FGSV-Nr. FGSV 001/21
Ort Karlsruhe
Datum 11.10.2006
Titel Chancen und Risiken des ÖPNV im ländlichen Raum
Autoren Univ.-Prof. Dr.-Ing. Uwe Köhler
Kategorien Kongress
Einleitung

Risiken für den öffentlichen Personennahverkehr insbesondere im ländlichen Raum liegen in der demografischen Entwicklung (Rückgang der Bevölkerung, Veränderung der Altersstruktur) und in der Verschlechterung der finanziellen Rahmenbedingungen (Kürzung der Regionalisierungsmittel und der Ausgleichsleistungen für den Ausbildungsverkehr). Auf diese Entwicklungen muss der ÖPNV reagieren, indem kostengünstigere, aber dennoch attraktive Bedienungsformen, die Nachfrageänderungen flexibler angepasst werden können, eingesetzt werden. Insbesondere kombinierte Betriebsformen aus Linienbusverkehren und bedarfsgesteuerten Systemen sind geeignet und eröffnen dem ÖPNV im ländlichen Raum neue Chancen.

 

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1  Risiken für den ÖPNV

Nach der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes [1] und anderen Untersuchungen [2] wird die Bevölkerung in Deutschland bis zum Jahre 2050 von heute 82,5 Mio. auf einen Wert zwischen 81 und 67 Mio. zurückgehen – je nach zugrunde gelegtem Szenario einer Zuwanderungspolitik und anderer Rahmenbedingungen. Diese Abnahme wird sich nicht gleichmäßig verteilen, sondern es werden sich Räume mit stärker abnehmender Bevölkerung, aber auch Räume mit zumindest stagnierender Bevölkerung herausbilden. Eine abnehmende Bevölkerung führt in aller Regel auch zu einem Rückgang der Fahrgastzahlen im ÖPNV, wenn es hierbei auch durchaus Ausnahmen gibt (Bild 1). Daneben wird sich die Altersstruktur der Bevölkerung bis 2050 erheblich verändern, wie aus dem Bild 2 hervorgeht. Der Anteil junger Menschen wird zurückgehen, der Anteil älterer und alter Menschen stark ansteigen.

Diese Entwicklung hat in zweierlei Hinsicht Auswirkungen auf den öffentlichen Personennahverkehr:

  1. Der Schülerverkehr, der gerade in ländlichen Räumen häufig das Rückgrad des ÖPNV darstellt, wird zurückgehen. Zum Teil kann dieser Rückgang zwar durch eine zu erwartende Konzentration von Schulen an weniger Standorten und damit verbundenen größeren Reiseweiten kompensiert werden, aber eben nur zum Teil [3].
  2. Die Mobilität älterer Menschen unterscheidet sich deutlich von der durchschnittlichen Mobilität der Bevölkerung. Es werden weniger Wege (2,4 statt 3,3 Wege pro Person und Tag) und kürzere Distanzen (20 statt 38 km pro Person und Tag) zurückgelegt [4]. Darüber hinaus werden die Älteren in Zukunft immer autoaffiner, was sich insbesondere in einer noch deutlich zunehmenden Motorisierung von Frauen über 60 Jahren zeigt.

Bild 1: Veränderung der Bevölkerung und der Fahrgastzahlen in ausgewählten Städten

Bild 2: Veränderung der Altersstruktur

Auch die finanziellen Rahmenbedingungen für den öffentlichen Personennahverkehr entwickeln sich nicht in eine günstige Richtung. So wurden die Regionalisierungsmittel, die den Bundesländern insbesondere für den Schienenpersonenverkehr zur Verfügung gestellt werden, gekürzt, wie aus dem Bild 3 hervorgeht. Ebenso unterlagen Ausgleichsleistungen für den Ausbildungsverkehr nach § 45 a des Personenbeförderungsgesetzes einer Kürzung, und zwar im Jahre 2004 um 4 %, in 2005 um 8 % und in 2006 um 12 %. Derzeit überlegen deshalb mehrere Bundesländer, die Finanzierung des Ausbildungsverkehrs auf eine neue Grundlage zu stellen.

Bild 3: Entwicklung der Regionalisierungsmittel

Insgesamt ergeben sich aus den aufgezeigten Entwicklungen folgende Risiken für den ÖPNV insbesondere in ländlichen Räumen:

  • Abnahme der Bevölkerung und Veränderung der Altersstruktur führen zu
    • Rückgängen im Schülerverkehr und damit zu einer Abnahme der ÖPNV-Nachfrage, die auch durch Schulstandortkonzentrationen nicht aufgefangen werden kann
    • leichten Rückgängen im Berufsverkehr, der in ländlichen Räumen ohnehin nicht sehr ausgeprägt ist und damit zu einer leichten Abnahme der ÖPNV-Nachfrage
    • leichtem Anstieg im Besorgungs- und Freizeitverkehr, der aber von der zukünftigen älteren Generation verstärkt mit dem Auto realisiert wird und damit nicht unbedingt zu einem Anstieg der ÖPNV-Nachfrage beiträgt.
  • Eingeengter Finanzrahmen führt zu
    • Anpassung von Verkehrsleistungen (die eher angebotsorientierte Planung wird durch eine stärker nachfrageorientierte Planung ersetzt)
    • Anstieg der Fahrpreise, was zur Folge hat, dass – bei einem für viele Menschen auch heute schon eingeengten Geldbudget für Mobilität – auf Fahrten auch mit dem ÖPNV verzichtet wird.

Wenn aufgrund dieser dargestellten Entwicklungen der ÖPNV im ländlichen Raum zu einer Restgröße verkümmert, führt dies im Übrigen auch zu Konsequenzen beim ÖPNV in den Städten, weil durch den geringeren Zufluss aus den ländlichen Räumen in die Städte die Nachfrage nach ÖPNV-Leistungen dort abnimmt.

 

2      Chancen für den ÖPNV

Um es erst gar nicht so weit kommen zu lassen, sind für den öffentlichen Personennahverkehr schon kurzfristig Strategien zu entwickeln, die dazu beitragen, dass gerade ältere Menschen in ländlichen Räumen verstärkt den ÖPNV nutzen, obwohl sie zukünftig ausgeprägter als derzeit zwischen Pkw und ÖPNV wählen können. Dies kann dadurch gelingen, dass gerade in ländlichen Räumen kostengünstigere, aber dennoch attraktive Bedienungsformen zum Einsatz kommen, die darüber hinaus auch in der Lage sind, flexibel auf Nachfrageänderungen zu reagieren.1)

In Bezug auf Betriebs- und Investitionskosten stellen die straßengebundenen Betriebsformen kostengünstigere Lösungen dar als schienengebundene Betriebsformen, die nur bei entsprechend hoher Nachfrage wirtschaftlich sinnvoll einzusetzen sind (Bild 4). Allerdings ist der heutige Linienverkehr mit Bussen häufig nicht sehr attraktiv, weil z. B. durch mäandrierende Linienführungen lange Beförderungszeiten entstehen (oder aber bei gestreckter Linienführung zum Teil sehr lange Zu- und Abgangswege zu bzw. von den Haltestellen auftreten, die die Reisezeiten verlängern). Nach [6] ist aber auch für ältere Menschen die Reisezeit ein wesentliches Kriterium bei der Wahl eines Verkehrsmittels. Attraktiv können straßengebundene ÖPNV-Systeme also nur sein, wenn sie eine akzeptable Reisezeit gewährleisten.

Aus linienverkehrs- und bedarfsgesteuerten Bedienungsformen kombinierte Betriebsweisen sind als straßengebundene Systeme in der Lage, die oben genannten Anforderungen zu erfüllen. Ein Beispiel für eine solche kombinierte Betriebsform stellt der Richtungsband-Expressbusbetrieb REx dar [7], der konventionelle Regionalbuslinien oder schwächer ausgelastete Regionalbahnen ersetzen kann. REx besteht aus einer Expressbuslinie, die kurze Beförderungszeiten aufweist, weil sie direkt geführt wird (ohne Schleifen- und Stichfahrten) und aus angehängten, in der Regel bedarfsgesteuert bedienten Sektoren mit folgenden Eigenschaften:

  • kleine Sektorengröße, dadurch Bedienung durch nur ein Fahrzeug je Sektor möglich
  • Bedarfshaltestellen im Sektor, feste Verknüpfungshaltestelle mit dem Expressbus.

Bild 4: Zusammenhang zwischen spezifischem Nachfragewert und Kostendeckungsgrad beim Schienenregionalverkehr [5]

1) Generell können straßengebundene und insbesondere bedarfsgesteuerte Betriebsformen flexibler als Schienenverkehrsmittel Nachfrageänderungen angepasst werden. Bei Schienenverkehrsmitteln entstehen gegebenenfalls bei abnehmender Nachfrage hohe Kosten durch die Vorhaltung eines dann zu groß dimensionierten Verkehrssystems.

Als Bedienungsformen innerhalb der Sektoren kommen z. B. in Betracht (in Abhängigkeit vom Umfang der dortigen Nachfrage):

  • private Mitnahmesysteme
  • AnrufsammelTaxi (AST).

Bei größerer Nachfrage können auch Linienverkehrsmittel, z. B. Linientaxi oder Linienbus (mit kleineren Fahrzeugen) eingesetzt werden. Welche Bedienungsform in einem Sektor in Abhängigkeit von der Nachfrage am kostengünstigsten ist, geht – bezogen auf eine bestimmte Struktur eines Sektors und ein bestimmtes Angebot – aus dem Bild 5 hervor [8].

Im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis wurde im Frühjahr 2006 in einem Pilotprojekt ein Richtungsband-Expressbusbetrieb in dem Bedienungskorridor zwischen den beiden Mittelzentren Homberg (Efze) und Schwalmstadt-Treysa eingerichtet (Bild 6). Durch die gegenüber vorher deutlich gestrecktere Linienführung ist für die Gesamtzahl der Fahrgäste in diesem Korridor trotz des erforderlichen Umsteigens an der Verknüpfungshaltestelle zwischen dem AST der Sektorenbedienung und dem Expressbus (wobei davon nur 4 % (ohne Schülerverkehr) aller Fahrgäste betroffen sind), eine Fahrzeiteinsparung von ca. 15 % (ohne Schülerverkehr) erreicht worden.

Kombinierte Betriebsformen wie z. B. REx können eine attraktive Bedienung sicherstellen, weil sie zu kürzeren Reisezeiten führen, was nicht nur durch die gestreckte Linienführung des Expressbusses, sondern auch durch eine zu-Tür-Bedienung in den Sektoren ermöglicht wird. Dies kommt gerade älteren Menschen entgegen. Die negativen Wirkungen des bei kombinierten Betriebsformen auftretenden Umsteigezwangs zwischen Expressbus und Sektorenfahrzeug können aber gemindert werden, indem z. B. die Verknüpfungshaltestelle so gestaltet wird, dass Bus und AST Tür an Tür parallel zueinander stehen.

Bild 5: Fahrzeugeinsatz in Abhängigkeit von Betriebskosten

Bild 6: Vorher-Nachher-Bedienung im Korridor Homberg-Schwalmstadt

In Anpassung an kombinierte Betriebsformen sollten auch die Empfehlungen für die Planung des ÖPNV in ländlichen Räumen überdacht werden. So wird bisher (z. B. in [9, 10]) gefordert, dass geschlossene Siedlungen oder Siedlungsteile mit weniger als 200 Einwohnern nicht an das Liniennetz des ÖPNV anzubinden seien. Beim Einsatz kombinierter Betriebsformen kann diese Empfehlung wie in der Tabelle 1 dargestellt modifiziert werden.

Tabelle 1: Anbindung von Gemeinden an den ÖPNV

Die Chancen des ÖPNV im ländlichen Raum liegen in einem Betriebsformenmix, wie er in der Tabelle 2 aufgezeigt ist. Ein solcher relativ einfach strukturierter Betriebsformenmix für ländliche Räume trägt auch dazu bei, multimodales Verhalten insbesondere älterer Menschen zu fördern, weil bei Einkaufs-, Erledigungs- und Freizeitwegen außerhalb des Nahbereichs um die eigene Wohnung die Nutzung eines bestimmten Verkehrsmittels nicht so fest liegt wie dies z. B. bei Berufspendlern der Fall ist, so dass – je nach den Rahmenbedingungen eines Weges – zwischen unterschiedlichen Verkehrsmitteln gewählt werden kann [11].

Tabelle 2: Betriebsformenmix im ländlichen Raum

Literaturverzeichnis

  1. Statistisches Bundesamt (2003): Bevölkerung Deutschlands bis zum Jahr 2050 – Ergebnis der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung. Presseexemplar, 38–47, Wiesbaden
  2. Birg, H.: (2003): Dynamik der demografischen Schrumpfung und Alterung in Europa: Gestaltungskonsequenzen für Deutschland. Tagung „2030 – Mehr Mobilität bei weniger Bevölkerung“, Wuppertal, Deutsche Verkehrswissenschaftliche Gesellschaft, Heft B 263, S. 34–95, Berlin
  3. Löcker, G.: (2006): Vom Linienverkehrsbetrieb zum Mobilitätsdienstleister. Der Nahverkehr, Heft 5, S. 20–26
  4. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW); Institut für angewandte Sozialwissenschaften (infas) (2004). Mobilität in Deutschland – Ergebnisbericht, Berlin
  5. Zöllner, R.: (2002): Einsatzbereiche von Schienenregionalbahnen. Schriftenreihe Verkehr, Fachgebiet Verkehrssysteme und Verkehrsplanung, Heft 13, Universität Kassel
  6. Scheiner, J.:(2003): Verkehrsmittelnutzung älterer Menschen in der Freizeit – Relevanz von ÖPNV – Angeboten für die Mobilität. Der Nahverkehr, Heft 4, S. 37–42
  7. Köhler, U.; Appel, L. (2006): Zukunft des ÖPNV auf dem Land. Der Nahverkehr, Heft 5, S. 70–76
  8. Köhler, U.; Bertocchi, T. (2006): Bearbeitung von Empfehlungen für Planung und Betrieb des ÖPNV. Forschungsprojekt FE-Nr. 70.0770/2005, 2. Zwischenbericht, Universität Kassel
  9. Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) (2001): Verkehrserschließung und Verkehrsangebot im ÖPNV. VDV-Schrift Nr. 4, Köln
  10. Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft, Verkehr und Technik (1998): Leitlinie zur Nahverkehrsplanung in Bayern, München
  11. Beckmann, K. J.; Chlond, CH. et al. (2006): Multimodale Verkehrsmittelnutzer im Alltagsverkehr. Internationales Verkehrswesen 58 (4), S. 138–145