FGSV-Nr. FGSV 002/127
Ort online-Konferenz
Datum 13.04.2021
Titel Wirkungen von Restzeitanzeigen auf den Radverkehr – eine Fahrradsimulatorstudie
Autoren Mara Ruf
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Restzeitanzeigen indizieren die verbleibende Zeit der roten oder grünen Phase von Verkehrsampeln und bieten damit das Potential, Radfahrern das taktische Anpassen ihrer Geschwindigkeit zu ermöglichen, um Haltevorgänge zu verhindern und gleichzeitig die Zahl der Rotlichtverstöße zu minimieren. Im Rahmen dieser Forschungsarbeit wurden die Auswirkungen von Restzeitanzeigen für Fahrradfahrer auf die Verkehrssicherheit und -effizienz an signalisierten Knotenpunkten mit Hilfe eines Fahrradsimulators untersucht. Die daraus gewonnenen Ergebnisse weisen darauf hin, dass Restzeitanzeigen sowohl die Zahl der Haltevorgänge als auch die der Rotlichtverstöße reduzieren können und damit die Verkehrsqualität für Radfahrer maßgeblich verbessern.

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1 Einleitung

Um der wachsenden Zahl der Radfahrer gerecht werden zu können und ihre Sicherheit zu garantieren, müssen neue Verkehrskonzepte entwickelt werden. Anders als motorisierte Verkehrsteilnehmer stehen Radfahrer noch immer selten im Fokus der Forschung. Im Rahmen des Forschungsprojekts RadOnTime wird die Auswirkung von Restzeitanzeigen für den Radverkehr auf die Verkehrssicherheit und -effizienz ausgewertet.

Restzeitanzeigen können eingesetzt werden, um die verbleibenden Rot- oder Grünzeiten einer Signalgruppe anzuzeigen. Auch Kombinationen beider Restzeitanzeigen sind möglich, indem derselbe Signalgeber im Wechsel genutzt wird. Derartige infrastrukturseitig verbaute Signalgeber werden dabei insbesondere für Fußgänger und Radfahrer verwendet. Ziel der Restrotanzeigen ist vor allem eine Reduktion der Rotlichtverstöße und die Verringerung der Anzahl der Fußgänger und Radfahrer, die sich zu Beginn der Freigabezeit des konkurrierenden Fahrzeugstroms noch in der Furt befinden. Außerdem soll die Attraktivität der Infrastruktur für die Verkehrsteilnehmer erhöht werden.

Um die Auswirkungen von Restzeitanzeigen evaluieren zu können, wurde eine Simulatorstudie mit einem Fahrradsimulator durchgeführt. Ein Fahrradsimulator kann ein Instrument sein, um neue Technologien und Konzepte effektiv zu testen, bevor sie im Feld eingesetzt werden. Die Nutzung eines Simulators gewährleistet das gezielte Implementieren von Bedingungen, die für jeden Probanden gleich sind und ermöglicht zudem die Installation einer hohen Zahl an Restzeitanzeigen, was in der Realität sehr kosten- und planungsaufwändig wäre. Während die Nutzung von Fahrsimulatoren in der Verkehrswissenschaft in den letzten Jahren stark zugenommen hat, gibt es noch immer wenige Fahrradsimulatoren. Der Fahrradsimulator des Lehrstuhls für Verkehrstechnik der Technischen Universität München wurde fortlaufend verbessert und für die vorliegende Forschung weiter angepasst.

Dieser Beitrag fasst die Ergebnisse der Fahrradsimulatorstudie des Forschungsprojekts RadOnTime zusammen. Das Projekt RadOnTime wird vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans 2020 gefördert.

Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich in geschlechtsspezifischen Personenbezeichnungen differenziert. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate weibliche Form gleichberechtigt ein.

2 Stand der Wissenschaft und Technik

Eine Reduzierung der Rotlichtverstöße von Radfahrern durch den Einsatz von Restzeitanzeigen wird in mehreren Studien dokumentiert [1]–[6]. Die Niederlande sind das Land mit dem höchsten Radverkehrsanteil Europas. Dort werden vermehrt Restrotanzeigen speziell für Radfahrer installiert. Ziel ist es auch hier, Rotlichtverstöße zu reduzieren. Nach den ersten Installationen in Amsterdam im Jahr 2005 wurden Untersuchungen durchgeführt, welche eine Reduktion der Rotlichtverstöße um zunächst 7% zur Folge hatten. Zur Erhöhung der Sichtbarkeit wurde ein weiterer Zähler im unteren Signalgeber für Radfahrer angebracht, wodurch eine Reduktion um weitere 10% erzielt wurde. Diese Anzeigen wurden von Radfahrern als sehr positiv bewertet [7]. Basierend auf diesen Ergebnissen wurde die Empfehlung ausgesprochen, weitere Anlagen mit den Anzeigen auszustatten. Da in den Niederlanden auch Restzeitanzeigen in Verbindung mit verkehrsabhängiger, regelbasierter Steuerung eingesetzt werden, sind zum Teil deutliche Sprünge in der Anzeige sichtbar [8]. Um diesen Effekt visuell abzumildern, werden neben der Anzeige von Sekunden als Ziffer auch umlaufende Kreise aus LEDs angewendet.

Zwischen 2009 und 2010 wurden in Amsterdam sechs weitere Restrotanzeigen eingesetzt [9]. Davon waren drei Restrotanzeigen mit dem umlaufenden Kreis ausgestattet, während die übrigen Anlagen explizite Zahlenwerte anzeigten. Die Ergebnisse zeigen eine Verringerung der Rotlichtverstöße von 13-14% an Querungsstellen mit angezeigten Zahlenwerten. Für die umlaufenden Kreise konnte dagegen keine Reduzierung der Rotlichtverstöße ermittelt werden. Zusätzlich zu den Messungen wurde eine Benutzerakzeptanzuntersuchung durchgeführt. Radfahrer bewerteten das System positiv und behaupteten, dass sowohl sie selbst als auch die übrigen Radfahrer nicht mehr während der Sperrzeit die Straße kreuzen und dass Restrotanzeigen die Verkehrssicherheit erhöhen. 83% der Teilnehmer gaben an, dass der Einsatz von Restzeitanzeigen einen positiven oder sehr positiven Einfluss auf die Verkehrssicherheit habe und 41% kamen zu dem Schluss, dass die Wartezeit an den Knotenpunktzufahrten nach dem Einsatz von Restzeitanzeigen kürzer geworden sei. Außerdem bevorzugten die Radfahrer das Anzeigeprinzip mit Zahlenwerten gegenüber dem umlaufenden Kreis.

In der niederländischen Stadt Helmond wurden zwischen 2012 und 2013 acht Knotenpunkte mit Restzeitanzeigen für Radfahrer ausgestattet [10]. Die Bewertung der Restzeitanzeigen erfolgte im Rahmen einer Benutzerakzeptanzuntersuchung. Stichprobenartig ausgewählte Bewohner von Helmond wurden gebeten, einen Fragebogen zur Evaluierung der Restzeitanzeigen auszufüllen, wobei alle Teilnehmer der Befragung Radfahrer waren. Die Ergebnisse zeigen, dass für knapp die Hälfte der Befragten die Wartezeit an den ausgestatteten Knotenpunktzufahrten kürzer erschien als ohne Restzeitanzeigen. Fast zwei Drittel der Befragten empfanden die Wartezeiten nach dem Einsatz der Restzeitanzeigen als akzeptabel. Die Mehrheit der Teilnehmer behaupteten, dass der Einsatz der Restzeitanzeigen positive Einflüsse auf die Verkehrssicherheit und den Verkehrsfluss der Radfahrer hat.

In Nordamerika werden häufig Restzeitanzeigen verbaut, die die verbleibende Räumzeit für Fußgänger anzeigen. In dem US-amerikanischen Regelwerk (MUTCD) [11] werden solche Anzeigen für alle Anlagen empfohlen. Die Anzeigen sollen dafür sorgen, dass Fußgänger sich sicherer fühlen und insbesondere langsame und ältere Fußgänger nicht in der Furt „stranden“, weil sie die verbleibende Räumzeit überschätzen. Für den motorisierten Verkehr werden Restzeitanzeigen dagegen explizit ausgeschlossen, da keine Buchstaben oder Zahlen durch Lichtsignale gezeigt werden sollen.

In London sind ebenfalls Anlagen im Einsatz, die die verbleibende Zeit zur Querung der Fußgängerfurt anzeigen. Transport for London gibt an, dass im September 2015 über 400 Anlagen mit solchen Zusatzsignalen ausgestattet und weitere geplant waren. Einer Studie zur Folge gaben 85% der befragten Fußgänger an, sich beim Queren sicherer zu fühlen [12].

In Deutschland werden Restzeitanzeigen bisher nur selten eingesetzt. Eine der wenigen Anlagen Deutschlands wurde in Hamburg 2005 auf dem Jungfernstieg im Rahmen eines Pilotprojekts für Fußgänger erprobt. Der Einsatz einer Restrotanzeige reduzierte die Anzahl der Rotlichtverstöße von 21,0% auf 16,7% und rief eine positive subjektive Wahrnehmung bei den Fußgängern hervor [13]. In Bochum wurden ebenfalls Versuche mit Restgrün- und Restrotanzeigen unternommen [14]. Es wurde zwar eine subjektiv positive Bewertung durch die Fußgänger festgestellt, allerdings konnten keine nennenswerten Verbesserungen bei der Zahl der Rotlichtverstöße verzeichnet werden. Außerdem wird angemerkt, dass die Anzeige verbleibender Restgrünzeiten bei mobilitätseingeschränkten Personen Stress erhöhen kann, weil diese ihre Gehgeschwindigkeit nicht erhöhen können. Zwar enthalten die deutschen Regelwerke (z.B. RiLSA) bisher keine Angaben über derartige Anzeigen, doch wird die Verwendung solcher Anzeigesysteme zunehmend diskutiert [15].

3 Methodik

3.1 Aufbau des Fahrradsimulators

In diesem Abschnitt werden die Hardware- und Softwarekomponenten des Fahrradsimulators des Lehrstuhls für Verkehrstechnik der Technische Universität München vorgestellt. Der Aufbau des Fahrradsimulators wird im Beitrag „A bicycle simulator for experiencing microscopic traffic flow simulation in urban environments“ [16] ausführlich beschrieben.

3.1.1 Die Hardware

Der Fahrradsimulator (Bild 1) besteht aus einem Stadtfahrrad, dessen Hinterrad auf einem beweglichen Fahrradtrainer befestigt ist, der eine laterale Inklination ermöglicht, sobald der Proband sein Gewicht auf eine Seite verlagert.

Bild 1: Aufbau des Fahrradsimulators des Lehrstuhls für Verkehrstechnik der Technischen Universität München

Das Fahrrad befindet sich vor drei großen Bildschirmen mit je 1,4 Metern Durchmesser. Der mittige Bildschirm steht mit einem Abstand von ungefähr einem Meter vom Kopf des Fahrers frontal zu dessen Blickrichtung, die beiden anderen stehen daran anschließend seitlich um 78 Grad gedreht. Dieser Aufbau ermöglicht eine circa 207 Grad weite Sicht in horizontaler Richtung sowie einer 37 Grad Sicht in vertikaler Richtung und damit eine gute Möglichkeit, sich seitlich umzuschauen, was vor allem an Knotenpunkten wichtig ist.

3.1.2 Die Software

Sowohl der Lenkwinkel als auch die Geschwindigkeit des Fahrrads werden jeweils durch einen Sensor gemessen. Die Rotierscheibe, die sich unter dem Vorderrad befindet, ist mit einem magnetischen Drehgeber (Modell EMS22A) ausgestattet, der in einer Umdrehung 1024 Punkte abtastet. Dies ermöglicht die Messung des absoluten Rotationswinkels. Ein Infrarot Distanz Sensor (Modell VCCGNDOUT) detektiert einen auf dem Schwungrad, auf dem das Hinterrad lagert, angebrachten weißen Streifen und ermöglicht damit die Ermittlung seiner Geschwindigkeit.
Der schematische Aufbau des Fahrradsimulators kann dem Bild 2 entnommen werden.

Bild 2: Ablaufdiagramm des Aufbaus des Fahrradsimulators

Die Rohdaten, die von den Sensoren gemessen werden, werden an den Mikrokontroller von Arduino weitergeleitet und von diesem in numerische Werte umgewandelt. Von dort gelangen die Daten mit Hilfe eines COM-Ports zum Computer. Ein Matlab-Simulink Modell, das speziell für den Fahrradsimulator entwickelt wurde, verarbeitet die Daten. Außerdem bildet das Modell die Verknüpfung zwischen der Simulation des Fahrrads über DYNA4, einer Simulationssoftware, die den simulierten Fahrer in die virtuelle Umgebung integriert, und der des Verkehrs, die über die mikroskopische Verkehrssimulation SUMO [17] kontrolliert wird [18]. Die Visualisierung geschieht durch die Software DYNAanimation, die die Abbildung der virtuellen Umgebung sowohl auf Bildschirmen als auch mit Hilfe einer Virtual Reality Brille unterstützt.

3.2 Untersuchungsszenarien

Die Teststrecke ist fast 3,5 km lang und beinhaltet nach einer ersten Kurve, die als kurze Einfahrstrecke zur Eingewöhnung an das Fahrrad und den Simulator dient, 25 Kreuzungen, die nacheinander durchfahren werden. Sechs dieser Knotenpunkte sind der Realität nachempfunden; in jeweils doppelter Ausführung basieren sie auf den Münchner Knotenpunkten:

• Karlstraße/Luisenstraße,

• Ludwigstraße/Theresienstraße und

• Milbertshofenerstraße/Christoph-von-Glück-Platz.

An diesen Knotenpunkten wurden für unterschiedlich lange Testperioden Restzeitanzeigen für Radfahrer installiert, die die verbleibende Zeit der grünen Phase indizieren. Bild 3 zeigt zwei exemplarische Ausschnitte aus der virtuellen Umgebung während der Simulatorfahrt.

Bild 3: Ausschnitte aus der virtuellen Umgebung

Die übrigen 19 Knotenpunkte sind fiktional und möglichst einfach gehalten, hier kreuzt der Radweg meist lediglich eine einspurige Straße. Um sicherzustellen, dass alle Probanden an einem Knotenpunkt das gleiche Signal erhalten, wurde 40 Meter vor jedem Knotenpunkt ein Trigger definiert, der das Signal an der kommenden Lichtsignalanlage auslöst. An 14 der 25 Knotenpunkten wird ein rotes Signal ausgelöst, das in seiner Länge zwischen acht und 16 Sekunden variiert. Zudem verfügt einer der Knotenpunkte mit rotem Signal über eine Zifferanzeige 60 m vor der Haltelinie. Drei Lichtsignalanlagen mit ausgelöstem rotem Signal dienen als Referenz ohne Restzeitanzeige. Mit der Zifferanzeige der verbleibenden Sekunden und einem herunterlaufenden Kreis werden zwei verschiedene Designs für die Anzeige der Restrotzeit in der virtuellen Umgebung getestet. Um die Knotenpunkte mit ausgelöstem rotem Signal uneingeschränkt vergleichen zu können, wurde das kreuzende Verkehrsvolumen auf null reduziert.

Bild 4: Ausprägungen der Restzeitanzeige in der Simulationsumgebung, Zifferanzeige (links), Kreisanzeige (mittel) und Anzeige 60 m vor der Haltelinie (rechts)

Alle sechs realen Knotenpunkte verfügen über eine Restgrünzeitanzeige, drei davon zusätzlich über eine Anzeige 60 Meter vor dem Knotenpunkt, wo eine Zeit von 14 beziehungsweise 16 Sekunden ausgelöst wird. Zwei der übrigen fünf grünen Lichtsignalanlagen an fiktionalen Knotenpunkten dienen als Referenz ohne Restgrünzeitanzeige und zeigen zum Zeitpunkt des Auslösens des Triggers sechs beziehungsweise acht Sekunden grün.

3.3 Ablauf der Simulatorstudie

Jeder Proband wurde zu Beginn der Studie über die wichtigsten Funktionsweisen des Fahrrads und den Ablauf der Simulatorfahrt aufgeklärt. Zudem wurde jedem Teilnehmer gesagt, er solle so fahren, als befände er sich auf dem Weg in die Uni beziehungsweise zur Arbeit, um die psychologische Wiedergabetreue zu erhöhen [19]. Anschließend wurde die gesamte Teststrecke durchfahren und danach die Umfrage auf einem iPad beantwortet. An der Simulatorstudie nahmen 32 Probanden mit den im Bild 5 dargestellten persönlichen Eigenschaften teil.

Bild 5: Alter (links) und Geschlecht (rechts) der Probanden in der Simulatorstudie

4 Ergebnisse

Um das Verhalten der Probanden an den Knotenpunkten mit unterschiedlichen Arten von Restzeitanzeigen zu analysieren, wurde es auf Basis der Signalphase beim Überqueren der Referenzlinie und dem Auftreten eines Haltevorgangs in vier Gruppen eingeteilt (Tabelle 1), wobei die folgende Definition der Referenzlinie und eines Haltevorgangs verwendet wurde.

Tabelle 1 siehe PDF.

Tabelle 1: Zuordnung des Verhaltens an der Lichtsignalanlage

1 Haltevorgang: Geschwindigkeit ≤ 0.2 m/s für länger als 1 s.

2 Radfahrer in der Gruppe „Verzögerter Rotlichtverstoß“ hielten bei einem roten Signal an, überquerten jedoch den Knotenpunkt, bevor das Signal grün wurde. 

3 Referenzlinie: die Linie, die sich jeweils einen Meter in Fahrtrichtung hinter der Haltelinie befindet.

Diese Linie ist auf Grund der Positionierung der Haltelinie identisch mit dem Beginn des Knotenpunktes.

Rotlichtverstöße bei einer Restgrünanzeige finden statt, wenn der Radfahrer die grüne Phase der Signalanlage verpasst und anschließend den Knotenpunkt innerhalb der ersten zwei Sekunden der roten Phase überquert. Bei einer ausgelösten Restgrünzeit von sechs Sekunden beispielsweise braucht der Proband mindestens eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 24,6 km/h, um die 41 Meter bis zur Referenzlinie in der angezeigten Zeit zurückzulegen.

Bild 6: Anteil der beobachteten Probanden der jeweiligen Verhaltensgruppen mit unterschiedlichen Arten von Restzeitanzeigen

Die Anteile der beobachteten Probanden, die einen Rotlichtverstoß, einen verzögerten Rotlichtverstoß, einen regelkonformen Haltevorgang oder eine regelkonforme Querung ohne Halt durchgeführt haben, sind in Bild 6 dargestellt. Das Verhalten an Knotenpunkten mit einer Restrotzeitanzeige sind auf der linken Seite dargestellt. Auf der rechten Seite des Bildes ist das Verhalten an Knotenpunkten mit Restgrünzeitanzeigen zu sehen.

Bild 7 zeigt die Anteile der Probanden in jeder Verhaltensgruppe je nach Dauer der angezeigten Restrot- (links) bzw. Restgrünzeit (rechts). Nur Beobachtungen an Knotenpunkten mit einer Restzeitanzeige wurden in Bild 7 berücksichtigt.

Bild 7: Anteil der beobachteten Probanden der jeweiligen Verhaltensgruppen mit unterschiedlicher Dauer der Restzeitanzeige

4.1 Rotlichtverstöße

An Knotenpunkten ohne eine Restzeitanzeige wurde ein größerer Anteil an Rotlichtverstößen der Probanden beobachtet als an Knotenpunkten mit einer Restzeitanzeige. An Lichtsignalanlagen mit rotem Signal wurde ein großer, signifikanter Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein einer Restrotzeitanzeige und dem Vorkommen von Rotlichtverstößen der Probanden festgestellt (χ^2 (1,n=377)=15,404, p=0,000). Die Art der Restrotzeitanzeige (Kreis, Ziffer oder Anzeige 60 m vor der Haltelinie) hat keinen signifikanten Einfluss auf das Vorkommen von Rotlichtverstößen an roten Lichtsignalanlagen. An Knotenpunkten mit einer Restrotzeitanzeige wurde kein signifikanter Zusammenhang zwischen der angezeigten Dauer der Restrotzeit und Rotlichtverstößen gefunden.

Auch an den Knotenpunkten mit grünem Signal haben Restgrünzeitanzeigen einen deutlichen Einfluss auf das Auftreten von Rotlichtverstößen (χ^2 (1,n=350)=47,644, p=0,000). Ob die Restgrünzeitanzeige sich an der Haltelinie oder 60 m vor der Haltelinie befindet spielt keine erhebliche Rolle für das Vorkommen von Rotlichtverstöße. Die Dauer der angezeigten Restgrünzeit hat an Knotenpunkten mit einer Restgrünzeitanzeige keinen Einfluss auf das Vorkommen von Rotlichtverstößen.

An Knotenpunkten mit rotem wie grünem Signal hat das Geschlecht keinen signifikanten Einfluss auf das Vorkommen von Rotlichtverstößen. Das Alter der Probanden spielt aber eine Rolle für das Begehen von Rotlichtverstößen (χ^2 (4,n=722)=22,199, p=0,000), wobei Probanden zwischen 21-30 Jahren und über 65 Jahre am häufigsten Rotlichtverstöße durchführten.

4.2 Vermeidung von Haltevorgängen

Zur Bewertung des Einflusses von Restrotanzeigen auf die Effizienz und den Komfort an Knotenpunkten wurde der Anteil der Probanden, der ohne anzuhalten über die Haltelinie gefahren ist, untersucht.

An Knotenpunkten mit Restrotzeitanzeigen wurden deutlich mehr Überfahrten ohne Haltevorgang beobachtet als an Knotenpunkten ohne Restrotanzeigen (χ^2 (1,n=377)=23,297, p=0,000), wobei die Art der Restrotanzeige keinen signifikanten Einfluss auf das Vorkommen von Überfahrten ohne Haltevorgang hat. Einen großen, signifikanten Zusammenhang zwischen der Dauer der Restzeit und dem Vorkommen von Überfahrten ohne Haltevorgang wurde beobachtet, wobei weniger Überfahrten ohne Haltevorgänge bei längeren Restzeiten vorkamen.

Dieser Trend ist auch an Knotenpunkten mit einer Restgrünzeitanzeige zu sehen. Wesentlich mehr Probanden können Knotenpunkte mit einer Restgrünzeitanzeige ohne anzuhalten überqueren (χ^2 (1,n=350)=26,938, p=0,000). Obwohl die Entfernung der Anzeige von der Haltelinie keinen signifikanten Einfluss auf das Vorkommen von Haltevorgängen hat, spielt die angezeigte Dauer eine wichtige Rolle (χ^2 (1,n=286)=19,594, p=0,001).

Das Alter und Geschlecht der Probanden spielt eine Rolle für die Vermeidung von Haltevorgängen, wobei Frauen (χ^2 (1,n=727)=11,090, p=0,001), ältere (>45 Jahre) und jüngere (<21 Jahre) Probanden (χ^2 (4,n=727)=14,419, p=0,006) häufiger Überquerungen ohne einen Haltevorgang durchführten.

4.3 Anfahren vor Beginn der Freigabephase

Um die Auswirkung auf die Verkehrseffizienz untersuchen zu können, wurde der durchschnittliche Zeitpunkt des Anfahrens nach einem vollständigen Haltevorgang an jedem Knotenpunkt mit rotem Signal ermittelt. Dafür wurden nur die Probanden betrachtet, die keinen Rotlichtverstoß begangen hatten. Eine signifikante Steigerung des Anteils der Anfahrvorgänge vor dem Start der grünen Phase wurde mit Vorhandensein einer Restrotzeitanzeige beobachtet (χ^2 (1,n=223)=18,83, p=0,000). Auch hier spielt die Art der Restrotzeitanzeige keine signifikante Rolle für das Vorkommen von Anfahrvorgängen vor dem Start der grünen Phase. Zudem hat die Dauer der angezeigten Restrotzeit keinen signifikanten Einfluss auf den Anfahrtszeitpunkt an Knotenpunkten mit einer Restrotanzeige.

Auch dieser Indikator zeigt einen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Probanden (χ^2 (1,n=223)=10,81, p=0,001) und Probanden aus verschiedenen Altersgruppen. Frauen, ältere (>45 Jahre) und jüngere (<21 Jahre) Probanden wurden häufiger beobachtet, Anfahrvorgänge vor dem Start der grünen Phase durchzuführen.

4.4 Subjektive Einschätzung und Verständlichkeit

Um die Subjektive Einschätzung von Restzeitanzeigen evaluieren zu können, wurde ein Fragebogen konzipiert, den jeder Proband nach der Simulatorfahrt ausgefüllt hat. Restzeitanzeigen stießen bei allen Probanden der Simulatorstudie auf positive Rückmeldung, die Ziffernanzeige hielten 100 % für verständlich, 94 % für hilfreich bei der Geschwindigkeitsanpassung beim Anfahren an rote Lichtsignalanlagen und 97 % für hilfreich beim Anfahren an grüne Lichtsignalanlagen. Für 87 % war dadurch das Warten an roten Lichtsignalanlagen leichter, 62 % fühlten sich durch die Anzeige motiviert, nicht über Rot zu fahren, während 12 % dieser Aussage widersprachen. Dass durch Restzeitanzeigen die Verkehrssicherheit verbessert wird, glaubten 75 % der Probanden. Die Restzeitanzeige mit herunterlaufendem Kreis schnitt in allen genannten Kategorien schlechter ab, besonders stark ist der Unterschied bei der Verständlichkeit und der Geschwindigkeitsanpassung. Lediglich 50 % hielten die Darstellung für gut verständlich. Dass die Anzeige hilfreich beim Anfahren an eine rote Ampel ist, stimmten 60 % zu.

5 Zusammenfassung und Diskussion

Die aus der Simulatorstudie erlangten Ergebnisse weisen deutliche Trends über die Auswirkungen von Restzeitanzeigen auf die Verkehrssicherheit und -effizienz sowie die Wahrnehmung der verschiedenen Darstellungen der Restzeitanzeigen auf. An den Kreuzungen mit Restzeitanzeige wurden sowohl an solchen mit grünen als auch mit roten Signalen weniger Rotlichtverstöße gemessen als an den Referenzkreuzungen ohne Anzeige der verbleibenden Zeit. Auch der Anteil der Probanden, die beim Anfahren an eine Kreuzung mit roter Ampel vollständig anhalten mussten, ist an den Kreuzungen mit Restzeitanzeige deutlich niedriger. Zudem ermöglicht die Anzeige der verbleibenden Sekunden der roten Phase den Radfahrern angepasster vor dem Phasenwechsel zu starten, aber dabei keine Rotlichtverstöße zu begehen und somit die Verkehrseffizienz steigern.

Der Vergleich der Ergebnisse aus der Simulatorfahrt und der Umfrage zeigt jedoch, dass die gewonnenen Ergebnisse stets in dem entstandenen Kontext betrachtet werden müssen. Auch wenn die Präsenz und Wiedergabetreue des Simulators im Vergleich zu ersten Studien höher ist, so besteht dennoch ein Unterschied zwischen der Fahrt im Simulator und der in der Realität, der sich bei kritischen Situationen wie dem Überqueren von Ampeln bei Rot oder der Überschreitung von Geschwindigkeitsbegrenzungen nur schwer vermeiden lässt. Insgesamt sind die gemessenen Anteile der Rotlichtverstöße mit bis zu 69 % auffallend hoch, hier muss beachtet werden, dass an den Knotenpunkten mit ausgelöster roter Lichtsignalanlage kein kreuzender Verkehr implementiert wurde, was die hohen Anteile an Rotlichtverstößen zumindest zum Teil erklärt. Zudem konnte der Trend beobachtet werden, dass die Bereitschaft, Rotlichtverstöße zu begehen, im Laufe der Testfahrt stieg und gleichzeitig der intensive Umgang mit Restzeitanzeigen zu einer strategischen Effizienzsteigerung der Fahrweise während der Simulatorfahrt führte.

Für weiterreichende Erkenntnisse müsste der Fahrradsimulator deutlich verbessert und weitere Elemente, wie eine für Radfahrer so bedeutende Audiosimulation, die Messung der Längsneigung des Fahrrads oder die Erfassung des Blicks oder von Gesten mittels Eye Trackings und Tiefenkamera hinzugefügt werden.

6 Literatur

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