FGSV-Nr. FGSV 001/22
Ort Düsseldorf
Datum 08.10.2008
Titel Länderübergreifende Verkehrssteuerung in Autobahnkorridoren
Autoren Dipl.-Ing., Prof. Gerd Riegelhuth
Kategorien Kongress
Einleitung

Die angemessene Reaktion auf bedeutsame Nachfrage- und Kapazitätsveränderungen mit Hilfe geeigneter Strategien, die einerseits zur Vermeidung von Überlastungen im Verkehrsnetz beitragen und andererseits die Auswirkungen von Verkehrsstörungen reduzieren sollen, ist eine wichtige Komponente sowohl im regionalen als auch im überregionalen Verkehrsmanagement. Die Hessische Straßen- und Verkehrsverwaltung hat in diesem Kontext Mitte der 1990er Jahre das Thema Strategiemanagement platziert, um die notwendigen betrieblichen Entscheidungsprozesse zwischen den involvierten Verkehrs- und Betriebszentralen zu automatisieren. Dieser Ansatz kam zunächst auf regionaler Ebene bei der Umsetzung verkehrsträgerübergreifender Verkehrsmanagementstrategien zur Anwendung. Seine wesentlichen Merkmale sind die verbleibende Zuständigkeit und somit Verantwortung der Entscheidungsprozesse bei den beteiligten Verkehrs- und Aufgabenträgern auf organisatorischer sowie die Unabhängigkeit von Entwicklungsständen und Standards auf technischer Seite. Aufbauend auf diesen konzeptionellen und technischen Entwicklungen der Verkehrszentrale Hessen wurden im Rahmen von Pilotanwendungen mit benachbarten Bundesländern Netzbeeinflussungsstrategien zur Steuerung des Verkehrs in länderübergreifenden Autobahnkorridoren erfolgreich erprobt. Trotz aller positiven Ergebnisse dieser Kooperation lässt sich nach Beendigung der Pilotphase der länderübergreifenden Zusammenarbeit das Fazit ziehen, dass es eines über den betrachteten Ansatz hinausgehenden Korridormanagements bedarf, um den Verkehr auf dem deutschen Autobahnnetz und darüber hinaus im europäischen Rahmen auf dem TERN (Trans European Road Network) optimal, das heißt unter bestmöglicher Ausnutzung der verfügbaren Netzkapazitäten, steuern zu können.

 

 

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1 Ausgangssituation und Problemstellung

Die nachhaltige Sicherung der Mobilität durch eine effiziente Nutzung der vorhandenen Verkehrsinfrastruktur unter umweltverträglichen Randbedingungen ist eine der wesentlichen Aufgaben der verantwortlichen Institutionen im Verkehrsmanagement. Auf den Bundesfernstraßen, vorwiegend aber den Bundesautobahnen, werden von den Straßenbauverwaltungen der Länder zu diesem Zweck in erster Linie Verkehrsbeeinflussungsanlagen im Rahmen des Programms zur Verkehrsbeeinflussung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung errichtet und technisch vorgehalten. Für den verkehrstechnischen Betrieb auf Grundlage verkehrsrechtlicher Anordnungen, die gemäß Straßenverkehrsordnung (StVO) von den jeweils zuständigen Straßenverkehrsbehörden getroffen werden, sind originär die Bundesländer zuständig. Dies führt dazu, dass Aktivitäten mit Bezug zu den Verkehrsproblemen des eigenen Bundeslandes den Schwerpunkt der verkehrsbeeinflussenden Maßnahmen bilden. Länderübergreifende Lösungsansätze gibt es bisher nur dort, wo eine zu beeinflussende Strecke bzw. Netzmasche die jeweiligen Ländergrenzen überschreitet und die Beteiligung des Nachbarbundeslandes unumgänglich ist. Hinsichtlich der Verkehrsbeeinflussung auf den Bundesfernstraßen ergibt sich folgende Situation:

  • Der Schwerpunkt liegt auf Maßnahmen, die sich je Bundesland realisieren lassen.
  • Es kommen je Bundesland unterschiedliche Steuerungsalgorithmen und -parameter zum Einsatz.
  • Eine länderübergreifende Interoperabilität der eingesetzten Verkehrsbeeinflussungssysteme ist aufgrund der unterschiedlichen technischen Entwicklungsstände sowie einer nicht einheitlichen Georeferenzierung grundsätzlich nicht gegeben.
  • Der Betrieb der Verkehrsbeeinflussungsanlagen unterscheidet sich je Bundesland aufgrund der organisatorischen Rahmenbedingungen ganz erheblich; ein 24-Stunden-Betrieb über die volle Woche ist nicht überall gewährleistet.

Als wesentlich bleibt festzuhalten, dass Strategien zur Steuerung des Verkehrs auf den Bundesfernstraßen, denen eine Betrachtung des gesamten Bundesautobahnnetzes zugrunde liegt, derzeit nicht existieren.

2 Lösungsansätze zum Verkehrsmanagement in Hessen

2.1 Grundlagen

Die Grundlagen für die Entwicklung von Verkehrsmanagementstrategien auf Basis eines politisch abgestimmten Zielkonzeptes für das Rhein-Main-Gebiet wurden im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte unter Federführung des Hessischen Landesamtes für Straßen- und Verkehrswesen geschaffen. Für einen ausgewählten Verkehrskorridor des Rhein-Main-Gebiets nördlich von Frankfurt wurden beispielhaft erste Szenarien unter Berücksichtigung eines intermodalen Ansatzes zum Verkehrsmanagement hergeleitet. Dabei wurde zunächst ein sogenanntes strategisches Netz definiert, das sowohl Netzabschnitte des motorisierten Individualverkehrs als auch des öffentlichen Verkehrs umfasst. Dadurch war es möglich, Netzsegmente in abgeschlossenen Korridoren oder Sektoren zu betrachten, die hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit bzw. verkehrlichen Bedeutung das Potenzial bieten, durch die Umsetzung von Verkehrsmanagementstrategien zur Optimierung der Verkehrssysteme beizutragen. Für die Auswahl solcher Korridore/Sektoren sollten mindestens die folgenden Voraussetzungen gegeben sein:

  • Hohe Leistungsfähigkeit der Verkehrssysteme,
  • Verfügbarkeit von Verkehrsdaten für die Situationsanalyse und -prognose,
  • Telematikinfrastruktur zur Umsetzung/Unterstützung der sich aus Verkehrsmanagementstrategien ableitenden Einzelmaßnahmen,
  • Vernetzung der originär zuständigen Stellen, bei zuständigkeitsübergreifenden Ansätzen.

Aufgrund der bisher gemachten Erfahrungen in Hessen lassen sich die folgenden Arbeitsschritte zur Erarbeitung von zuständigkeitsübergreifenden Verkehrsmanagementstrategien in einem Ballungsraum ableiten:

  • Sektorale Aufteilung der Region in Abhängigkeit der Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur (strategisches Netz; strategische Knotenpunkte; Points of Interest) auf Basis einer verkehrsträgerübergreifenden netz-, strecken- und punktbezogenen Verkehrsanalyse (Engstellenanalyse) und unter Berücksichtigung der für eine Sektorfestlegung geforderten Kriterien sowie eine erste Abschätzung von baulichen, verkehrs- oder betriebstechnischen Maßnahmen.
  • Definition von Strategien durch konkrete Ableitung und Klassifizierung geeigneter Maßnahmen/-pakete zur Beseitigung/Abmilderung der identifizierten Verkehrsprobleme unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten/Zuständigkeiten sowie verfügbarer Telematikinfrastruktur.
  • Sektorenweise Bewertung der Strategien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit.
  • Abschätzung und Bewertung sektoraler Interdependenzen.
  • Priorisierung aller Maßnahmen hinsichtlich ihrer Anwendung, z. B. in Form einer Prioritätenmatrix, nach Anwendungsebenen unterteilt und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten/Zuständigkeiten.
  • Aufbau einer Strategiebibliothek bei den verantwortlichen/beteiligten Organisationen.
  • Entwicklung von Kriterien Problemmustern zur Aktivierung der einer Strategie zugehörigen Maßnahmen/-pakete.
  • Vereinbarung des Handlungsrahmens zwischen den beteiligten Institutionen mit dem Ziel der Festlegung definierter Regeln für die Aktivierung und Deaktivierung der Strategien.
  • Anpassung und Erweiterung der Telematikinfrastruktur sowie der Verkehrsdatenerfassungssysteme und sonstiger begleitender technischer Maßnahmen.

Das Bild 1 verdeutlicht die Zusammenhänge bzw. Abhängigkeiten der einzelnen Prozessschritte von der Netzanalyse bis hin zur Strategieaktivierung als Folge temporär auftretender Ereignisse, die den Verkehr, unabhängig vom Verkehrsmittel, negativ beeinflussen. Gleichzeitig wird deutlich, dass es um immer fortwährende Prozesse mit dem Ziel einer stetigen Optimierung handelt.

Bild 1: Prozessschritte zur Realisierung eines übergreifenden Strategiemanagements

2.2 Rahmenbedingungen

Wesentliche Voraussetzung für die wirkungsvolle Umsetzung von Verkehrsmanagementstrategien ist die Bereitschaft aller an den Prozessen beteiligten Institutionen zur Zusammenarbeit. Dies ist am ehesten zu erreichen, wenn aus organisatorischer Sicht Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten erhalten bleiben können und allen Partnern weitestgehend gleiche Rechte, aber auch Pflichten, eingeräumt werden. Das macht es erforderlich, alle Strategien zur zuständigkeitsübergreifenden Beeinflussung des (Gesamt-)Verkehrs zwischen allen Beteiligten im Vorfeld sehr sorgfältig abzustimmen und zu bewerten. Die notwendigen Handlungsabläufe zur Umsetzung/Aktivierung bzw. auch Deaktivierung einzelner Strategien müssen analog einem Drehbuch festgelegt werden und sollten im Falle einer Umsetzung möglichst automatisiert ablaufen, um zeitnah auf Ereignisse reagieren zu können, die sich wie folgt kategorisieren lassen:

  • Periodische Belastungsschwankungen, B. morgendliche Spitzenstunden,
  • Planbare Ereignisse, B. Messen, Baustellen,
  • Unvorhersehbare Ereignisse, das heißt Störfälle sowohl im ÖV als auch im IV, die noch einmal hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer zu unterteilen sind.

Die vorgenannte Automatisierung der Abstimmungsprozesse zur operativen Umsetzung von Strategien im Verkehrsmanagement zwischen Beteiligten mit unterschiedlichen technischen Voraussetzungen und Entwicklungsständen war und ist eine Herausforderung. Sie ist aber zwingend, da mit Auftreten eines strategieauslösenden Ereignisses; z. B. Fahrbahnsperrung nach Straßenbahnunfall, keine Zeit für das Personal in den Verkehrs- und Betriebsleitzentralen (Operatoren, Disponenten etc.) sich erst per Telefon über Art und Umfang der umzusetzenden Maßnahmen abzustimmen; oft ist auch nicht die erforderliche Kompetenz bzw. das notwendige Wissen vorhanden. Strategiemanagement heißt hier das Zauberwort zur Lösung dieses Problems. Es wird hierbei davon ausgegangen, dass für solche oder ähnliche Ereignisse im Vorfeld abgestimmte und bewertete Strategien einschließlich der sie unterstützenden Maßnahmen in einer Strategiebibliothek/-datenbank abgelegt sind und bei Bedarf nur noch aktiviert werden müssen. Der dazu vorab notwendige Abstimmungsprozess, das heißt die Abfrage, ob alle am Strategieprozess beteiligten Partner die für sie in Betracht kommenden Maßnahmen auch umsetzen können, oder ob Hinderungsgründe vorliegen, läuft dann automatisiert ab. Ebenso die dazu notwendige synchrone Aktivierung (anschließend auch die Deaktivierung) der in Frage kommenden Maßnahmen. Der Prozess dazu wird immer von der Institution angestoßen, in deren Zuständigkeitsbereich ein verkehrliches Problem aufgetreten ist, das durch Maßnahmen in eigener Verantwortung allein nicht gelöst werden kann. Das Bild 2 zeigt den Prozess der Strategieaktivierung. Indikator ist in der Regel das Erkennen eines vordefinierten Problemmusters über den Level of Service (LoS), z. B. in Form von Staulängen oder Reisezeitverzögerungen.

Die Vorteile des Strategiemanagementansatzes lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Strategien sind im Vorfeld bewertet und abgestimmt,
  • Schnelle Reaktion durch automatisierte Prozesse,

Bild 2: Prozess zur Aktivierung von Maßnahmen im Strategiemanagement

  • Gleichberechtigter Zugriff auf die Strategiebibliothek für alle Partner,
  • Hohe Transparenz und Gleichberechtigung aller beteiligten Stellen,
  • Keine Abtretung von Zuständigkeiten und Kompetenzen,
  • Einfache Systemarchitektur minimiert Prozesskomplexität und ist weitestgehend unabhängig von vorhandenen Entwicklungsständen in den Verkehrs-/Betriebszentralen,
  • Keine Weitergabe sensibler Rohdaten und keine gemeinsame Georeferenzierung erforderlich.

3 LDC-Pilotprojekt Deutschland

3.1 Ausgangsbasis

Von den Partnern der Euroregionalen Projekte CENTRICO, CORVETTE, STREETWISE und VIKING wurde im Jahr 2004 das Projekt „Long Distance Corridors (LDC)“ initiiert. In diesem Kontext wurde seitens des Hessischen Landesamtes für Straßen- und Verkehrswesen Anfang 2005 eine Initiative für ein gemeinsames Strategiemanagement im Bereich der Netzsteuerung auf dem transeuropäischen Straßennetz TERN (Trans European Road Network) gestartet, an der sich weitere Bundesländer, Österreich und die Schweiz beteiligten.

Folgende Ziele lagen der hessischen Initiative zugrunde:

  • Steuerung des Verkehrs über eigene verkehrliche Zuständigkeiten hinaus,
  • Definition und verkehrliche Abschätzung von Strategien zur Lenkung des überregionalen Verkehrs,
  • Erprobung und Bewertung dieser Strategien in ausgewählten Korridoren,
  • Standardisierung von Prozessen und Gewährleistung der Übertragbarkeit,
  • Schnelle technische Realisierung durch Anwendung einer einfachen Systemarchitektur,
  • Schaffung von Umleitungskapazitäten, die bei länderspezifischer Netzbeeinflussung nicht zur Verfügung stehen.

Im Ergebnis sollte es darum gehen, Handlungsempfehlungen, z. B. in Form eines Leitfadens, zu entwickeln, um damit den Verkehr in Europa in länderübergreifenden Korridoren schon auf größere Distanz steuern zu können. Das kann aber nicht bedeuten, dass schon bei einer Störung auf einem der Alpenpässe eine Netzbeeinflussungsmaßnahme in Hessen aktiviert werden muss. Vielmehr geht der Ansatz davon aus, dass es in Europa wie Kettenglieder aneinandergereihte Netzbeeinflussungskorridore geben soll und damit auch regionale Aspekte bei der Netzsteuerung weiterhin Berücksichtigung finden werden. Eine der wesentlichen Voraussetzungen dabei ist die Vorgabe, dass im Zuge einer europaweiten Strategieumsetzung Zuständigkeiten erhalten bleiben sollen und Maßnahmen nur auf Basis vorher gemeinsam geplanter, bewerteter und vereinbarter Strategien mit vordefinierten verkehrstechnischen Kriterien de-/aktiviert werden.

Um eine zeitnahe Durchführung des Pilotversuchs zu erreichen, verständigte man sich zu Beginn der Initiative auf folgende gemeinsame Aspekte:

  • Beschränkung auf das Autobahnnetz mit zwei bis drei Korridoren in Deutschland,
  • Orientierung an bestehenden Verkehrsproblemen,
  • Vordringliche Nutzung vorhandener Verkehrsbeeinflussungssysteme,
  • Kein aufwendiger Austausch von Massendaten zwischen den Verkehrszentralen,
  • Partner (Bundesländer) definieren Grad der akzeptierten Störungen für ihren Bereich selbst; entsprechende Entscheidungen werden nicht hinterfragt (Vertrauensbasis),
  • Vorgehensweise zur Definition von Strategien nach FGSV „Hinweise zur Strategieentwicklung im dynamischen Verkehrsmanagement“, Ausgabe 2003,
  • Auswirkungen der Strategien auf die Partner werden bei ihrer Definition bewertet.

In Deutschland wurden auf Basis dieses gemeinsamen Verständnisses drei Autobahnkorridore für die vorgesehenen Pilotanwendungen ausgewählt. Diese sind nachfolgend aufgeführt (beteiligte Bundesländer in Klammern):

  1. Südkorridor Frankfurt – München (Hessen, Baden Württemberg, Bayern)
  2. Westkorridor Frankfurt – Köln (Hessen, Rheinland Pfalz, Nordrhein-Westfalen)
  3. Nordkorridor Köln – Hamburg (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Bremen)

Im Bild 3 sollen die Pfeile andeuten, dass eine weitere räumliche Ausdehnung angestrebt wird.

Bild 3: Netzbeeinflussungskorridore des LDC-Piloprojekts

3.2 Feldversuch und wesentliche Erkenntnisse

Aufgrund der Vereinbarung, zunächst nur die vorhandene straßenseitige Telematikinfrastruktur zu nutzen, war eine zeitnahe Durchführung der Pilotphasen möglich. Allerdings gab es dadurch auch Einschränkungen hinsichtlich des Beeinflussungsgrades in den einzelnen Korridoren. Im Westkorridor konnte der Verkehr aus beiden Richtungen, also aus Nordrhein-Westfalen und aus Hessen und im Südkorridor nur von hessischer Seite aus beeinflusst werden. Im Nordkorridor wurde die Pilotphase genutzt, um auf Basis der entwickelten Strategien die notwendige Verkehrsbeeinflussungsinfrastruktur abzuleiten. Eine Beeinflussung des Verkehrs konnte hier deshalb ausschließlich über den Verkehrsfunk TMC erfolgen.

Im Rahmen der Strategiedefinition wurden auf Basis ausgewerteter TMC-Meldungen umfassende Störfallszenarien für die ausgewählten Autobahnabschnitte erstellt, auf deren Basis zugehörige Netzbeeinflussungsmaßnahmen abgeleitet und in der Strategiebibliothek abgelegt wurden. Diese lassen sich wie folgt kategorisieren:

  • Verkehrliche Maßnahmen zur Alternativroutensteuerung durch Aktivierung von Wechselwegweiseranlagen und dynamischen Informationstafeln (dWISta),
  • Umleitungsempfehlungen zur Verbreitung über den Rundfunk in Form TMC-Meldungen,
  • Betriebliche und sonstige begleitende Maßnahmen.

In der Umsetzungsphase kam erstmals der von der Verkehrszentrale Hessen entwickelte Intermodale Strategie Manager (ISM) zur Unterstützung des koordinierten Strategiemanagements zwischen den beteiligten Bundesländern zum Einsatz. Damit stand ein einfaches, transparentes und qualitätsüberwachtes Steuerungsverfahren zur teilautomatisierten Aktivierung von Netzbeeinflussungsmaßnahmen im Online-Betrieb den Operatoren der Verkehrszentralen zur Verfügung.

Die Feldversuchsphase dauerte insgesamt ein Jahr und diente in erster Linie der Bewertung sowie der Optimierung

  • der gemeinsam definierten Netzbeeinflussungsstrategien in den ausgewählten Autobahnkorridoren,
  • der damit verbundenen organisatorischen Regelungen,
  • des Intermodalen Strategie Managers (ISM) als technische Grundlage.

Bild 4: Anteile umgelenkter Kfz am Gesamtverkehr an Entscheidungspunkten der BAB A 3

Für die aktivierten länderübergreifenden Strategien im West- und Südkorridor konnte ein Nutzen [1] nachgewiesen werden; hier konnte auf entsprechende Referenzganglinien der Verkehrszentrale Hessen zurückgegriffen werden. Der Hauptnutzenfaktor ergibt sich aus der Veränderung der Fahrzeit und liegt im Mittel für beide Korridore bei 87 % des Gesamtnutzens (137 000 €). Die Betriebskosten sind anteilmäßig nur mit 9 % am Gesamtnutzen beteiligt (14 500 €); der Anteil aus der positiven Beeinflussung der Klimabelastung beträgt 4 % (6 000 €). Hierbei ist zu beachten, dass es sich um eine erste Umsetzung der länderübergreifenden Verkehrssteuerung handelt. Demzufolge musste eine Reihe von Annahmen (z. B. Zeitkosten- und Betriebskostenwerte von 1986) getroffen werden, die den Ergebnissen zugrunde liegen; hinzu kommen Ungenauigkeiten bei den Datengrundlagen (z. B. Zielspinnen sind Prognosedaten, die auf Haushaltsbefragungen aus dem Jahr 2000 basieren). Nicht quantifizierbar ist der Nutzen, der sich durch ein verbessertes TMC-Angebot ergibt; Rundfunkinformationen waren als Maßnahmen Bestandteil der Strategien, so dass damit eine gezielte Information (Beeinflussung) der Verkehrsteilnehmer erfolgten konnte. Der Anteil umgelenkter Fahrzeuge am Gesamtverkehr war insbesondere dort hoch, wo über dynamische Informationstafeln (dWISta) auch noch ergänzende Hinweise vermittelt werden konnten. Das Bild 4 zeigt die entsprechenden Quoten für die Entscheidungspunkte im Rhein- Main-Gebiet.

Aus organisatorisch-betrieblicher Sicht wird der Feldversuch von allen beteiligten Bundesländern als voller Erfolg gewertet. Zum einen ergeben sich durch den länderübergreifenden Ansatz aus strategischer Sicht neue Möglichkeiten der Netzbeeinflussung, insbesondere nach schweren Lkw-Unfällen mit länger andauernder Vollsperrung der Autobahn, die bisher nicht gegeben waren. Zum anderen hat die Unterteilung der Autobahnen in Störfallabschnitte, deren Analyse und die darauf aufbauende Definition von länderübergreifenden Strategien nach Einschätzung aller Beteiligten dazu geführt, dass die Netzbeeinflussungsmaßnahmen koordinierter abliefen und schneller als bisher aktiviert werden konnten. Daher wurde beschlossen, die Zusammenarbeit auch über die Pilotphase hinaus fortzusetzen.

4 Korridormanagement

4.1 Ausgangsbasis

Die Ausgangssituationen für eine zuständigkeitsübergreifende Zusammenarbeit im Verkehrsmanagement auf regionaler und interregionaler Ebene unterscheiden sich kaum. Es gibt keine zentral verantwortliche Stelle, so dass eine Kooperation weitestgehend gleichberechtigter Partner organisiert werden muss. Wie bereits erwähnt wird dies durch die unterschiedlichen technischen und betrieblichen Voraussetzungen, die bei den Partnern anzutreffen sind, zusätzlich erschwert. Der Strategiemanagementansatz hat sich hier sowohl hinsichtlich seines methodischen als auch seines technischen Lösungsansatzes als probates Mittel erwiesen, eine pragmatische Zusammenarbeit der verantwortlichen Stellen zu unterstützen. Der erfolgreiche Abschluss des LDC-Pilotprojektes, bei dem der von der Hessischen Straßen- und Verkehrsverwaltung auf regionaler Ebene konzipierte Ansatz auf interregionaler Ebene zur Anwendung kam, hat dies unterstrichen. Es gibt daher Bemühungen der beteiligten Bundesländer, das länderübergreifende Strategiemanagement auf weitere Bundesländer auszudehnen; zudem wird Hessen den Ansatz im EASYWAY-Projekt auf europäischer Ebene weiter voranbringen.

Die Kooperation im LDC-Projekt war und ist darüber hinaus, im Rahmen der verabredeten weiteren Zusammenarbeit, von folgenden Grundfestlegungen geprägt:

  • Orientierung an bestehenden verkehrlichen Problemen,
  • Nutzung bereits vorhandener straßenseitiger Telematikinfrastruktur,
  • Vertrauensbonus der Partner bei der Definition des Ausmaßes von akzeptierten Störungen.

Dieses vorab entwickelte gemeinsame Verständnis trug wesentlich zu einer schnellen und erfolgreichen Durchführung des Pilotprojektes bei. Diese Sichtweise, die auch vielerorts das Verkehrsmanagement in Deutschland auf lokaler und regionaler Ebene kennzeichnet, geht von einem von allen Partnern akzeptierten verkehrlichen Status Quo aus. So werden Strategien für Störungen im Verkehr entwickelt, denen überwiegend folgende Ursachen zugrunde liegen:

  • Regelmäßige Überlastung von Netzabschnitten, insbesondere im Berufsverkehr, Ferienreiseverkehr
  • Baustellen mit erheblichen Kapazitätsdefiziten,
  • Schwere Unfälle, in der Regel mit Lkw-Beteiligung,
  • Schäden an der Infrastruktur,
  • Besondere Witterungsverhältnisse.

Trotz aller positiven Wirkungen und Effekte haben die so entwickelten Strategien überwiegend reaktiven Charakter mit suboptimaler Wirkung, weil zum Beispiel durch planbare Ereignisse wie Baustellen, die derzeit keiner übergreifenden Netzkoordinierung unterliegen, die betrachteten Netzabschnitte bereits hinsichtlich ihrer Grundkapazität eingeschränkt sind.

4.2 Komponenten eines Korridormanagements

Wenn die beschriebene Form der Zusammenarbeit von Bundesländern in der länderübergreifenden Netzsteuerung nachhaltig institutionalisiert werden soll, ist es erforderlich, den im LDC-Pilotprojekt angewandten Strategiemanagementansatz deutlich weiter zu fassen und zu einem Korridormanagement auszuweiten. Dieses muss im Wesentlichen davon geprägt sein, dass zum einen gemäß der Prozessdarstellung im Bild 1 bestehende Netz- oder Verkehrszustände nicht grundlegend als Ausgangsbasis für die Entwicklung von Strategien akzeptiert werden, und zum anderen Konzepte entwickelt und Vorgehensweisen vereinbart werden, wie jeder Partner mit Ereignissen in seinem Verantwortungs-/Zuständigkeitsbereich umgeht, um deren Dauer bzw. deren Einwirkung auf den Verkehrsablauf zu minimieren. Ein zuständigkeitsübergreifendes Korridormanagement sollte im Wesentlichen von folgenden Prozessschritten gekennzeichnet sein:

  • Spürbare Erhöhung der Grundkapazität des Netzes durch
    • Beseitigung von kapazitätseinschränkenden Engstellen mit Hilfe verkehrstechnischer und baulicher Maßnahmen einschließlich der Bereitstellung ausreichender Park- und Rastanlagen,
    • Errichtung von Telematikinfrastruktur, B. zur temporären Seitenstreifenfreigabe.
  • Sicherstellung der Verfügbarkeit des Netzes durch
    • Erhöhung der Verkehrssicherheit mit Hilfe eines regelkonformen Aus- und Umbaus und bedarfsgerechter Instandhaltung sowie eines wirksamen Betriebs von Streckenbeeinflussungsanlagen,
    • Nachhaltigen Betrieb der Verkehrsbeeinflussungsanlagen,
    • Optimiertes Baustellenmanagement, bei dem unter anderen über eine Vorabbewertung der verkehrlichen Auswirkungen sowie durch die stringente Einhaltung verkehrlicher Regeln (z. B. kein Stau über 5 km, Freihalten der leistungsfähigen Alternativrouten von Baustellen) Negativeinflüsse auf den Verkehrsablauf vermieden werden,
    • Umfassendes Störfallmanagement mit optimierten Abläufen zur schnelleren Bergung liegen gebliebener bzw. verunfallter Fahrzeuge,
    • Leistungsfähige Umsetzung von betrieblichen Maßnahmen, B. im Winterdienst.
  • Effiziente Nutzung des Straßennetzes mit Hilfe intelligenter Telematikinfrastruktur durch
    • Länderübergreifendes Strategiemanagement im Abgleich mit Strategien eines verkehrsträgerübergreifenden regionalen Verkehrsmanagements (= Kernkomponente des LDC-Pilotprojekts),
    • Quantitative und qualitative Verbesserung der Verkehrsdatenerfassung,
    • Verbesserte Mobilitätsdienste, einschließlich der aktiven Einbindung des Verkehrsfunks TMC in Verkehrslenkungsstrategien,
    • Innovative Technologien, wie dynamische Ortung von Arbeitsstellen kürzerer Dauer, Fahrzeug-Infrastruktur-Kommunikation (C2X).
  • Organisatorische und technische Vernetzung durch
    • Einführung einer Systemarchitektur für Korridormanagement,
    • Integration von Softwaremodulen in die Verkehrsrechnerzentralen und regionalen Leitzentralen zur automatisierten Umsetzung der notwendigen Prozesse (z. B. Intermodaler Strategie Manager [ISM]).

Die Anwendung des Korridormanagementansatzes auf hessischen Autobahnen im Rahmen der Initiative Staufreies Hessen 2015 verdeutlicht, welches Potenzial vorhanden ist, Staus auf Autobahnen erheblich zu reduzieren (Bild 5). Eine zu Beginn der Initiative vorgenommene Potenzialabschätzung zur Vermeidung von Zeitverlusten auf hessischen Autobahnen unterstreicht die Notwendigkeit der Anwendung eines umfassenderen methodischen Vorgehens bei der Umsetzung länderübergreifender Strategien zur Minimierung von Staus auf Autobahnen. Das Bild 5 zeigt, in welchem Umfang Zeitverluste allein durch die Beseitigung kapazitätsbedingter Engpässe, z. B. durch temporäre Nutzung der Seitenstreifen, vermieden werden können. Gleichzeitig gewährleistet die konsequente Anwendung eines umfassenden Baustellenmanagements, dass diese positiven Ergebnisse nicht unterlaufen werden. Die zwischenzeitlich vorgenommenen jährlichen Auswertungen zur Dauer von Staus auf hessischen Autobahnen belegen, dass sich die prognostizierten Erfolge in relativ kurzer Zeit auch einstellen. So konnten insbesondere die Zeiten verkehrs- und baustellenbedingter Staus in den letzten vier Jahren in Hessen überproportional und in deutlichem Umfang reduziert werden.

Bild 5: Potenzialabschätzung für Autobahnen in Hessen (Zeitverluste pro Jahr)

5 Fazit und Ausblick

Im Hinblick auf eine effiziente Stauvermeidung auf Bundesautobahnen bietet der Ansatz eines Korridormanagements deutlich mehr Potenzial als der weitestgehend auf das Strategiemanagement reduzierte Ansatz, der im LDC-Pilotprojekt zwischen den beteiligten Bundesländern realisiert wurde; am Beispiel Hessens lässt sich dieser Nachweis führen. Beide Varianten stehen jedoch nicht in Konkurrenz zueinander, weil das Strategiemanagement als Teilmenge des Korridormanagements als eigene Komponente zu sehen ist. Kooperationen der Bundesländer könnten sich auf jener Basis, die sich im Pilotprojekt bereits bewährt hat, beginnen und stetig weiterentwickelt werden (Bottom-up- statt Top-down-Ansatz). Da (bundes-)länderübergreifende Verkehrslenkungsstrategien für das deutsche Autobahnnetz derzeit nicht oder nur ansatzweise bestehen und vor allem auch keine in dieser Hinsicht anwendbare Form einer organisatorisch-institutionellen Architektur verfügbar ist, bietet die hier vorgestellte Form der Zusammenarbeit die Möglichkeit, kurz- bis mittelfristig eine übergreifende Kooperation der Bundesländer zu etablieren. Die im Bereich des Straßenverkehrs ausgeprägten dezentralen (föderalen) Strukturen in Deutschland blieben davon unangetastet (siehe Abschnitt 2.2, „Vorteile des Strategiemanagementansatzes“). Vorteilhaft würde sich ferner die Tatsache auswirken, dass es möglich wäre, einzelnen Bundesländern individuelle Freiheiten hinsichtlich der Anwendungstiefe ihres Mitwirkens sowohl auf der konzeptionell funktionalen wie auch auf technisch-physischen Handlungsebene zuzugestehen. Das würde den korridorbezogenen verkehrlichen Gesamtnutzen der umzusetzenden Strategien zwar einschränken, aber auch gleichzeitig vermeiden, dass durch momentan nicht überwindbare Einstiegskriterien eine länderübergreifende Kooperation nicht zustande käme.

Die im LDC-Pilotprojekt beteiligten Bundesländer sind übereingekommen, ihre Zusammenarbeit in der bestehenden Form fortzusetzen und weiterzuentwickeln. So sollen in einem nächsten Schritt nun Störfallszenarien auch für die derzeit nur als Alternativrouten genutzten Autobahnabschnitte definiert werden. Auch die Integration des Verkehrsfunks in die Strategien bedarf weiterer Erfahrungswerte. Darüber hinaus gibt es konkrete Überlegungen, weitere Bundesländer einzubinden, um neue Korridore zu erschließen. Denkbar ist in diesem Zusammenhang auch die grundsätzliche Orientierung von Autobahnkorridoren an den Metropolregionen in Deutschland.

Über eine Umsetzung des vorgestellten Ansatzes einer länderübergreifenden Kooperation lässt sich zeitnah eine Effizienzsteigerung netzbeeinflussender Maßnahmen durch Erschließung zusätzlicher Alternativrouten gegenüber einer länderspezifischen Netzbeeinflussung erreichen. Neben den im Bundesverkehrswegeplan ausgewiesenen Neu- und Ausbaumaßnahmen könnte dadurch mit überschaubarem zeitlichen Horizont ein weiterer Beitrag zur nachhaltigen Verbesserung der Leistungsfähigkeit des deutschen Autobahnnetzes geleistet werden. Es sollte daher in diesem Zusammenhang auch darüber nachgedacht werden, ob nicht die bisher ausschließlich auf Freiwilligkeit aufbauende Form der Zusammenarbeit durch Sonderfinanzierungen seitens des Baulastträgers für Korridormanagement unterstützt werden kann. Dies wäre zum einen denkbar im Rahmen des Programms zur Verkehrsbeeinflussung auf Autobahnen und zum anderen durch ein Programm für die Umsetzung von Maßnahmen zur Gewährleistung einer noch zu definierenden Verfügbarkeit der Autobahnabschnitte in den betroffenen Korridoren. Hierzu könnte beispielsweise ein Level of Service definiert werden, der zu garantieren wäre und unter anderen auch über dem anderer Autobahnabschnitte liegen könnte. Im Rahmen des LDC-Pilotversuchs und erster Anwendungen des Korridormanagementansatzes in Hessen wurde nachgewiesen, dass sich kurzfristig die Kapazität im Autobahnnetz deutlich erhöhen lässt. Es liegt nun in der Verantwortung der verantwortlichen Stellen, die Zusammenarbeit mit den am Pilotprojekt beteiligten Bundesländern zu suchen. Die aktuellen Verkehrsprognosen zum Verkehrswachstum in Deutschland unterstreichen die Notwendigkeit des gemeinsamen Handelns.

Literaturverzeichnis

  1. LDC – Long Distance Corridor Demonstration Project: Pilotentwicklung und Evaluierung; Gutachten im Auftrag des Hessischen Landesamtes für Straßen- und Verkehrswesen und des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung; Frankfurt, 2007
  2. Riegelhuth, G.: Multimodale Verkehrsmanagementstrategien; BMBF-/DVWG-Seminar Integriertes Straßenverkehrsmanagement in Ballungsräumen; Nürnberg, Mai 2006
  3. Kirschfink, H.; Riegelhuth, G.; Barceló J.: Scenario analysis to support strategic traffic management in the region Frankfurt-Rhein-Main; 10th World Conference on ITS, Madrid 2003
  4. Riegelhuth, G.: Die Rolle der Verkehrszentrale Hessen im Rahmen der Mobilitätssicherung; Festschrift 50 Jahre Hessisches Landesamt für Straßen- und Verkehrswesen, Wiesbaden 2004