytisch wirksamen Oberflächen Erfolge zu erzielen (Flassak et al, 2013) und positiven Wirkungsuntersuchungen in Labor und Technikum wird bei der Sanierung/Erneuerung zementhaltiger Straßen-/Gehwegbeläge in Stuttgart entsprechend dotiertes Material eingesetzt. Punktuell wird die Maßnahme messtechnisch begleitet, in der Regel aber nicht. Es gibt auch Überlegungen, entsprechende Asphaltmischungen einzusetzen.

3.5  Elektromobilität

Es besteht eine flächendeckende Ladeinfrastruktur im öffentlichen Raum mit ca. 400 Zapfsäulen. Vollelektrische Fahrzeuge und Plug-in-Hybride dürfen weiterhin auf allen öffentlich bewirtschafteten Parkplätzen kostenfrei parken. Die Stadt Stuttgart geht mit gutem Beispiel voran und testet derzeit 4 vollelektrische Lkw im städtischen Betriebsalltag, weiterhin werden im kommunalen Fuhrpark künftig Ersatzbeschaffungen nur mit E-Fahrzeugen erfolgen (alleine 45 Fahrzeuge (Pkw) im Haushalt 2016/2017).

4.   Fazit und Ausblick

In den Luftreinhaltebemühungen in Stuttgart wurde vieles erreicht. Die Luftqualität ist deutlich besser geworden. Die aufgezeigten Maßnahmen und die heutige Luftschadstoffsituation zeigen jedoch, dass das Ziel der Grenzwerteinhaltung bei NO2 und PM10 in Stuttgart noch nicht erreicht ist. Weitere Maßnahmen, wie sie in der derzeit laufenden dritten Fortschreibung des Luftreinhalteplans für Stuttgart eingebracht sind, sind gefragt: Mit diesen - teilweise auch restriktiven - Maßnahmen („blaue“ Plakette, temporäre Fahrverbote bei austauscharmen Wetterlagen und temporäres Verbot von Komfort-Kaminen) ist ein richtiger Weg eingeschlagen.

Doch bis überall die Grenzwerte eingehalten sind, vergeht noch eine Zeit, insbesondere beim Jahresmittelwert von NO2. Das Land Baden-Württemberg und die Landeshauptstadt Stuttgart haben gegenüber der EU signalisiert, mit den noch geplanten Maßnahmen die Grenzwerte bis 2021 überall einhalten zu wollen. Die Städte sind auf die Hilfe des Bundes und der EU angewiesen. Angebracht ist auch insgesamt ein Umdenken in der Verkehrspolitik. Die Frage ist, ob angesichts der anstehenden gerichtlichen Auseinandersetzungen diese Zeit zur Verfügung steht oder Maßnahmen deutlich schneller umgesetzt werden müssen.

5.   Literatur

Flassak, Th., Riffel, S. und Reuter, U. (2013): Photokatalyse konkret – Modellierung und Messung im Modellprojekt „Hohenheimer Straße“ der Stadt Stuttgart. In: 57. Betontage, 5. – 7. Februar 2013, Neu-Ulm
http://www.bft-international.com/bft-downloads/2013-02_57-betontage-ulm.pdf

Landeshauptstadt Stuttgart, 2013: Aktionsplan „Nachhaltig mobil in Stuttgart“,
http://www.stuttgart.de/img/mdb/publ/23336/92498.pdf

Regierungspräsidium Stuttgart (Hrsg.) 2005, Luftreinhalte-/Aktionsplan für den Regierungsbezirk Stuttgart,
Download unter www.rp-stuttgart.de

Regierungspräsidium Stuttgart (Hrsg.), 2010, Luftreinhalte-/Aktionsplan für den Regierungsbezirk Stuttgart – Teilplan Landeshauptstadt Stuttgart – Fortschreibung des Aktionsplanes zur Minderung der PM10- und NO2-Belastungen,
Download unter www.rp-stuttgart.de

Regierungspräsidium Stuttgart (Hrsg.), 2014. Luftreinhalteplan Stuttgart, 2. Fortschreibung,
Download unter www.rp-stuttgart.de

Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, Abl L 152 vom 11.06.2008, 1 - 44

Universität Stuttgart, Institut für Straßen- und Verkehrswesen, 2011, Untersuchung der Wirksamkeit von Geschwindigkeitsbeschränkungen in Stuttgart auf die verkehrsbedingten Lärm- und Schadstoffbelastungen,
Download unter www.rp-stuttgart.de

39. BImSchV, 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, Verordnung über Luftqualitätsstandards und Emissionshöchstmengen, 5. August 2010, BGBl I, 1065 – 1104