FGSV-Nr. FGSV 001/21
Ort Karlsruhe
Datum 11.10.2006
Titel Barrierefreiheit – Eine Herausforderung an den Straßenentwurf
Autoren Dipl.-Ing. Dirk Bräuer
Kategorien Kongress
Einleitung

In Sachen Barrierefreiheit ist viel in Bewegung. Das ist für uns alle relevant. Keiner weiß, wann ihm das Gehen schwerer fallen, die Sehkraft nachlassen wird. Unfälle sind keine Seltenheit und älter werden wir zwangsläufig. Von heute auf morgen kann jeder selbst „behindert“ sein. Schaffen wir heute „barrierefreie“ Verkehrsverhältnisse, bauen wir auch für unser eigenes Morgen in einer alternden Gesellschaft. Barrierefreiheit muss integraler Bestandteil von Straßenraumentwurf sein. Sie ist Herausforderung, keine lästige Pflicht. Normen und Regelwerke sind unverzichtbares Handwerkszeug. Aber Straßenraumgestaltung ist Abwägung verschiedener Belange, deren Ergebnis oft Kompromisse sind. Barrierefreiheit ist ein Prozess, in den wir planerisches Expertenwissen einbringen und mit dem Erfahrungswissen der Betroffenen verzahnen müssen. Wir Planer müssen zuhören und kommunizieren. Unser Anspruch an den Straßenraumentwurf muss sein, dass wir mit Wissen, Sensibilität und Kreativität eine gebaute Umwelt schaffen, die immer weniger Nutzer ausschließt.

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Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.

1  Einleitung

Viele von uns Planern haben in den letzten Jahren den Kreisverkehr als ein Element zur Gestaltung von Knotenpunkten (wieder) schätzen gelernt. Vielleicht wurde der eine oder andere aber inzwischen auch einmal von Betroffenen damit konfrontiert, was für eine komplizierte Angelegenheit Kreisverkehre für blinde Menschen sind. Deren gängige Orientierung nach dem Gehör am parallel fahrenden Verkehr ist an Kreiseln sehr schwierig. Es ist für Blinde kaum zu unterscheiden, wer im Kreis bleibt und wer herausfährt. Das Problem kann mit der Gestaltung des Kreisels oder durch die Anordnung von Bodenindikatoren bestenfalls abgemildert, nicht aber gelöst werden und es führt deutlich vor Augen, dass auch wir ungewollt mit unseren Entwürfen Gefahr laufen, für bestimmte Personengruppen neue Barrieren zu schaffen.

Barrierefreiheit ist also eine aktuelle Herausforderung an den Straßenentwurf. Das soll in diesem Beitrag anhand von drei Thesen beschrieben und an drei Beispielen aus der Praxis illustriert werden.

1.1     Woran denken wir bei Barrierefreiheit?

Was bedeutet Barrierefreiheit im Straßenraum? Uns als Praktikern fallen dabei zum Beispiel taktile und akustische Zusatzeinrichtungen an Lichtsignalanlagen ein. Wir denken an Bordabsenkungen, an Rampen und Zwischenpodeste, an Aufzüge und Niederflurfahrzeuge im ÖPNV, an Bodenindikatoren an Querungs- und Haltestellen (Bild 1).

Bild 1: Barrierefreiheit im Straßenraum

1.2     Definition von Barrierefreiheit

Die Definition von Barrierefreiheit im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz ist allgemein und anspruchsvoll zugleich. Als barrierefrei gelten Gebäude, öffentliche Räume und Informationsquellen dann, wenn sie: „[von] behinderte[n] Menschen in allgemein üblicher Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar [sind].“ Der Entwurf der DIN-Norm 18030 „Barrierefreies Bauen“ geht sogar noch einen Schritt weiter. Hier wird formuliert, dass der gebaute Lebensraum von allen Menschen mit und ohne Behinderungen in der genannten Weise und nutzbar sein muss, um als barrierefrei zu gelten.

Zwischen diesen abstrakten, anspruchsvollen Definitionen und der Praxis steht eine Menge an Literatur, die bei der Umsetzung helfen soll. Erinnert sei an diverse DIN-Normen, an die wichtigen Publikationen zur behindertengerechten Planung aus der direkt - Reihe des BMVBW, an Veröffentlichungen der Bundesländer, Kommunen und Verbände und an zahllose Fachbeiträge. Ist also alles schon gesagt zur Barrierefreiheit? Wer tiefer in dieses Feld eingestiegen ist, wird das sehr wahrscheinlich verneinen. Der Teufel steckt, wie so oft, im Detail. Viele Empfehlungen sind, wenn es konkret wird, nur schwer in die Praxis übertragbar. Außerdem kursieren nicht wenige widersprüchliche Empfehlungen. Es gibt in Detail - aber auch in grundsätzlichen Fragen - noch viel zu klären.

 

2      Herausforderung Barrierefreiheit – Drei Thesen

Im Folgenden sollen grundsätzliche Herausforderungen an uns Planer gekennzeichnet werden, vor die uns Barrierefreiheit stellt. Sie resultieren aus allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen, aus unserem Anspruch an den Entwurf von Straßenräumen und aus der Frage nach unserem Selbstverständnis. Die Herausforderungen werden zunächst thesenartig benannt und anschließend kurz belegt.

Die Thesen im Überblick

These 1: Barrierefreiheit dient nicht nur den „Anderen“, den „Behinderten“, sondern uns allen.

These 2: Barrierefreiheit ist ein Prozess, in den wir planerisches Expertenwissen einbringen und mit dem Erfahrungswissen der Betroffenen verzahnen müssen.

These 3: Barrierefreiheit muss zum integralen Bestandteil vom Straßenraumentwurf werden.

 2.1  Barrierefreiheit dient uns allen

Zur ersten These: Barrierefreiheit dient uns allen. Ein Drittel der Deutschen gilt im weiteren Sinne als mobilitätsbehindert. Übertragen auf unseren Kongress würde das bedeuten: jeder dritte von uns ist in seiner Beweglichkeit eingeschränkt, weil er alt ist oder besonders jung, sich ein Bein gebrochen hat oder im Rollstuhl sitzt, weil ihn ein Blindenhund begleitet oder weil seine Sehkraft altersbedingt nachgelassen hat. In unserer Mobilität behindert können wir sein, wenn wir mit schwerem Gepäck unterwegs sind oder wenn wir mit einem Kinderwagen vor einer Treppe und damit vor einer Barriere stehen.

Barrieren gibt es nicht per se. Barrieren entstehen im Zusammenspiel von dem was wir können mit dem was wir vorfinden, zum Beispiel im Straßenraum. Die Definitionen von Barrierefreiheit machen darauf aufmerksam und fordern, Straßen so zu bauen, dass niemand von ihrer Nutzung ausgegrenzt wird. Wie das beim Straßenentwurf zu erreichen ist, wissen wir ansatzweise für Blinde und für Menschen im Rollstuhl. Anderen Gruppen haben wir noch wenig zu bieten. Zum Beispiel stehen wir in Sachen Barrierefreiheit zum Ausgleich kognitiver Einschränkungen, also seelischer und psychischer Funktionen, ganz am Anfang.

Aber Barrierefreiheit kommt nicht „nur“ Behinderten zu Gute. Unsere individuellen Fähigkeiten variieren von der Kindheit bis ins hohe Alter. Ebenso variieren deren Einschränkungen, von leichten Störungen bis hin zu völligen Funktionsverlusten. Unfälle können jeden von heute auf morgen zum „Behinderten“ machen. Die Wahrscheinlichkeit von Einschränkungen steigt mit dem Lebensalter. Auch ohne demografische Katastrophenszenarien zu reproduzieren, kann man konstatieren, dass das Altern unserer Gesellschaft nicht zu leugnen ist, mit allen Folgeerscheinungen, wie z. B. einer zunehmenden Zahl an Menschen mit Geh- oder Sehbehinderungen. Und zu dieser wachsenden Zahl älterer Menschen gehören wir alle.

Bild 2: Barrierefreie Straßenräume und Verkehrsanlagen

Der Entwurf barrierefreier Straßenräume ist also mehr als eine gesetzliche Pflicht. Wir eröffnen Chancen: für behinderte Menschen und für unsere eigene Zukunft mit möglichst wenig Barrieren. Wir alle profitieren von stufenlosen Einstiegen in die Bahn, von ausreichend breiten Gehwegen oder von angemessenen Fußgänger-Räumzeiten (Bild 2). Wenn wir heute für „barrierefreie“ Verkehrsverhältnisse sorgen, dann bauen wir (auch) für unser eigenes Morgen in einer alternden Gesellschaft.

2.2     Barrierefreiheit ist ein Prozess und braucht unser Expertenwissen

Die zweite These: Barrierefreiheit ist ein Prozess, in den wir planerisches Expertenwissen stärker einbringen und mit dem Erfahrungswissen Betroffener verzahnen müssen. Wer von Barrierefreiheit spricht, spricht von einem Ziel, einem ideal zu erreichenden Zustand. In der Realität sind wir auf dem Weg zu immer mehr Barrierefreiheit im öffentlichen Raum. Wir befinden uns in einem Prozess, in dem immer mehr und immer neue Lösungen entstehen. Noch genauer müsste man sagen: wir befinden uns auf vielen Wegen, auf denen wir hoffen, zu mehr Barrierefreiheit zu gelangen.

Diese vielen Wege spiegelt auch die Literatur zur Barrierefreiheit wieder. Vieles, was man lesen kann, ist für den Straßenentwurf fundiert und hilfreich, manches aber auch verwirrend, in sich widersprüchlich und – bezogen auf die praktische Entwurfsarbeit – nicht zu Ende gedacht. Die Masse bringt keine Klarheit und den vielen Wegen fehlt der Rote Faden. Das hat vielfältige Gründe, allen voran der eklatante Mangel an fundierter empirischer Forschung und der Mangel an Kommunikation zwischen den Planenden und den Nutzern.

Ein paar Gedanken zum Mangel an Kommunikation: Es gibt in der Barrierefreiheit viele „Experten in eigener Sache“, die aus ihrem Alltag genau wissen, was für sie geht und was nicht. Zahlreiche Betroffene sammeln und kommunizieren mit Engagement wertvolles Erfahrungswissen zu grundsätzlichen Fragen und eine Fülle von Aussagen zu Einzelaspekten. Einige von ihnen bringen sich intensiv in die Abstimmungen vor Ort oder bundesweit ein. Daraus resultierend widerspiegelt die Literatur häufig die Erfahrungsebene der jeweils involvierten Betroffenen. Diese Erfahrungen sind unverzichtbar und sie können uns Planern helfen, Barrierefreiheit besser zu verstehen. Aber ein übergreifendes Regelwerk für den Straßenentwurf lässt sich nicht allein aus Erfahrungswissen oder einer Sammlung örtlicher Lösungen generieren. Dafür braucht es neben Empirie und Wissenschaft vor allem planerisches Expertenwissen, von dem bislang zu wenig in die Diskussion einfließt, trotz fachlich fundierter Arbeit einiger Einzelkämpfer aus unserem Fach, hervorragender Wissenschaftler ebenso wie engagierter Ingenieure, Planer und Mitarbeiter von Verwaltungen. Denn auch eine barrierefreie Kreuzung muss letztlich nach den Grundsätzen des Straßenbaus und der Straßenraumgestaltung geplant werden.

Es ist dringend geboten, dass wir unser Expertenwissen in Sachen Straßenbau viel stärker in die Diskussionen um Barrierefreiheit im Straßenraum einbringen und unser Wissen mit dem Erfahrungswissen der Betroffenen verbinden. Barrierefrei bauen kann nur der, der von beidem etwas versteht. Dazu müssen wir als Planer das Erfahrungswissen zur Kenntnis nehmen und durchdenken. Aber wir müssen eben auch unsere Argumente einbringen und die der Betroffenen selbstbewusst hinterfragen. Denn Straßenentwurf ist auch in der Barrierefreiheit eine Frage der Abwägung zwischen verschiedenen Belangen. Barrierefreiheit braucht Kommunikation – unbedingt (Bild 3).

Bild 3: Barrierefreiheit braucht Kommunikation und unser Expertenwissen

2.3     Barrierefreiheit als integraler Bestandteil von Straßenentwurf

Wir müssen beim Planen barrierefrei denken lernen. Das ist eine große Herausforderung und sie führt zur dritten These dieses Beitrags: Barrierefreiheit muss integraler Bestandteil von Straßenraumentwurf sein (Bild 4).

Wir haben einen gesetzlichen Auftrag zu Barrierefreiheit. Aber daneben – und das scheint ist ungleich wichtiger – haben wir unsere Fachkompetenz und unsere Kreativität. Wir haben gelernt, in konkreten Situationen nutzergerechte und praktikable Lösungen zu finden. In diesem Sinne sollten wir uns aktiv auch der Barrierefreiheit stellen. Die Berücksichtigung von Barrierefreiheit muss uns so selbstverständlich sein, wie es der Umgang mit Schleppkurven oder mit der Sicherheit von Verkehrsanlagen ist.

Als fachkundige Straßen- und Verkehrsplaner sind wir auf jeden Fall gut dazu in der Lage, die Belange der Barrierefreiheit zu integrieren, wenn wir sie frühzeitig mitdenken. Auch in anspruchsvollen Situationen können wir kreative Lösungen finden. Warum sollten zum Beispiel die Entwässerungsmulde oder ein Pflasterband nicht zugleich Blinden eine Orientierungshilfe in der Fußgängerzone oder über einen großen Platzbereich hinweg bieten. Wir müssen nur daran denken, dann finden wir auch Lösungen.

Bild 4: Barrierefreiheit als integraler Bestandteil von Straßenentwurf

Bei der Berücksichtigung der Belange der Barrierefreiheit von Anfang an kann viel Geld gespart werden. Sind die Straßenräume erst einmal gebaut und müssen auf Grund von Beschwerden der Nutzer nachgerüstet werden, ist das immer teurer. Und die möglichen Lösungen werden gestalterisch immer halbherzig und weniger ansprechend sein.

Straßenraumentwurf lässt sich nicht in normativen Schematismus pressen, auch nicht für die Barrierefreiheit. Was wir aber tun können, ist, uns beim Entwurf von Straßenräumen darum zu bemühen, dass möglichst wenige Personen an deren selbständiger Nutzung gehindert werden. Dafür braucht es unsere Sensibilität für die unterschiedlichen Fähigkeiten und Belange der Straßennutzer. Und diese Sensibilität muss uns durch den gesamten Entwurfsprozess hindurch begleiten.

 

3    Herausforderung Barrierefreiheit – Beispiele aus der Praxis

3.1     Beispiel 1: Bordabsenkungen

Der erste Blick soll dem Thema Bordabsenkungen gelten. Blinde müssen den Übergang zwischen Fahrbahn und Gehweg zweifelsfrei erkennen können und fordern hierfür einen Bordanschlag. Die Nutzer von Rollstühlen wünschen sich Übergänge ohne Kante. Lange Zeit wurde in Deutschland eine 3 Zentimeter hohe Bordsteinkante als unumstößlicher Kompromiss akzeptiert. Gleichwohl häuft sich die Unzufriedenheit, nicht zuletzt mit Verweis auf die wachsende Zahl an meist älteren Menschen, die mit Rollatoren unterwegs sind.

Nun gibt es in der deutschen Praxis schon länger Lösungen mit Nullabsenkung. Nur in die Fachliteratur hat das bisher keinen Einzug gehalten. Am „offiziellen“ Kompromiss wurde nicht gerüttelt. Der Entwurf der neuen Barrierefrei-DIN hat das geändert. Er enthält, angestoßen von engagierten Straßenplanern, eine Öffnungsklausel, die Nullabsenkungen erlaubt, sofern die Belange Blinder auf andere Weise ausreichend Berücksichtigung finden.

Damit sind nun auch hierzulande Lösungen in Sicht, wie sie zum Teil im Ausland langjährige Praxis sind. Der vielversprechende Ansatz ist: die Querungsstellen für Blinde und Rollstuhlfahrer werden räumlich getrennt (Bild 5). Blinde werden an eine für sie sichere Stelle mit Bordanschlag geführt. Rollstuhlfahrer können auf begrenzter Länge eine Nullabsenkung nutzen. Im Ergebnis aktueller Aktivitäten in dieser Richtung, vorangetrieben durch das Land Hessen, kamen erste Formsteine auf den Markt, die eine blindensichere Nullabsenkung gewährleisten sollen, was aber unter Blinden und deren Mobilitätstrainern noch hart umstritten ist. Für übertragbare Lösungen sind wir als Fachleute im Straßenentwurf unbedingt gefragt, hoffentlich unterstützt von breit angelegter begleitender, endlich auch empirischer Forschungsarbeit.

Bild 5: Räumlich getrennte Querungen für Blinde und Rollstuhlfahrer (Quelle: Magistrat Graz)

3.2     Beispiel 2: Bodenindikatoren

Ein weiteres Beispiel ist das Thema Bodenindikatoren. Gerade aktive Vertreter der Blinden halten die hierfür geltenden und von den Blindenverbänden seinerzeit inhaltlich maßgeblich mitgestalteten DIN 32984 für nicht zeitgemäß. Somit gehört die DIN schleunigst außer Kraft gesetzt und überarbeitet. Allerdings sollte man sich, bevor neue normative Vorgaben entstehen, fragen, was aus den vielen praktischen Erfahrungen im In- und – wie auch Betroffene oft hervorheben – im Ausland zu lernen ist.

Bei den Bodenstrukturen tendiert die Diskussion dahin, dass Noppen als Aufmerksamkeitsfelder die bessere Lösung sind. Und es wird überlegt, ob über die Art der Bodenstruktur eine Information gegeben werden kann, um welche Verkehrssituation es sich konkret handelt, also beispielsweise um eine Querungs- oder um eine Haltestelle, vielleicht sogar um welche Art der Sicherung einer Querung. Es gibt entsprechende Lösungsansätze, auch im Ausland, die aber noch nicht durchgängig überzeugen und in sich widersprüchlich sind. Hier liegt noch ein ganzes Stück Weg der Suche in Praxis und Forschung vor uns.

Bei den Rillenplatten wird der Abstand von Rille zu Rille heiß diskutiert. Die DIN lässt bislang 10 bis 20 mm zu. Die Verbände fordern erheblich größere Abstände, wie im Ausland teilweise praktiziert. Es gibt hierzu erst Versuche, aber das muss wissenschaftlich empirisch untersetzt werden. Bodenindikatoren sind zu teuer, als dass wir in kurzen zeitlichen Abständen immer wieder neue und andere Strukturen vor Ort einbauen könnten.

Wichtig ist auch, dass die Erfahrungen der Straßenbauingenieure vor Ort in den Regelwerken besser Niederschlag finden. Dazu gehört unbedingt die Bereitstellung von Bewertungshilfen für die Nutzung von Pflasterstrukturen als Bodenindikator. Es gibt Städte, die derartige Strukturen gezielt als Aufmerksamkeitsfelder einsetzen (Bild 6). Andere haben eine lange Tradition bei der taktil unterscheidbaren Trennung von Funktionsbereichen im Seitenraum. Es gibt im In- und Ausland erste Beispiele für Pflasterstreifen über die Fahrbahn hinweg.

Das Beispiel der Bodenindikatoren veranschaulicht die Prozesshaftigkeit von Barrierefreiheit sehr plastisch. Damit die Diskussion um Bodenindikatoren nicht an uns vorbeiläuft, ist unverzichtbar, dass wir uns als Straßenplaner aktiv einbringen. Dabei sollten wir offen sein für neue Ansätze, bewährte örtliche Lösungen aber durchaus auch offensiv vertreten und verteidigen.

Bild 6: Pflasterstrukturen als Bodenindikator – Eine sinnvolle Ergänzung zu Rille und Noppe

3.3     Beispiel 3: Kontrastoptimierung

Es soll an dieser Stelle noch auf Kontraste, vor allem im Seitenraum, eingegangen werden. Sehbehinderte brauchen optische Kontraste an Treppen, Kanten und Einbauten, die ihnen im Weg stehen, zum Beispiel an Pollern oder Pfosten. Egal ob städtebaulich wertvoll oder unter technischen Erwägungen gestaltet, alle Einbauten müssen so gut erkennbar sein, dass jeder von uns einen Körperkontakt rechtzeitig abwenden kann. Gegenwärtig gehört die schmerzhafte Erfahrung, einen herumstehenden Gegenstand nicht erkannt zu haben, zum Alltag vieler Sehbehinderter. Kontrastreiche Markierungen sind nötig und in einer alternden Gesellschaft mit einer zunehmenden Zahl an Sehbehinderten ein Muss. Auch hier zeigt sich: Barrierefreiheit nutzt uns allen und wir werden schneller als gedacht zu Nutznießern unserer Aktivitäten.

Bild 7: Kontrastoptimierung – Ein von Gestaltern und Planern oft vernachlässigtes Thema

Es geht also um Kontrastoptimierung (Bild 7). Aber wollen wir wirklich alle Pfosten und Masten rot-weiß markieren? Der öffentliche Raum als eine große Baustelle? Es gibt in der Literatur zwar Empfehlungen, aber bislang sehr wenig Praxis. So ist es kein Wunder, dass auch hier kaum empirische Forschung vorliegt. Es gibt keine realisierten Lösungen, die verallgemeinerbar, praktikabel und finanzierbar sind und auch noch dem entsprechen, was zur Kontrastoptimierung in der Literatur empfohlen wird (Bild 8). Und mit großer Wahrscheinlichkeit wissen viele Planer und Gestalter bislang nur ansatzweise um diese grundsätzliche Problematik.

Es ist eine große Herausforderung. Wir müssen uns dringend und konkret vor Ort über praktische Schritte zur Kontrastoptimierung verständigen. Lösungen können wir aber nur gemeinsam mit den Betroffenen finden, in der Verzahnung von planerischem Expertenwissen und Erfahrungswissen.

Bild 8: Örtliche Ansätze sind vorhanden, aber noch nicht verallgemeinerbar

 

4     Fazit

Straßenentwurf ist immer eine Abwägung verschiedener Belange. Barrierefreiheit hier als integralen Bestandteil mitzudenken ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Ziel aller Entwürfe muss es sein, möglichst wenige Personen bei der selbständigen Nutzung dieser Straßen zu behindern. Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, dem sollten wir mit einem möglichst universellen Anspruch an den Straßenentwurf gerecht werden.

Mit ihrer Fachkompetenz und Kreativität sind Straßen- und Verkehrsplaner gut dazu in der Lage, die Belange der Barrierefreiheit zu integrieren, auch in anspruchsvollen Situationen. In absehbarer Zeit wird der Umgang mit Barrierefreiheit so selbstverständlich sein wie es heute der Umgang mit Schleppkurven oder mit Fragen der Verkehrssicherheit ist. Der Arbeitskreis „Barrierefreie Verkehrsanlagen“ der FGSV arbeitet an entsprechenden Empfehlungen.

Natürlich werden Konflikte und offene Fragen bestehen bleiben, denen man sich stellen und bei denen man Kompromisse suchen muss. Gebraucht werden Einzelfalllösungen ebenso wie örtliche Regelbauweisen und Vereinbarungen auf Bundes- oder europäischer Ebene. In den Schematismus von Normen lässt sich auch barrierefreier Straßenraumentwurf nicht pressen – eben, weil er immer Abwägung ist; Abwägung hinsichtlich der individuell verschiedenen Fähigkeiten von Menschen.

Barrierefreiheit ist ein Prozess. Wir sind auf dem Weg zu immer mehr Barrierefreiheit im öffentlichen Raum, einem Weg, auf dem immer mehr und immer neue Lösungen entstehen. Es ist unverzichtbar, dass wir in diesen Prozess unser planerisches Expertenwissen einbringen und mit dem wertvollen Erfahrungswissen der Betroffenen verzahnen.

Es hat sich viel bewegt in Sachen Barrierefreiheit und wir stehen lange nicht mehr am Anfang des Weges, eines Weges für uns alle – nicht nur für die „Anderen“, die „Behinderten“. Sorgen wir uns also heute um „barrierefreie“ Verkehrsverhältnisse, dann bauen wir auch für unser eigenes Morgen in einer alternden Gesellschaft.