FGSV-Nr. FGSV 002/106
Ort Stuttgart
Datum 02.04.2014
Titel Modellbasierte Ermittlung überlastungsbedingter Fahrtzeitverluste auf Autobahnen
Autoren Prof. Dr.-Ing. Justin Geistefeldt, Dr.-Ing. Sandra Hohmann
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Für die volkswirtschaftliche Bewertung und die Optimierung der Prioritätenreihung von Investitionsmaßnahmen im Straßenbau ist die Ermittlung des Nutzens aus einer Veränderung der Fahrtzeiten von großer Bedeutung. Der Beitrag beschreibt einen neuartigen Ansatz zur Ermittlung von Fahrtzeiten auf Autobahnen. Dabei wird zwischen der streckenabhängigen Fahrtzeit im fließenden Verkehr und den überlastungsbedingten Zeitverlusten, die unabhängig von der Länge des Engpasses anfallen, unterschieden. Für die Ermittlung der überlastungsbedingten Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad wird eine Modellfunktion vorgestellt, die mit makroskopischen Verkehrssimulationen nach dem Prinzip der Ganzjahresanalyse entwickelt wurde. Das Verfahren eignet sich auch zur Nachbildung der Variabilität überlastungsbedingter Zeitverluste im Sinne einer Zuverlässigkeitsanalyse.

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1 Einleitung

In den Bemessungsverfahren des HBS [1] wird für Strecken von Autobahnen der Auslastungsgrad als Maß der Qualität des Verkehrsablaufs verwendet. Die Kapazität einer Autobahn wird dabei als deterministische Größe aufgefasst. Darüber hinaus werden q-v-Beziehungen zur Ermittlung von Pkw-Fahrtgeschwindigkeiten in Abhängigkeit von der Verkehrsnachfrage angegeben, mit denen Fahrtzeiten im fließenden Verkehr berechnet werden können. Eine Quantifizierung der Auswirkungen von Überlastungen ist mit dem Bemessungsverfahren des HBS nicht möglich.

Im Gegensatz zu den Bemessungsverfahren des HBS, die dem Nachweis der Funktionsfähigkeit einer Straßenverkehrsanlage bei einer bestimmten stündlichen Verkehrsnachfrage dienen, werden im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen auch die Auswirkungen von Überlastungen bei der Ermittlung von Fahrtzeiten mit einbezogen. Die Veränderung von Fahrtzeiten stellt in der Regel eine wesentliche Nutzenkomponente bei der volkswirtschaft lichen Bewertung von Investitionsmaßnahmen im Straßenbau dar. Bei der Planung von Straßenverkehrsanlagen kommt in der Praxis bislang das Bewertungsverfahren der „Empfehlungen für Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen an Straßen“ EWS [2] zur Anwendung. In den EWS wird die Summe der Fahrtzeiten pro Jahr vereinfachend anhand von 15 Stufen der Verkehrsnachfrage ermittelt. Dabei kommen dreiteilige q-v-Beziehungen zur Anwendung, mit denen der Verkehrsfluss im fließenden Verkehr, im Stau sowie in einem Übergangsbereich zwischen fließendem und gestautem Verkehr nachgebildet wird.

In den zukünftigen „Richtlinien für Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen an Straßen“ soll für die Ermittlung des Nutzens aus einer Veränderung der Fahrtzeiten auf Autobahnen ein detaillierterer Ansatz auf der Grundlage von Ganglinien der Verkehrsnachfrage in Stunden Intervallen verwendet werden. Dabei werden die Fahrtzeiten mit einem zweigeteilten Modellansatz, bestehend aus einer streckenbezogenen Komponente für die Fahrtzeit im fließenden Verkehr und einem engpassbezogenen Zuschlag für überlastungsbedingte Zeitverluste, ermittelt. Zur Ermittlung der Zeitverluste an Engpässen wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen [3] ein Modellzusammenhang zwischen dem Auslastungsgrad und den in Stunden-Intervallen verursachten Fahrtzeitverlusten durch Simulationen des Verkehrsablaufs im Sinne einer Ganzjahresanalyse ermittelt. Der vorliegende Beitrag dokumentiert die Methodik und die Ergebnisse dieser Untersuchung. Darüber hinaus wird aufgezeigt, dass mit dem Modellansatz auch eine Quantifizierung der überlastungsbedingten (Un-) Zuverlässigkeit des Verkehrsablaufs auf Autobahnen möglich ist. Als Maß der Zuverlässigkeit wird dabei die Standardabweichung der in Stunden Intervallen verursachten Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad ermittelt.

2 Ansatz für die Ermittlung von Fahrtzeiten auf Autobahnen

In den EWS [2] erfolgt die Ermittlung der Geschwindigkeit anhand von dreiteiligen Verkehrsstärke-Geschwindigkeits-Zusammenhängen. Die Übergänge an den Grenzen der einzelnen Verkehrsstärkebereiche erfolgen allerdings nicht kontinuierlich, so dass die resultierende, zusammengesetzte q-v-Beziehung Knicke und in einigen Fällen auch Unstetigkeiten auf weist. Für den Zustand des gestauten Verkehrs auf Autobahnen wird pauschal eine Geschwindigkeit von 20 km/h angesetzt.

Die Ermittlung von Fahrtzeiten durch eine funktionale Beziehung zwischen Verkehrsstärke und mittlerer Geschwindigkeit für alle Verkehrszustände bedeutet, dass die berechneten Fahrtzeiten von der Länge der betrachteten Strecke abhängig sind. Für den Zustand des fließenden Verkehrs ist dies zutreffend. Bei einer Überlastung auf einer Strecke kann dagegen nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Stau immer genau über die betrachtete Strecke ausdehnt. Vielmehr bilden sich Staus in aller Regel an geometrischen oder verkehrlichen Engpässen, z. B. an einer hoch belasteten Zufahrt am Beginn der Strecke oder an einer Steigungsstrecke, und breiten sich entgegen der Fahrtrichtung aus. Die durch den Stau verursachten Zeitverluste sind dabei vom Ausmaß der Überlastung, ausgedrückt durch den Auslastungsgrad, nicht jedoch von der Länge der betrachteten Strecke abhängig.

Vor diesem Hintergrund ist für die zukünftigen Richtlinien für Wirtschaftlichkeitsunter suchungen an Straßen ein zweigeteilter Modellansatz zur Ermittlung von Fahrtzeiten auf Autobahnen vorgesehen, bei dem zwischen einer streckenabhängigen und einer strecken unabhängigen Fahrtzeitkomponente differenziert wird [4]:

•    Streckenabhängige Komponente: Fahrtzeit im fließenden Verkehr, ermittelt als Quotient der Streckenlänge und der Geschwindigkeit in Abhängigkeit von der Verkehrsstärke gemäß der q-v-Beziehung,

•    Streckenunabhängige Komponente: Überlastungsbedingte Fahrtzeitverluste an Engpässen, ermittelt über einen funktionalen Zusammenhang zwischen dem Auslastungsgrad und der Summe der Fahrtzeitverluste.

Die Gesamtfahrtzeit ergibt sich als Summe aus der streckenabhängigen Fahrtzeit und den streckenunabhängigen Fahrtzeitverlusten infolge von Überlastungen.

Zur Bestimmung der mittleren Pkw-Fahrtgeschwindigkeit im fließenden Verkehr werden die q-v-Beziehungen des HBS [1] verwendet. Sie basieren auf dem Verkehrsflussmodell nach BRILON und PONZLET [5]:

Formel (1) siehe PDF.

Das HBS [1] liefert Werte der Modellparameter für Strecken von Autobahnen in Abhängigkeit von der Anzahl der Fahrstreifen, der Längsneigung, der Geschwindigkeitsregelung und der Lage der betrachteten Strecke (innerhalb oder außerhalb von Ballungsräumen). Für Verkehrsstärken über der Kapazität ist neben den überlastungsbedingten Zeitverlusten ebenfalls eine streckenabhängige Komponente der Fahrtzeit zu berücksichtigen. Dafür kann die Geschwindigkeit vkrit bei Erreichen der Kapazität zugrundegelegt werden.

Im Falle einer Überlastung sind neben den von der Länge der Strecke abhängigen Fahrt zeiten im fließenden Verkehr die von der Streckenlänge unabhängigen überlastungsbeding ten Zeitverluste an Engpässen zu berücksichtigen. Dazu wird eine Modellfunktion verwendet, mit der die überlastungsbedingten Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad beschrieben werden. Die Entwicklung dieser Modellfunktion wird nachfolgend beschrieben.

3 Methodik der Modellentwicklung

Untersuchungsansatz

Die Ermittlung von Fahrtzeitverlusten erfolgt in der vorliegenden Untersuchung anhand von makroskopischen Simulationen im Sinne einer Ganzjahresanalyse. Dabei wird die Ganglinie der Verkehrsnachfrage realer Strecken von Autobahnen auf der Grundlage der Daten von Dauerzählstellen nachgebildet. Im Gegensatz zur Auswertung von Fahrtzeitmessungen können mit dem Simulationsansatz die angefallenen Zeitverluste der Stunde zugeordnet werden, in der sie verursacht wurden. Zudem ist im Simulationsmodell für jede Stunde die Verkehrsnachfrage bekannt, sodass der stauauslösende Auslastungsgrad ermittelt und in Bezug zu den verursachten Zeitverlusten gesetzt werden kann.

Untersuchungsstrecken

Für die Analyse des Mittelwertes und der Standardabweichung der überlastungsbedingten Fahrtzeitverluste wurde der Verkehrsablauf auf 50 realen Strecken von Bundesautobahnen in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Bayern nachgebildet. Die Untersuchungsstrecken umfassen ein breites Spektrum verschiedener Fahrtzweckzusammensetzungen und Streckencharakteristika.

Um zu gewährleisten, dass die gewählten Querschnitte sowohl Strecken mit einem sehr hohen Anteil an Urlaubs und Ausflugsverkehr als auch Strecken mit vorwiegend Berufsverkehr abbilden, wurde vorab der Dauerlinientyp für die infrage kommenden Messstellen bestimmt. Die bislang gebräuchliche Typisierung für richtungsgemeinsame Dauerlinien anhand des d30-Faktors wurde hier nicht vorgenommen, da die Werte richtungsgetrennt untersucht wurden. Um in diesem Fall eine Zuordnung zum Dauerlinientyp vorzunehmen, muss primär der Verlauf der Dauerlinien in den ersten Stunden betrachtet werden. Dies geschieht, indem das Verhältnis der Verkehrsstärken der Ränge 50, 100, 150 und 200 zum Wert der Verkehrsstärke des Rangs 30 bestimmt wird. Diese Verhältnisse können gemäß der Einteilung nach ARNOLD und BÖTTCHER [6] einem Dauerlinientyp zugeordnet werden. ARNOLD und BÖTTCHER haben in ihrer Untersuchung von knapp 3.500 Messstellen an Bundesautobahnen einen hohen Anteil des Dauerlinientyps D aufgezeigt. Daher wurde bei der Auswahl der Messstellen ebenfalls darauf geachtet, eine große Zahl an Beispielen für diesen Dauerlinientyp einzubeziehen.

Ganzjahresanalyse

Die Quantifizierung der Auswirkungen von Überlastungen auf den Untersuchungsstrecken erfolgte mit einer makroskopischen Simulation nach dem Prinzip der Ganzjahresanalyse [7]. Dabei wird das Ausmaß der im Laufe eines Jahres auftretenden Überlastungen durch eine Gegenüberstellung von Jahresganglinien der Verkehrsnachfrage und der Kapazität in 5 Minuten-Intervallen nachgebildet. Dabei werden sowohl die Verkehrsnachfrage als auch die Kapazität als Zufallsgrößen unter Einbeziehung systematischer und zufälliger Schwankungen modelliert. Die intervallgenaue Ermittlung der überlastungsbedingten Fahrtzeitverluste erfolgt mit einem deterministischen Warteschlangenmodell. Dabei wird die Stelle mit der geringsten Kapazität betrachtet, die den maßgebenden Engpass der Strecke darstellt. Somit wird die Autobahn als eine Abfolge von Engpässen, die als Bedienungsschalter im Sinne der Warteschlangentheorie aufgefasst werden, modelliert. Die Umsetzung der stochastischen Ganzjahresanalyse erfolgte mit dem Programm KAPASIM [8].

Für die Entwicklung eines Modellzusammenhangs zwischen dem Auslastungsgrad und den überlastungsbedingten Zeitverlusten ist zu berücksichtigen, dass Zeitverluste nicht nur in Intervallen mit einem Auslastungsgrad x > 1, sondern infolge des Rückstaus auch noch in den folgenden Intervallen mit geringerem Auslastungsgrad anfallen können. Daher wurde im Programm KAPASIM ein Algorithmus implementiert, mit dem die staubedingten Zeitverluste jeweils der Stunde, in der der Stau entstanden ist, zugeordnet werden. Durch eine Auswertung der Überlastungen in umgekehrt chronologischer Reihenfolge wird dabei berücksichtigt, dass sich innerhalb eines Stauereignisses mehrere Kapazitätsüberschreitungen überlagern können. Das Prinzip der Berechnung ist in Bild 1 am Beispiel eines einzelnen Stauereignisses veranschaulicht. In dem Beispiel überschreitet die Verkehrsnachfrage die Kapazität in drei Intervallen: um 15:05 Uhr, 16:15 Uhr und 16:20 Uhr (markierte Punkte). Zunächst werden die Zeitverluste für die Überlastung berechnet, die um 16:20 Uhr eingetreten wäre, wenn der Verkehr nicht zuvor bereits zusammengebrochen wäre (durchgehend schraffierte Fläche). Im nächsten Schritt werden die Zeitverluste, die durch die Überlastung um 16:15 Uhr verursacht worden wären, ermittelt. Die Differenz dieser Zeitverluste und denen der um 16:20 Uhr eingetretenen Überlastung (gestrichelt schraffierte Fläche) werden dem um 16:15 Uhr beginnenden Intervall zugeordnet. Analog wird für den Stau infolge des ersten Verkehrszusammenbruchs um 15:05 Uhr die Summe der Zeitverluste abzüglich der Zeitverluste, die durch die Überlastungen um 16:15 Uhr und 16:20 Uhr entstanden wären, ermittelt (gepunktet schraffierte Fläche). Anschließend werden für jede Stunde die in den 5 Minuten-Intervallen innerhalb der Stunde verursachten Zeitverluste addiert.

Bild 1: Ermittlung der in 5-Minuten-Intervallen verursachten Zeitverluste in KAPASIM

Verkehrsnachfrage

Für die Ermittlung der Verkehrsnachfrage wurden Daten automatischer Dauerzählstellen verwendet. Bei der Betrachtung von lokal gemessenen Verkehrsstärken muss berücksichtigt werden, dass bei einer Überlastung einer Strecke die abfließende Verkehrsstärke durch die Kapazität der Verkehrsanlage begrenzt wird. Dabei kommt es zu einer zeitlichen (und unter Umständen auch zu einer räumlichen) Verlagerung des Verkehrs. Bei Daten von Dauerzählstellen ergibt sich somit das Problem, dass die Verkehrsnachfrage im Bereich von Über lastungssituationen nicht direkt aus den an Dauerzählstellen erfassten Verkehrsstärken abgeleitet werden kann.

Da bei der Ermittlung des Ausmaßes von Überlastungen vor allem eine genaue Abbildung der Verkehrsspitzen erforderlich ist, wurde für die Modellierung der Ganglinien der Verkehrsnachfrage das Verfahren der tagesindividuellen Typganglinien [9] verwendet. Dabei werden die einzelnen Werte der Ganglinie der Verkehrsnachfrage durch Überlagerung realer Tages werte der Verkehrsstärke mit tagesindividuellen Typganglinien erzeugt. Für jeden Tag werden individuelle Typganglinien nachgebildet, wodurch die Variabilität der zeitlichen Verteilung der Verkehrsnachfrage über den Tag Berücksichtigung findet. Die in Stunden-Intervallen erzeugte Ganglinie der Verkehrsnachfrage wird anschließend in 5-Minuten-Intervalle transformiert. Dabei werden zufällige Schwankungen der Verkehrsnachfrage mithilfe einer Normalverteilung mit verkehrsstärkeabhängiger Standardabweichung nachgebildet [9].

Die Verkehrsnachfrage auf den 50 betrachteten Untersuchungsstrecken liegt auch in den ersten Stunden der Dauerlinie zum Teil deutlich unter der Kapazität. Da jedoch gerade dieser Bereich für die Untersuchung relevant ist, wurden fiktive Datensätze erzeugt. Dabei wurden für jeden Messquerschnitt Faktoren bestimmt, mit denen die Nachfragewerte proportional variiert wurden. Da mit der Belastung in der n-ten Stunde der Dauerlinie in der Regel keine Überlastungssituationen auftreten, wurden die Werte so verändert, dass die Verkehrsnachfrage in der n-ten Stunde der Kapazität nach HBS [1] entspricht. Als n-te Stunde wurde dabei die 30., 50. und 100. Stunde gewählt. Als Eingangswert für die Simulationsrechnungen wurden die realen Verkehrsnachfrageganglinien und drei angepasste Datensätze verwendet, bei denen die Verkehrsnachfrage in der 30., 50. bzw. 100. Stunde der Dauerlinie der Kapazität entspricht. Diese Datensätze werden mit N30, N50 und N100 bezeichnet.

Kapazität

Die Kapazität wird in der Simulation als Weibull-verteilte Zufallsgröße modelliert [7, 10]. Die Weibull-Verteilung der Kapazität lautet:

Formel (2) siehe PDF.

Der Formparameter beschreibt die Streuung der Verteilungsfunktion und beträgt bei Autobahnen ungefähr a = 15, bei Abschnitten mit Streckenbeeinflussungsanlage a = 18 [8]. Der Maßstabsparameter b kann in Abhängigkeit von der Kapazität C nach HBS [1] über den Zusammenhang b = 1,275 · C geschätzt werden [8]. Durch Variation des Maßstabsparameters werden alle systematischen Einflüsse auf die Kapazität erfasst. Der Capacity Drop, d. h. die Reduktion der Kapazität im gestauten Verkehr nach einem Zusammenbruch, wird durch einen pauschalen Abminderungsfaktor von 15 % berücksichtigt [8]. Darüber hinaus können weitere temporäre Einflüsse auf die Kapazität wie Regenereignisse sowie Pannen und Unfälle berücksichtigt werden.

Umfang der Simulationsrechnungen

Die Ganzjahresanalyse des Verkehrsablaufs wurde für jedes Verkehrsnachfrageszenario jeder Untersuchungsstrecke mit 1000 Wiederholungen durchgeführt. Durch die Variation der Zufallskomponenten der Verkehrsnachfrage und der Kapazität in jedem Simulationslauf wird die Variabilität des Überlastungsgeschehens nachgebildet. Der kapazitätsmindernde Einfluss von Witterungsbedingungen, Pannen oder Unfällen wurde nicht berücksichtigt. Da die systematischen Einflüsse auf die Kapazität und die Ganglinie der Verkehrsnachfrage in Stunden-Intervallen konstant gehalten werden, ist der Auslastungsgrad in jeder Stunde in allen Simulationsläufen konstant. Im Ergebnis der Simulation werden für jede Stunde des Jahres der Mittelwert und die Standardabweichung der verursachten überlastungsbedingten Zeitverluste ausgewiesen und dem jeweiligen Auslastungsgrad gegenübergestellt.

4 Zusammenhang zwischen Auslastungsgrad und Zeitverlusten

Als Ergebnis der Simulationsrechnungen zeigt Bild 2 den ermittelten Zusammenhang zwischen dem Auslastungsgrad und den verursachten Zeitverlusten in Stunden-Intervallen für das Nachfrage-Szenario N50 für drei Beispielstrecken mit unterschiedlicher Strecken charakteristik und Fahrtzweckzusammensetzung. Erkennbar sind deutliche Unterschiede im Verlauf der Zeitverluste bei gleichem Auslastungsgrad.

Bild 2: Überlastungsbedingte Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad für drei Beispielquerschnitte

Bei der Analyse der Abhängigkeit zwischen dem Auslastungsgrad und den überlastungsbedingten Zeitverlusten zeigte sich, dass einige Untersuchungsstrecken zwei scheinbar von einander unabhängige Äste bei der Darstellung der Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad aufweisen. Werden die Datensätze jedoch in ihrem zeitlichen Zusammenhang gesehen, wird erkennbar, dass in der Regel auf einen Punkt im vorderen Ast ein Punkt im hinteren Ast folgt (vgl. Bild 3). Ursache dafür ist die in Bild 1 veranschaulichte Zuordnung der überlastungsbedingten Zeitverluste zu den auslösenden Verkehrsnachfragewerten. Werte im ersten Ast der Punktewolke der Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad treten immer im Zusammenhang mit gravierenden Verkehrsspitzen auf, bei denen die Verkehrsnachfrage in zwei oder mehr aufeinander folgenden Stunden-Intervallen die Kapazität der Strecke überschreitet. In diesen Fällen wird bei noch ansteigender Verkehrsnachfrage bereits ein Stau ausgelöst, der sich durch die weiter zunehmende Nachfrage im folgenden Intervall erst nach sehr langer Zeit auflösen kann. Damit fallen in den Folgeintervallen weitere Zeitverluste an, die teilweise dem Intervall der ersten Stauentstehung zugeordnet werden. Dieses Beispiel verdeutlicht: Der Zusammenhang zwischen dem Auslastungsgrad und den verursachten Zeitverlusten wird durch den Verlauf der Ganglinie im Bereich von Verkehrsspitzen maßgeblich beeinflusst. Das in Bild 3 dargestellte Phänomen zweier Äste beim Zusammenhang zwischen den Zeitverlusten und dem Auslastungsgrad betrifft solche Simulationsszenarien, die in vielen Stunden eine Verkehrsnachfrage erreichen, die deutlich jenseits der Kapazität nach HBS liegt und damit im Ergebnis der Bemessung zu einer Qualitätsstufe F führen würde.

Bild 3: Dynamische Darstellung der überlastungsbedingte Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad für einen Beispielquerschnitt

Für jede Untersuchungsstrecke und jedes Verkehrsnachfrageszenario wurden verschiedene Funktionstypen durch Minimierung der Fehlerquadrate an die simulierten Werte angepasst, um den ermittelten Zusammenhang zwischen dem Auslastungsgrad und den überlastungsbedingten Zeitverlusten zu beschreiben. Für die Anpassung der Modellfunktion wurde aus schließlich der Auslastungsbereich 0,9 ≤ x ≤ 1,3 berücksichtigt. Auslastungsgrade x < 0,9 verursachen nur selten nennenswerte Zeitverluste. Im HBS repräsentiert ein Auslastungs grad von x = 0,9 die Grenze zwischen den Qualitätsstufen D und E, d. h. zwischen einem stabilem und einem instabilen Verkehrszustand. Im Hinblick auf die Plausibilität für den Anwender ist es daher sinnvoll, die in Stunden mit einem Auslastungsgrad x < 0,9 ver ursachten geringen Zeitverluste bei der Modellanpassung zu vernachlässigen. Stündliche Auslastungsgrade x > 1,3 sind sehr selten und verursachen Zeitverluste, die in einer sehr großen Bandbreite liegen. Im Rahmen der durchgeführten Simulationen wurden solche hohen Auslastungsgrade überwiegend durch Variation der Verkehrsnachfrage erzeugt, um den Verlauf über einen größeren Auslastungsbereich einheitlich modellieren zu können. Solche Auslastungsgrade sind jedoch für übliche Planungsaufgaben nicht als relevant an zusehen und bleiben daher bei den weiteren Auswertungen unberücksichtigt.

Für die Modellanpassung wurden verschiedene Typen von Potenz und Exponentialfunktionen getestet. Für alle Untersuchungsstrecken wurden eine sehr gute Übereinstimmung im Verlauf und damit eine geringe Fehlerquadratsumme mit folgendem Funktionstyp erreicht:

Formel (3) siehe PDF.

Im untersuchten Bereich kleinerer Auslastungsgrade (x < 0,9) sind die simulierten Zeitverluste nicht null. Dies ist darauf zurückzuführen, dass durch die Variabilität der Verkehrsnachfrage und der Kapazität auch innerhalb nicht überlasteter Stunden-Intervalle (x < 1) in einzelnen 5-Minuten-Intervallen Zeitverluste verursacht werden können. Die so entstandenen Zeitverluste bei kleinerer Auslastung können mit der in Gleichung (3) gegebenen Funktion gut wiedergegeben werden. Um jedoch einen einheitlichen, stetigen Verlauf der Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad besonders im Bereich des Übergangs zwischen stabilem und instabilem Verkehr (Qualitätsstufe D bzw. E) erreichen zu können, sollten der Funktionswert und die Neigung der Modellfunktion für x = 0,9 jeweils null sein. Diese Bedingungen sind durch Gleichung (3) nicht erfüllt. Als Alternative zu Gleichung (3) konnten unter Verwendung einer verschobenen Potenzfunktion ebenfalls gute Übereinstimmungen bei allen Untersuchungsstrecken erreicht werden:

Formel (4) siehe PDF.

Dieser Ansatz erfüllt die o. g. Bedingung, dass der Funktionswert und die Neigung der Modellfunktion für x = 0,9 jeweils null sind. Er wurde daher für die weiteren Analysen verwendet.

Die Anpassung der Modellfunktion ergab, dass der Modellparameter B für alle Untersuchungsstrecken und Verkehrsnachfrageszenarien in einer Größenordnung von B = 3 liegt. Mit diesem Wert ergaben sich die geringsten Fehlerquadratsummen. Für die Ermittlung des Modellparameters A wurden verschiedene zusammenfassende Auswertungen vorgenommen. Dabei wurde eine Differenzierung nach dem Dauerlinientyp, nach der Lage der Strecke im Straßennetz (innerhalb oder außerhalb von Ballungsräumen) sowie nach der Fahrstreifenanzahl getestet. Die durch Minimierung der Fehlerquadrate ermittelten Parameter A der Modellfunktion nach Gleichung (4) sind in Tab. 1 angegeben. Dabei zeigt sich, dass sich für den Parameter in Abhängigkeit von der Art der Differenzierung der Untersuchungsstrecken Werte in einer erheblichen Bandbreite ergeben.

Die absolute Höhe der Zeitverluste ist auch von der Fahrstreifenanzahl abhängig. Da sich der Auslastungsgrad auf die Kapazität der Strecke bezieht, geht eine Überlastung auf einer vierstreifigen Richtungsfahrbahn bei gleichem Auslastungsgrad mit einer höheren Summe der Zeitverluste einher als auf einer zwei oder dreistreifigen Richtungsfahrbahn. Um diesen Zusammenhang zu untersuchen, wurde in Bild 4 eine Differenzierung nach der Fahrstreifen anzahl vorgenommen. Ein eindeutiger Zusammenhang, d. h. höhere Zeitverluste bei höherer Fahrstreifenanzahl, ist jedoch nicht in jedem Fall zu erkennen. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich die Einflüsse aus der Art der Ganglinie der Verkehrsnachfrage, der Lage der Strecke im Straßennetz, der Anzahl der Fahrstreifen sowie weiterer Parameter gegen seitig überlagern.

Tabelle 1: Ermittelte Werte für den Modellparameter A des Zusammenhangs zwischen dem Auslastungsgrad und der überlastungsbedingten Zeitverluste (Gleichung (4))

Bild 4: Modellfunktionen differenziert nach Fahrstreifenanzahl

Bild 5: Modellfunktion zur Ermittlung der überlastungsbedingten Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad

Die Auswertungen zeigen, dass eine feine Differenzierung nach bestimmten Parametern aufgrund der Überlagerung unterschiedlicher Einflüsse nicht zu einer Erhöhung der Plausibilität des Zusammenhangs zwischen dem Auslastungsgrad und den in Stunden-Intervallen verursachten Zeitverlusten führt. Als pragmatischer Ansatz wird daher vorgeschlagen, als Modellparameter einheitlich A = 60.000 anzusetzen. Eine genauere Ermittlung von über lastungsbedingten Zeitverlusten kann nur durch eine modellbasierte Simulation im jeweiligen Einzelfall erfolgen.

5 Variabilität der überlastungsbedingten Zeitverluste

Zur Nachbildung der Variabilität überlastungsbedingter Zeitverluste wurde die Varianz und die Standardabweichung der in den einzelnen Stunden des Jahres verursachten über lastungsbedingten Zeitverluste analysiert. Bild 6 zeigt als weiteres Ergebnis der Simulations rechnungen den ermittelten Zusammenhang zwischen dem Auslastungsgrad und der Standardabweichung der Zeitverluste. Analog zu Bild 2 sind die Ergebnisse dabei in Stunden-Intervallen für das Nachfrage-Szenario N50 für drei Beispielstrecken dargestellt. Erkennbar sind auch hier deutliche Unterschiede im Verlauf.

Bild 6: Standardabweichung der Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad für drei Beispielquerschnitte

Bild 7: Standardabweichung der Zeitverluste in Abhängigkeit von den mittleren Zeit-verlusten für drei Beispielquerschnitte

Da die Varianz der Zeitverluste proportional zu den mittleren Zeitverlusten ist, ergibt sich für den Zusammenhang zwischen den mittleren Zeitverlusten und der Standardabweichung der Zeitverluste wie in Bild 7 dargestellt eine konkave Form, die mit einer Wurzelfunktion beschrieben werden kann. Als maßgebende Zuverlässigkeitskenngröße ermöglicht die Standardabweichung der in den einzelnen Stunden des Jahres verursachten überlastungsbedingten Zeitverluste die Quantifizierung der Variabilität der Zeitverluste und die Bewertung der Zuverlässigkeit des Verkehrsablaufs auf Autobahnen.

6 Zusammenfassung

Die Fahrtzeit auf Autobahnen setzt sich aus der streckenabhängigen Fahrtzeit im fließenden Verkehr und den überlastungsbedingten Zeitverlusten an Engpässen, die unabhängig von der Länge des Engpasses anfallen, zusammen. Die mittleren Fahrtzeiten im fließenden Verkehr können anhand von q-v-Beziehungen ermittelt werden. Für die Ermittlung der Zeitverluste an Engpässen wurde eine Modellfunktion entwickelt, mit der die überlastungsbedingten Zeitverluste in Abhängigkeit vom Auslastungsgrad in Stunden-Intervallen beschrieben werden. Die Entwicklung der Modellfunktion erfolgte anhand von makroskopischen Simulationen des Verkehrsablaufs auf 50 Untersuchungsstrecken nach dem Prinzip der Ganzjahresanalyse. Im Gegensatz zu empirischen Analysen der Fahrtzeit auf Autobahnen können mit dem Simulationsansatz für jede Stunde des Jahres die Zeitverluste ermittelt werden, die durch innerhalb der Stunde ausgelösten Überlastungen verursacht wurden. Darüber hinaus kann auch die zufällige Variabilität überlastungsbedingter Zeitverluste ermittelt und damit die Zuverlässigkeit des Verkehrsablaufs beschrieben werden.

Im Ergebnis der Simulationen zeigten sich erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Untersuchungsstrecken. Diese sind nicht eindeutig auf bestimmte Verkehrs-, Strecken und Umfeldbedingungen zurückzuführen. Somit wird als pragmatischer Ansatz eine einheitliche Funktion zur Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Auslastungsgrad und überlastungsbedingten Zeitverlusten zur Aufnahme in die zukünftigen Richtlinien für Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen an Straßen vorgeschlagen.

7 Literatur

[1]    FGSV: Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS). Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Hrsg.), Köln, 2001.

[2]    FGSV: Empfehlungen für Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen an Straßen (EWS), Aktualisierung der RAS-W ’86, Ausgabe 1997. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (Hrsg.), Köln, 1997.

[3]    GEISTEFELDT, J.; HOHMANN, S.; ESTEL, A.: Ermittlung der geeigneten Verkehrsnachfrage als Bemessungsgrundlage von Straßen. Schlussbericht zum Forschungsauftrag FE03.440/2008/AGB der Bundesanstalt für Straßenwesen, Lehrstuhl für Verkehrswesen, Ruhr-Universität Bochum, 2012.

[4]    GEISTEFELDT, J.: Schätzung von Reisezeiten auf Autobahnen unter Verwendung eines erweiterten Verkehrsflussmodells. Tagungsband zur HEUREKA ’05 – Optimierung in Verkehr und Transport. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, Köln, 2005.

[5]    BRILON, W.; PONZLET, M.: Application of traffic flow models. In: Proceedings of the Workshop in Traffic and Granular Flow. World Scientific, Singapore, 1995.

[6]    ARNOLD, M.; BÖTTCHER, S.: Bemessungsverkehrsstärken vor dem Hintergrund sich verändernder Pegel. Schriftenreihe Forschung Straßenbau und Straßenverkehrstechnik, Heft 922, Bonn, 2005.

[7]    BRILON, W.; ZURLINDEN, H.: Überlastungswahrscheinlichkeiten und Verkehrsleistung als Bemessungskriterium für Straßenverkehrsanlagen. Schriftenreihe Forschung Straßenbau und Straßenverkehrstechnik, Heft 870, Bonn, 2003.

[8]    BRILON, W.; GEISTEFELDT, J.; REGLER, M.: Entwicklung von Zielgrößen für die Verkehrsbeeinflussung auf Bundesfernstraßen in Hessen. Schlussbericht zum Forschungsprojekt im Auftrag des Hessischen Landesamts für Straßen und Verkehrswesen, Lehrstuhl für Verkehrswesen der Ruhr-Universität Bochum, 2006.

[9]    GEISTEFELDT, J.: Modellierung der Verkehrsnachfrage mit tagesindividuellen Typganglinien. Tagungsband zur HEUREKA ’08 – Optimierung in Verkehr und Transport. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, Köln, 2008.

[10]    GEISTEFELDT, J.; BRILON, W.: A Comparative Assessment of Stochastic Capacity Estimation Methods. In Transportation and Traffic Theory 2009: Golden Jubilee – Proceedings of the 18th International Symposium on Transportation and Traffic Theory. Springer, Dordrecht, Heidelberg, London, New York, 2009.

Diesem Beitrag liegen Teile des im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, verteten durch die Bundesanstalt für Straßenwesen, unter FE 03.440/2008/AGB durchgeführten Forschungsvorhabens zugrunde. Die Verantwortung für den Inhalt liegt allein bei den Autoren.