FGSV-Nr. FGSV 001/20
Ort Berlin
Datum 13.10.2004
Titel Zufallscharakter der Kapazität von Autobahnen und praktische Konsequenzen
Autoren Univ.-Prof. Dr.-Ing. Werner Brilon
Kategorien Kongress
Einleitung

Die Kapazität einer Autobahn wird in der Verkehrstechnik traditionell wie eine konstante Größe behandelt. Jedermann ist klar, dass dies unrealistisch ist. Dem wird dadurch Rechnung getragen, dass die Kapazität als Zufallsgröße behandelt wird. Die geeignete Verteilungsfunktion für diese Zufallsgröße ist die Weibull-Verteilung. Dies wurde mit der so genannten Product-Limit-Methode aus der Statistik der Lebensdaueranalyse festgestellt. Mit diesem Ansatz lassen sich besonders trennscharf Unterschiede zwischen verschiedenen Vergleichsfällen feststellen. Hier wird dies am Unterschied zwischen trockener und nasser Fahrbahn sowie am Einfluss einer Verkehrsbeeinflussungsanlage gezeigt. Die Untersuchungen auf der Grundlage eines sehr großen Datenumfangs zeigen, dass es im Verkehrsfluss auf Autobahnen drei typische Zustände gibt. Ebenso wird aufgezeigt, dass Autobahnen ihre höchste Effizienz erreichen, wenn sie nur zu 90% ausgelastet werden. Der statistische Ansatz ist in eine Leistungsfähigkeitsanalyse über ein ganzes Jahr eingebracht worden. Damit lassen sich anstelle bisheriger Wirtschaftlichkeitsrechnungen Konsequenzen verschiedener Maßnahmen – baulicher Art, aber auch zur Verkehrssteuerung – auf ihre Wirkungen untersuchen. Es wird angeregt, diesen statistischen Ansatz der Kapazitätsbetrachtung verstärkt in die Methoden der Straßenverkehrstechnik und der Wirtschaftlichkeitsrechnung einzubeziehen.

1 Einleitung

Traditionell wird in der Straßenverkehrstechnik die Kapazität einer Straße als eine konstante Größe behandelt. Zweifel daran sind durch die Arbeit von Ponzlet [1] begründet worden. Dort wurde deutlich, dass auf Autobahnen je nach den äußeren Bedingungen (wie trockene/nasse Fahrbahn oder hell/dunkel) unterschiedliche Kapazitäten gelten können. Andere Autoren [2 bis 5] haben darüber hinaus verdeutlicht, dass auch unter gleichbleibenden Bedingungen unterschiedliche Kapazitäten zu beobachten sind. Diese Erkenntnis wird besonders dann plausibel, wenn man sich kritisch mit der Definition der Kapazität auseinandersetzt. Traditionell wird definiert: Kapazität = maximal erreichbare Verkehrsstärke bei definierten äußeren Bedingungen. Sinngemäß gilt diese Definition in den einschlägigen Richtlinien [6 bis 8]. Den gleichen Begriffsinhalt könnte man auch so definieren: Die Kapazität ist die Verkehrsstärke, bis zu der eine akzeptable Verkehrsqualität besteht und jenseits der es zum Zusammenbruch des fließenden Verkehrs kommt. Zusammenbruch bedeutet dabei: Die Geschwindigkeiten der Fahrzeuge gehen von einem hohen Niveau des fließenden Verkehrs (z. B. auf Autobahnen ≥ 70 km/h) auf ein geringeres Niveau zurück – d. h. es erfolgt ein Übergang in Stau und zähfließenden Verkehr. Bei dieser Ausdrucksweise wird leicht klar, dass diese Kapazität (= die Verkehrsstärke beim Zusammenbruch) kein exakt festlegbarer Wert ist. Wenn z. B. eine Kapazität von C = 3600 Fz/h genannt ist, wird niemand erwarten, dass bei einer Nachfrage von 3599 Fz/h der Verkehr immer fließt und bei 3601 Fz/h immer zusammenbricht. Es ist anschaulich, dass die Verkehrsstärke des Zusammenbruchs einer gewissen Variabilität unterliegen muss. Eine Nennkapazität kann diesen Wert nur in seiner Größenordnung kennzeichnen. Systematische Untersuchungen zeigen aber, dass diese Variabilität unerwartet groß ist [9 bis 11].

2 Theoretisches Konzept

Product-Limit-Methode ohne vorgegebene Verteilungsfunktion

Die Kapazität wird in Ergänzung der bisherigen halbamtlichen Definition [6] als diejenige Verkehrsstärke definiert, die von der Verkehrsanlage bei angemessener Verkehrsqualität maximal bewältigt werden kann. Bei einer Verkehrsnachfrage jenseits der Kapazität fällt die Verkehrsqualität auf ein unzureichendes Maß zurück („Zusammenbruch“ des Verkehrs). Dieser Übergang findet im Allgemeinen plötzlich statt. Die so definierte Kapazität muss – bei realistischer Betrachtung – als eine Zufallsgröße aufgefasst werden, die in der Realität auch bei gleichbleibenden äußeren Bedingungen verschiedene Werte annehmen kann. Diese Unterschiede ergeben sich aus unterschiedlichem Verhalten der Verkehrsteilnehmer und ständig wechselnden Konstellationen, in denen die beteiligten Fahrzeuge miteinander zusammenwirken.

Wer mit Zufallsgrößen arbeiten will, muss ihre Verteilungsfunktion kennen. Deren Bestimmung ist aber keineswegs eine triviale Aufgabe. Klar ist, dass die Herleitung nicht rein mathematisch möglich ist. Sie kann nur empirisch erfolgen. Messungen des Verkehrsflusses liefern realisierte Verkehrsstärken q und zugehörige mittlere Geschwindigkeiten v. Die oben getroffene Definition legt die Interpretation nahe: Wenn v ≥ vG (= noch zu definierende Grenzgeschwindigkeit) ist, ist q kleiner oder gleich der Kapazität C. Eine direkte Beobachtung der Kapazität C ist also nicht möglich. Stattdessen sind Methoden gesucht, mit denen aus den genannten Beobachtungsmöglichkeiten trotzdem die Herleitung einer Verteilungsfunktion von C möglich ist.

Bewährt hat sich dafür eine Analogie zur Theorie der Analyse von Lebensdauerdaten. Zum Verständnis müssen wir uns in dieses Kapitel der mathematischen Statistik hineindenken [12, 13]. Dabei geht es um die statistische Verteilung für die Dauer bis zum Eintritt eines bestimmten Ereignisses (Eintritt des Todes, Versagen eines Bauteils). Diese Verteilung wird durch die so genannte Überlebensfunktion S(t) repräsentiert. Sie gibt jeweils die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass die Lebensdauer größer als t ist. Die Verteilungsfunktion F(t) für die Dauer bis zum Eintritt des Todes berechnet sich demgemäß zu:

Formel in der PDF

Die Schätzung der Überlebensfunktion ist einfach, wenn alle Individuen bis zum Eintritt des Todes beobachtet werden können. Dann gilt als Schätzung für S(t):

Formel in der PDF

Überlebensfunktionen werden meistens mit Hilfe von Experimenten begrenzter Dauer geschätzt. Dies bedeutet, dass in einem Experiment nicht alle Individuen bis zum Eintritt des Todes beobachtet werden können. Dann weiß man nur, dass die Lebensdauer solcher Individuen länger als die Dauer des Experiments ist. Diese Information ist aber wertvoll und kann für die Schätzung von Überlebens- und Verteilungsfunktionen sinnvoll verwendet werden. Solche Daten werden als zensierte Daten bezeichnet.

Für die Schätzung der Überlebensfunktion bei Vorliegen zensierter Daten stehen vorgefertigte mathematisch-statistische Lösungen bereit (vgl. z. B. [12, 13]). Eine Methode zur Schätzung der Überlebensfunktion, bei der kein bestimmter Typ einer Verteilungsfunktion vorgegeben werden muss, ist die so genannte Product-Limit-Methode (PLM). Danach lautet die Schätzung für S(t):

Formel in der PDF

Dabei wird die Zeitachse in Intervalle eingeteilt. tj ist ein charakteristischer Zeitpunkt für das Intervall j, z. B. dessen Mittelpunkt. Statt der Intervalleinteilung kann auch für jeden Zeitpunkt tj, zu dem ein „Todesfall“ eintritt, ein Faktor des Produkts in Gl. 3 gebildet werden. Dann ist dj  jeweils = 1. Alle Faktoren im Produkt nach Gl. 3 bis hin zum Zeitpunkt t werden miteinander multipliziert, um die Überlebensfunktion zu schätzen.

Zunächst hat diese Theorie nichts mit dem Verkehr auf Straßen zu tun. Sie wird erst durch eine Analogie für die Verkehrstechnik benutzbar. Dazu wird als Analogon mit dem Tod eines Individuums der Versagensfall einer Straße definiert. Dieser Versagensfall ist das Erreichen der Kapazität. Immer dann, wenn der fließende Verkehr in Stau oder zähfließenden Verkehr übergeht, tritt ein „Zusammenbruch“ ein, der das Analogon zum Tod in der Theorie der Lebensdaueranalyse bildet. Als beobachtete Versagensfälle der Verkehrsanlage werden also nur solche Zeitintervalle betrachtet, die einen Zusammenbruch nach sich ziehen. Zeitintervalle mit geringer Geschwindigkeit werden gar nicht weiter betrachtet. In der Analogie zur Lebensdaueranalyse wäre dies mit der Beobachtung eines bereits zuvor gestorbenen Individuums gleichzusetzen. Offen bleibt zunächst, wie man den Zusammenbruch des Verkehrs definiert. Möglichkeiten dazu werden später noch gegenübergestellt.

Die so definierte Kapazität steht in Analogie zur Lebensdauer. Die komplette Analogie ist in der Tabelle 1 ausführlich aufgezeigt.

Tabelle 1: Analogie zwischen Lebensdauer- und Kapazitätsanalyse

Alle Intervalle, die keinen Zusammenbruch nach sich ziehen, bei denen der Verkehr also auch im anschließenden Intervall noch mit hoher Geschwindigkeit fließt, sind zensierte Intervalle.

... (weiter im Volltext)

PDF
Volltext

Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.

... (Fortsetzung)

Man weiß dann nur, dass bei diesen Intervallen die Kapazität größer als die gemessene Verkehrsstärke ist. Intervalle, auf die ein Zusammenbruch des Verkehrs folgt, werden als unzensiert bezeichnet, da die Kapazität direkt gemessen werden kann. Stauintervalle, also solche mit geringer mittlerer Geschwindigkeit, fließen in diesen Teil der Kapazitätsanalyse nicht ein. Die Schätzung der Verteilungsfunktion der Kapazität für alle Intervalle erfolgt dann analog zu Gl. 3:

Jede beobachtete Verkehrsstärke q wird klassifiziert nach:

Formel in der PDF

F Fließender Verkehr: Der Verkehr weist im Intervall i und in i + 1 eine mittlere Geschwindigkeit oberhalb der Grenzgeschwindigkeit auf. Die Verkehrsstärke qi im Intervall i ist ein zensierter Wert. Darin steckt die Information, dass im Intervall i die Kapazität C > qi ist.

Z Es erfolgt ein Zusammenbruch: Der Verkehr fließt im Intervall i mit v > vG. Im folgenden Intervall i + 1 sinkt die mittlere Geschwindigkeit jedoch unter die Grenzgeschwindigkeit ab. Dabei handelt es sich nicht um einen Rückstau von weiter stromabwärts.

S1 Es herrscht bereits Stau vor: Im Intervall i liegt die mittlere Geschwindigkeit unter der Grenzgeschwindigkeit. Das Intervall i bietet keine Information über die Kapazität, weil der Zusammenbruch bereits zuvor erfolgte. Diese Beobachtung wird nicht weiter berücksichtigt.

S2 Es erfolgt ein Zusammenbruch vom Intervall i zum Intervall i + 1. Gleichzeitig ist der Verkehr an einem stromabwärts liegenden Querschnitt im Intervall i und/oder in i – 1 gestaut. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass der Stau beim betrachteten Querschnitt durch Rückstau vom stromabwärts liegenden Engpass verursacht wird. Das Intervall i enthält keine Information zur Kapazität und wird daher nicht weiter berücksichtigt.

In Gl. 4 erfolgt keine Klasseneinteilung mit gleichen Schritten der Verkehrsstärke q. Vielmehr wird jede beobachtete Verkehrsstärke q als eine eigene Klasse im Produkt von Gl. 4 betrachtet. dj ist deswegen stets = 1. In dem Produkt werden nur solche q-Werte betrachtet, die zur o. g. Klasse {Z} gehören. Deswegen erreicht FC(q) auch für große q nicht den Wert 1, wenn die größte beobachtete Verkehrsstärke zum Zustand F (fließend) gehört.

Durch die Verwendung von Gl. 4 lässt sich somit eine Verteilungsfunktion der Kapazität am beobachteten Querschnitt schätzen, ohne dass eine mathematische Funktion für die Verteilung vorgegeben wird.

Offen sind an dieser Stelle noch die beiden Aspekte

  • sinnvolle Dauer des Beobachtungsintervalls
  • Definition des Zusammenbruchs.

Intervalldauer

Für die Einteilung der Zeitachse in Intervalle bei der Verkehrsbeobachtung eignen sich nur geringe Intervalldauern Δ t, weil nur dann ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der beobachteten Verkehrsstärke q und dem Zusammenbruch unterstellt werden kann. Beobachtungsintervalle Δ t = 1 von Stunde Dauer erscheinen also als völlig ungeeignet für die Anwendung dieser Methode. Ideal wären 1-Minuten-Intervalle. Mit Rücksicht auf die Verfügbarkeit von verlässlichen Daten aus Dauerzählstellen und die Praktikabilität der Verwendung der Ergebnisse hat Zurlinden [9] nach Experimenten mit verschiedenen Δ t den Wert Δ t = 5 Minuten als sinnvolle Lösung festgestellt.

Definition des Zusammenbruchs

Es ist nicht ganz trivial, wie der Zusammenbruch des Verkehrs im Detail definiert wird – also das Ereignis, das in Analogie zum Tod eines Individuums steht (vgl. Tabelle 1).

Nach van Toorenburg [14] (siehe auch [4]) kann die Kapazität immer dann gemessen werden, wenn stromaufwärts des Engpasses ein Rückstau vorherrscht. Dabei werden Zusammenbrüche berücksichtigt, die vor einer unbestimmten Zeit stattgefunden haben. Im Sinne der Analogie (Tabelle 1) wäre dies so, als hätte man Individuen in die Lebensdaueranalyse einbezogen, die bereits seit längerer Zeit tot sind. Dies ist nicht sinnvoll.

Das Erreichen der Kapazität (oberer Ast des q-v-Diagramms) wird im Sinne der Analogie mit dem Ereignis „Zusammenbruch des Verkehrsflusses“ gleichgesetzt. Darunter versteht man einen Rückgang der Geschwindigkeit unter eine definierte Grenzgeschwindigkeit, also den Wechsel vom oberen in den unteren Ast des q-v-Diagramms [9 bis 11]. Berücksichtigt werden dabei nur solche Zusammenbrüche, die nicht von einem Stau verursacht werden, der von stromabwärts über den betrachteten Punkt hinauswächst.

Verkehrszusammenbrüche lassen sich durch eine Analyse von Ganglinien der Verkehrsstärke und der Geschwindigkeit identifizieren.

Als Zusammenbruch wird der Übergang des Verkehrsflusses vom fließenden in den gestauten Zustand, d. h. vom oberen in den unteren Bereich des q-v-Diagramms (Bilder 3 und 4), angesehen. Als Grenze zwischen fließendem und gestautem Verkehr wurde vG = 70 km/h definiert. Die Bilder 3 und 4 veranschaulichen die Bedeutung dieses Schwellenwertes im q-v-Diagramm.

Lage des Beobachtungsquerschnitts

Die Kapazität eines Querschnitts kann am besten dann beobachtet werden, wenn es sich bei diesem Querschnitt um einen klar erkennbaren Engpass handelt. Einen solchen Engpass zeigt das Bild 1. Bei der dargestellten Konstellation ist sichergestellt, dass der Zusammenbruch nur in Ausnahmefällen auf einen Rückstau von weiter stromabwärts zurückzuführen ist, weil stromabwärts i. d. R. eine höhere Kapazität verfügbar ist als im Engpass. Kommt es zu einer Überlastung des Engpasses, entsteht der Stau i. d. R. am Beginn des Engpassbereiches und breitet sich entgegen der Fahrtrichtung aus. Die Beobachtung der durch den Engpass verursachten Zusammenbrüche muss daher an einem Querschnitt unmittelbar vor dem Engpass erfolgen.

Bild 1: Schematische Darstellung eines Engpasses im Autobahnnetz

Wenn keine eindeutige Engpasssituation vorliegt, muss durch einen weiteren Kontrollquerschnitt sichergestellt werden, dass die an einem Messquerschnitt beobachteten Zusammenbrüche des Verkehrsflusses nicht durch einen weiter stromabwärts gelegenen Engpass verursacht werden (Bild 2). In diesem Fall wird der gesamte Streckenabschnitt zwischen dem Messquerschnitt und dem stromabwärts gelegenen Kontrollquerschnitt als fiktiver Engpass aufgefasst. Alle Zusammenbrüche, die im Abschnitt zwischen Mess- und Kontrollquerschnitt auftreten, werden diesem fiktiven Engpass zugeordnet.

Bild 2: Schematische Darstellung eines fiktiven Engpasses im Autobahnnetz

Anwendungsbeispiele

Bei den Untersuchungen von Zurlinden [9] wurden Verkehrsdaten gravierender Engpässe im bundesdeutschen Autobahnnetz erhoben und im Sinne des statistischen Ansatzes ausgewertet. Für das Jahr 2000 wurden die BAB A1(Köln-Bocklemünd nach Kreuz Köln-Nord; damals 2-streifig; Fahrtrichtung Nordost) und die BAB A3 (Kreuz Köln-Ost nach Dreieck Heumar; vor der derzeit im Bau befindlichen Erweiterung 3-streifig; Fahrtrichtung Süd) im Zuge des Kölner Rings analysiert. Es handelte sich in beiden Fällen um Streckenabschnitte, die der Engpasssituation nach dem Bild 1 entsprechen. Der Abfluss aus den Engpässen war wegen einer nachfolgenden Querschnittserweiterung (Verteilung des Verkehrs auf eine größere Anzahl von Fahrstreifen) jeweils bis auf wenige Ausnahmen frei. Dies bedeutet, dass Stauerscheinungen vor allem auf die Überlastung des als Engpass betrachteten Querschnitts selbst zurückzuführen waren.

Für das gesamte Jahr 2000 lagen die Verkehrsstärken und die mittleren momentanen Geschwindigkeiten aggregiert in 5-Minuten-Intervallen vor. Die daraus ermittelten Verkehrsstärke-Geschwindigkeits-Diagramme (q-v-Diagramme) sind in den Bildern 3 und 4 (zusammengefasst zu 5-Minuten-Intervallen) dargestellt. Es wird deutlich, dass relativ viele Messpunkte aus dem unteren Bereich des q-v-Diagramms – also im Stau und zähfließenden Verkehr – beobachtet wurden.

Für die betrachteten Querschnitte der BAB A1 und der BAB A3 wurde die Product-Limit-Methode nach Gl. 4 angewendet [9]. Daraus resultieren die in den Bildern 5 und 6 dargestellten Verteilungsfunktionen. An den beiden Bildern fällt auf, dass die Schätzungen vor Erreichen eines Wertes der jeweiligen Verteilungsfunktion von 1,0 abbrechen. Dies tritt bei der Anwendung von Gl. 4 dann ein, wenn die jeweils größte beobachtete Verkehrsstärke kein Kapazitätswert ist, also keinen Zusammenbruch des Verkehrsflusses nach sich zieht.

Die hohen Verkehrsstärkewerte werden im Gegensatz zu den niedrigen nur relativ selten beobachtet. Zum Beispiel steigert sich während des frühen morgendlichen Berufsverkehrs die Verkehrsnachfrage in den einzelnen 5-Minuten-Intervallen. Die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs ist bereits im mittleren Kapazitätsbereich nach Bild 5 und Bild 6 so hoch, dass bei mehreren aufeinander folgenden Intervallen mit ähnlicher Verkehrsnachfrage i. d. R. vor Erreichen einer sehr hohen Verkehrsnachfrage ein Zusammenbruch stattgefunden hat.

Bild 3: q-v-Diagramm der BAB A1 zwischen AS Köln-Bocklemünd und AK Köln-Nord (5-Minuten-Intervalle) [9]

Bild 4: q-v-Diagramm der BAB A3 zwischen AK Köln-Ost und AD Heumar (5-Minuten-Intervalle) [9]

Bild 5: PLM-Schätzung der Kapazitätsverteilung der BAB A1 zwischen AS Köln-Bocklemünd und AK Köln-Nord (5-Minuten-Intervalle; trockene Verhältnisse) [9]

Bild 6: PLM-Schätzung der Kapazitätsverteilung der BAB A3 zwischen AK Köln-Ost und AD Heumar (5-Minuten-Intervalle; trockene Verhältnisse) [9]

Die höhere Belastung kommt also systematisch seltener zu Stande. Demnach hängt die Gestalt der Verteilungsfunktionen im oberen Verkehrsstärkebereich stark davon ab, ob es bei diesen besonders hohen Verkehrsstärken, die meist nur sehr selten beobachtet werden, zum Zusammenbruch kam oder nicht.

Bis zu dieser Stelle ist noch nichts über den mathematischen Typ der Verteilungsfunktion FC(q) ausgesagt. Entsprechend ergibt sich nach Gl. 4 FC(q) nicht als eine Funktionsgleichung, sondern als eine Menge von Wertepaaren {q, FC(q)}, die graphisch in der Art von Bild 5 und Bild 6 dargestellt werden können. Der Nachteil, dass die Funktion FC(q) abbricht, ist dabei unvermeidlich.

Product-Limit-Methode für vorgegebene Verteilungsfunktion

Statt der verteilungsfreien Schätzung (Gl. 4) ist es auch sinnvoll, eine Funktion FC(q) mit ihrem mathematischen Typ und ihren Parametern zu schätzen. Gesucht wird also ein Funktionstyp, der zur Beschreibung der Product-Limit-Schätzung für die Kapazitätsverteilung am ehesten geeignet ist. Die Theorie der Lebensdaueranalyse stellt auch dazu eine geeignete Methode bereit. Der am besten passende Funktionstyp und die entsprechenden Parameter lassen sich mit Hilfe einer Maximum-Likelihood-Schätzung ermitteln. Die Likelihood-Funktion erreicht ihr Maximum bei Verwendung des am besten geeigneten Funktionstyps und der optimal passenden Parameter.

Die Likelihood-Funktion lautet:

Formel in der PDF

Es wurde eine Vielzahl von Funktionstypen hinsichtlich ihrer Eignung zur Beschreibung der Messdaten getestet (z. B. Normalverteilung, Weibull-Verteilung, Gammaverteilung) [9]. L* (Gl. 5) wird in beinahe allen Fällen dann maximal, wenn die Weibull-Verteilung verwendet wird. Die Weibull-Verteilung stellt sich demnach sehr deutlich als der mathematische Funktionstyp heraus, der die Kapazität eines Autobahnabschnitts am besten beschreibt.

Die Weibull-Verteilung hat die folgende Dichtefunktion f(x) und die Verteilungsfunktion F(x):

Formel in der PDF

Der Erwartungswert E(C) der Verteilung FC(q) eignet sich als Nennwert der Kapazität (oder „nominale“ Kapazität), wenn man die Verteilungsfunktion mit einem einzelnen Wert kennzeichnen will. Dieser Nennwert könnte mit den bisher üblichen festen Kapazitäten verglichen werden.

Setzt man die Funktionsterme für die Dichte- und die Verteilungsfunktion in Gl. 5 ein, so folgt daraus für die Likelihood-Funktion

Formel in der PDF

Bei Anwendung auf eine Stichprobe von beobachteten Wertepaaren (qi, di) können durch Maximierung dieser Funktion diejenigen Parameter a und b der Weibull-Verteilung ermittelt werden, die die Messdaten am besten beschreiben. In diese Optimierung sind bei den Messstellen (A1 und A3) jeweils alle 5-Minuten-Intervalle des gesamten Jahres 2000 eingeflossen. Die resultierenden Verteilungsfunktionen und den Vergleich mit der Product-Limit-Schätzung (nach Bild 5 und Bild 6) zeigen die Bilder 7 und 8. Hier zeigt sich, dass die Weibull-Verteilung die beobachtete Verteilung der Kapazität in 5-Minuten-Invervallen sehr gut beschreibt. Die ermittelten Parameter der Verteilung in Bild 7 und Bild 8 gehen aus der Tabelle 2 hervor.

Bild 7: Schätzungen der Kapazitätsverteilung für die BAB A1 zwischen AS Köln-Bocklemünd und AK Köln-Nord (5-Minuten-Intervalle; trockene Verhältnisse) [9]

Bild 8: Schätzungen der Kapazitätsverteilung für die BAB A3 zwischen AK Köln-Ost und AD Heumar (5-Minuten-Intervalle; trockene Verhältnisse) [9]

Tabelle 2: Parameter der Verteilungsfunktion der Kapazität für die BAB A1 und die BAB A3 bei einer Messung in 5-Minuten-Intervallen [9]

Somit liegt die nominale Kapazität in 5-Minuten-Intervallen auf der zweistreifigen BAB A1 bei 4400 Kfz/h (Bild 7), während die dreistreifige BAB A3 im Mittel 7000 Kfz/h in 5-Minuten-Intervallen erreicht (Bild 8). Diese Resultate liegen deutlich über den Werten, die man aus den q-v-Diagrammen (Bilder 3 und 4) abgreifen würde (vgl. Bild 9). Zur Erklärung des Unterschiedes sollte man sich an die Definition der Verteilungsfunktion FC(q) erinnern: Mit der Wahrscheinlichkeit FC(q) findet ein Verkehrszusammenbruch statt, wenn die nachgefragte Verkehrsstärke in einem 5-Minuten-Intervall den Wert q erreicht. Die Tatsache, dass in den q-v-Diagrammen (Bilder 3 und 4) diese hohen Stärken selten beobachtet werden, liegt darin begründet, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Zusammenbruch bereits bei geringerer Stärke in den vorherigen Intervallen geschehen ist. Im Allgemeinen ist also die neue nominale Kapazität (Median der Funktion FC(q) in 5-Minuten-Intervallen) größer als die konventionelle Kapazität (ermittelt aus q-v-Diagrammen in 1-Stunden-Intervallen). Der Unterschied liegt bei einem Faktor von ca. 1,2.

Bild 9: Vergleich der Kapazitätsverteilung für die BAB A1 mit den Messpunkten im q-v-Diagramm und der q-v-Kurve nach van Aerde (5-Minuten-Intervalle; trockene Verhältnisse) [16]

Umrechnung zwischen Intervalldauern

Der Unterschied zwischen Kapazitäten, die auch bei der konventionellen Denkweise aus verschiedenen Längen der Beobachtungsintervalle entstehen, wurde als Phänomen schon früher von Kelle r, Sachse [15] oder Ponzlet [1] beschrieben. Er kann mit dem neuen stochastischen Konzept erklärt werden. F5(q) (Gl. 7) ist die Wahrscheinlichkeit, dass in einem 5-Minuten-Intervall bei der Verkehrsstärke q ein Zusammenbruch entsteht. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, dass während einer Stunde kein Zusammenbruch auftritt (vgl. auch [3]):

Formel in der PDF

Dies gilt, weil die Staufreiheit während der ganzen Stunde dann gegeben ist, wenn sowohl das erste 5-Minuten-Intervall als auch das zweite usw. als auch das 12. Intervall ohne Verkehrszusammenbruch bleiben. Dabei wird statistische Unabhängigkeit der einzelnen Ereignisse vorausgesetzt. Diese Annahme wird als gerechtfertigt angesehen, weil (außer der Verkehrsstärke q) kein Grund dafür erkennbar ist, dass die erstmalige Auslösung eines Zusammenbruchs zusammenhängt mit der Frage, ob in den 5 Minuten zuvor ein Stau entstanden ist oder nicht. (Die Betonung liegt auf „erstmalig“.)

Mit der Weibull-Verteilung nach Gl. 7 erhalten wir daraus für die Wahrscheinlichkeit, dass in einer Stunde mindestens ein Zusammenbruch entsteht.

Dies ergibt ebenfalls eine Weibull-Verteilung mit den Parametern (a, r · b) mit r = 12(–1/a). Weil a in der Größenordnung von 13 liegt (s. Tabelle 2), ist r ≈ 0,83 ≈ 1/1,2. Mit Gl. 12 beträgt deshalb die mittlere stündliche Kapazität, die sich aus der Weibull-Verteilung ergibt, etwa das 0,83-fache der mittleren Kapazität aus 5-Minuten-Intervallen.

Noch allgemeiner kann man Gl. 12 schreiben als

Dabei kann es im Sinne einer Verallgemeinerung auch zugelassen werden, dass T/Δ nicht ganzzahlig ist. Die so errechnete Auswirkung der Intervalllänge auf die Verteilungsfunktion FT(q) (Gl. 13) ist für 2- und 3-streifige Richtungsfahrbahnen von Autobahnen im Bild 10 veranschaulicht. Der Faktor r, um den die mittlere Kapazität (Gl. 13) durch die Intervalldauer verändert wird, ist im Bild 11 veranschaulicht. Dabei ist einmal von einer Ermittlung in Δ = 1 Minute und zusätzlich von Δ = 5 Minuten ausgegangen worden. In beiden Bildern ist a = 13 angesetzt worden.

Bild 10: Umrechnung der Kapazitätsverteilung von 5-Minuten-Intervallen (Nr. 2 und 4) auf 1-Stunden-Intervalle (Nr. 1 und 3) für 2-streifige (Nr. 1 und 2) und 3-streifige (Nr. 3 und 4) Richtungsfahrbahnen.

Bild 11: Umrechnungsfaktoren für den Erwartungswert der Kapazität bei verschiedenen Intervalllängen (Δ = Basis-Intervalllänge)

3 Kalibrierung für Autobahnen

Die Schätzung von Verteilungsfunktionen der Kapazität ist zunächst am Beispiel von Engpässen im Sinne von Bild 1 von Zurlinden [9] entwickelt worden, wie dies im Abschnitt 2 dargestellt ist. Fraglich ist dabei, ob dieses stochastische Konzept der Kapazität auch auf Autobahnabschnitte ohne eindeutige Engpasssituation anwendbar ist. Dieser Frage ist die Untersuchung von Regler [11] auf der Basis von umfangreichen Zähldaten 3-streifiger Richtungsfahrbahnen von Autobahnen in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern (15 Streckenabschnitte mit Zähldaten gemäß Bild 2, jeweils über 6 bis 12 Monate in 5-Minuten-Intervallen) nachgegangen.

Die Identifikation von Zusammenbrüchen (Zustand „Z“, siehe Abschnitt 2) erfolgte jeweils durch Analyse der Ganglinien der Verkehrsstärke und Geschwindigkeit eines Messquerschnitts und eines stromabwärts gelegenen Kontrollquerschnitts (zur Prüfung auf Zustand „S2“) gemäß Bild 2.

Regler [11] hat aufgezeigt, dass mit diesem Ansatz beliebige Streckenabschnitte, d. h. auch mit gleichförmiger Streckencharakteristik ohne ausgeprägte Engpasssituation, analysiert werden können (vgl. Tabelle 3). Allerdings sind besonders umfangreiche Verkehrsdaten erforderlich, um eine ausreichende Anzahl an Zusammenbrüchen des Verkehrsflusses auswerten zu können. Selbstverständlich kann die Analyse nur auf hochbelasteten Abschnitten durchgeführt werden, auf denen Zusammenbrüche des fließenden Verkehrs in nennenswerter Häufigkeit auftreten.

Tabelle 3: Parameter der Weibull-Verteilung für 15 Querschnitte 3-streifiger Richtungsfahrbahnen [11]

Die Ergebnisse in der Tabelle 3 enthalten alle Messintervalle und damit alle möglichen Umfeldbedingungen (hell/dunkel, trocken/nass). Die Ergebnisse für 5-Minuten-Intervalle sind aus den Zähldaten ermittelt. An die Verteilungsfunktion nach Gl. 4 wurde eine Weibull-Verteilung (Gl. 7) über eine Minimierung der Fehlerquadrate angepasst. Die Parameter a und b sind in Tabelle 3 angegeben. Daraus sind die dargestellten 1-Stunden-Werte mit Gl. 12 errechnet worden (vgl. die beiden rechten Spalten der Tabelle 3).

Als ganzzahlige Mittelung ergibt sich der Formparameter zu a = 13 . Diese Größenordnung scheint charakteristisch zu sein. Dies bedeutet (Gl. 8 und 9)

Formeln in der PDF

Somit beträgt der Wert der Standardabweichung ca. 10 % des Erwartungswertes.

Im Mittel ergibt sich für die Nenn-Kapazität bei stündlicher Betrachtung C = 5400 Kfz/h. Allerdings bestehen zwischen den Messstrecken Unterschiede, die zunächst nicht weiter erklärbar sind und die wohl auf Besonderheiten der Strecken zurückzuführen sind. Das Bild 12 gibt einige Verteilungsfunktionen an, die durch die Werte in Tabelle 3 gekennzeichnet sind. Die gleichen Unterschiede ergaben sich auch bei herkömmlicher Bestimmung der Kapazität aus q-v-Diagrammen (Verfahren nach [16], vgl. [11]). Die Gegenüberstellung im Bild 13 zeigt den Zusammenhang zwischen den stochastisch ermittelten Nenn-Kapazitäten (Erwartungswert der Kapazität für Stunden-Intervalle; umgerechnet mit Gl. 12 aus 5-Minuten-Intervallen) und den konventionell aus q-v-Diagrammen geschätzten Kapazitäten. Hier zeigt sich, dass die nach der stochastischen Betrachtungsweise ermittelten Kapazitäten um ca. 10 % über den Nenn-Kapazitäten nach der konventionellen Denkweise liegen. Demgemäß lässt sich eine völlige Übereinstimmung zwischen der konventionellen Denkweise und dem neuen Ansatz nicht herstellen.

Bild 12: Beispiele für einige der Verteilungsfunktionen nach Tabelle 3 (3 Fahrstreifen; 5-Minuten-Intervalle)

Bild 13: Zusammenhang zwischen der Kapazität aus dem q-v-Diagramm und dem Erwartungswert der Kapazität nach der PLM [11]

Die neue Methode lässt sich zur Beurteilung von Unterschieden der Kapazitäten einsetzen. Hierbei werden nicht einzelne Schätzwerte verglichen, wie das bei konventionellem Vorgehen notwendig ist. Deren Unterschiede sind vielfach nicht mit hinreichender statistischer Signifikanz abzusichern. Stattdessen werden ganze Verteilungen geschätzt. Dadurch können Unterschiede trennschärfer statistisch beurteilt werden.

So haben Zurlinden [9] und Regler [11] unter Anwendung der neuen Methode den Einfluss äußerer Umstände, wie trocken/nass oder hell/dunkel, auf die Verteilung der Kapazitäten untersucht. Ponzlet [1] hatte mit konventioneller Vorgehensweise festgestellt, dass sowohl Nässe als auch Dunkelheit die Kapazität gegenüber dem Normalzustand (trocken + hell) verringern. Mit der stochastischen Methode und einem großen Datenumfang konnte Regler [11] deutlich aufzeigen, dass die Dunkelheit nicht zu einer Kapazitätsverminderung führt. Im Gegenteil, die Daten sprechen eher für eine um bis zu 3 % erhöhte Kapazität bei Dunkelheit. Dies kann auch an der Fahrer- und Fahrzeugpopulation liegen, die zwischen Tag und Nacht systematische Unterschiede aufweisen könnte. Sehr deutlich wird aber, dass bei nasser Straße die Kapazität um ca. 11 % geringer ist als auf trockener Straße (Bild 14).

Bild 14: Kapazitätsverteilung auf der BAB A5 (Querschnitt BAB A5-8): Vergleich der trockenen Fahrbahn mit dem Zustand bei Nässe (3 Fahrstreifen, 5-Minuten-Intervalle) [11]

4 Umrechnung der HBS-Werte

Die bisherigen Herleitungen verdeutlichen, dass konventionell ermittelte Kapazitäten eine Entsprechung bei den stochastisch geschätzten Nenn-Kapazitäten finden. Dies ist Anlass dafür, auch den umgekehrten Weg zu gehen. Dabei wird unterstellt, dass der Parameter a mit dem Wert bei unbeschränkter zulässiger Geschwindigkeit eine übliche Größe annimmt. Dann lässt sich aus den standardisierten Kapazitäten nach dem HBS [7] (dort Tabelle 3-2 bis 3-6) die Verteilung der Kapazitäten bei einem stochastischen Verständnis schätzen. Das Bild 15 zeigt das Ergebnis einer ebenen 3-streifigen Richtungsfahrbahn. Eine vollständige Zusammenstellung für alle im HBS dargestellten Fälle findet sich in [11].

Bild 15: Kapazitätsverteilung für 3-streifige Richtungsfahrbahnen (innerhalb von Ballungsgebieten, ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, Längsneigung s ≤ 2 %) für Verkehrsdaten in 5-Minuten-Intervallen [11]

Die Abbildungen sind so zu verstehen: Auch wenn im Mittel ein Zusammenbruch des fließenden Verkehrs bei ca. 7250 Kfz/h (10 % Schwerverkehr) zu erwarten ist, kann in 15 % der Fälle der Zusammenbruch bereits bei ca. 6500 Kfz/h erfolgen (15 %-Percentile). In 85 % der zu beobachtenden Intervalle ist bei einer Nachfrage von ca. 7800 Kfz/h (= 85 %-Percentile der Kapazität) ein Zusammenbruch erfolgt. Andererseits kann in 15 % der Intervalle aber diese hohe Belastung auch noch im fließenden Verkehr in einem 5-Minuten-Intervall bewältigt werden.

5 Unfallstellen

Verkehrsunfälle können teilweise erhebliche Auswirkungen auf den Verkehrsablauf auf Autobahnen haben. Dabei sind – je nach Verkehrsbelastung und Unfallschwere – geringe Beeinträchtigungen (kurze Dauer, hohe Restkapazität) bis hohe Auswirkungen (bis zu mehreren Stunden, geringe Restkapazität bis hin zu zeitweiser Vollsperrung der Richtungsfahrbahn) zu erwarten.

Regler [11] untersuchte am Beispiel eines Autobahnabschnitts der BAB A5 bei Frankfurt die Auswirkungen von Verkehrsunfällen auf den Verkehrsablauf. Dabei wurden für die Dauer der Beeinträchtigung sowie für die Restkapazität des gestörten Querschnitts typische Verteilungsfunktionen in Abhängigkeit von verschiedenen Unfallkenngrößen angegeben.

Insgesamt wurden die Daten von 200 Unfällen ausgewertet, bei denen es in 65 % der Fälle (129 Unfälle) zu Stauerscheinungen infolge des Unfalls kam. Bei 5 % der Unfälle wurde eine Vollsperrung der Richtungsfahrbahn vorgenommen, die im Mittel 76 min dauerte.

Bei einer teilweisen Blockierung der Fahrbahn steigt die Dauer der Beeinträchtigung durch den Unfall mit zunehmender Unfallschwere, steigender Anzahl der Beteiligten sowie bei Beteiligung von Lkw.

Das Bild 16 zeigt die Verteilung der Störungsdauer in Abhängigkeit von den Unfallfolgen.

Bild 16: Dauer der Einschränkung infolge eines Unfalls in Abhängigkeit von den Unfallfolgen [11]

Wird stromaufwärts einer Unfallstelle ein Stau festgestellt, so kann stromabwärts der Unfallstelle die Kapazität des gestörten Querschnitts gemessen werden (nur an Abschnitten ohne Ein- und Ausfahrten). Es hat sich gezeigt, dass die Restkapazität mit zunehmender Unfallschwere, steigender Anzahl der Beteiligten sowie bei Beteiligung von Lkw geringer ist.

Die Restkapazität des gestörten Querschnitts in Abhängigkeit von den Unfallfolgen zeigt das Bild 17.

Bild 17: Verteilungsfunktion für die Restkapazität der Strecke infolge eines Unfalls in Abhängigkeit von den Unfallfolgen (Verkehrsdaten in 1-Minuten-Intervallen) [11]

Neben der direkt vom Unfall betroffenen Richtungsfahrbahn wurden auch die Auswirkungen von Unfällen auf die Gegenfahrbahn untersucht. Dabei kam es bei 24 der untersuchten 200 Unfälle (12 %) zu Beeinträchtigungen auf der Gegenfahrbahn. Es wird angenommen, dass die geringere Kapazität der eigentlich ungestörten Fahrbahn in der Neugier der Autofahrer (im Volksmund „Gaffer-Effekt“) begründet ist. Die Höhe der Beeinträchtigungen hängt dabei wahrscheinlich auch von der Streckenführung (Längsneigung) sowie der Ausbildung des Mittelstreifens (Bepflanzung oder zusätzlicher Sichtschutz) ab. Für die untersuchte Strecke betrug die Restkapazität im Mittel 88 % der ursprünglichen Verkehrsstärke. Dabei konnte kein Zusammenhang zur Beeinträchtigung der direkt betroffenen Fahrbahn oder den Unfallkenngrößen hergestellt werden.

6 Dynamik im Fundamentaldiagramm

Bisher sind Kapazitäten im oberen Arm des Verkehrsstärke-Geschwindigkeits-Diagramms (q-v-Diagramm) – also im fließenden Verkehr – betrachtet worden. Zu bedenken ist aber auch das Leistungsvermögen der Autobahn im gestauten Zustand.

Es ist bekannt, dass innerhalb des q-v-Diagramms eine bestimmte Dynamik (= zeitliche Reihenfolge der Messpunkte) typisch ist. T reiterer und Myers [17] haben als erste eine Hysterese festgestellt. Dies bedeutet: Auf dem Weg vom fließenden zum gestauten Verkehr wird eine andere Kette von Punkten im q-v-Diagramm durchlaufen als umgekehrt bei der Stauauflösung (Bild 18). Zuletzt haben Kim und Keller [18] solche Phänomene beschrieben und dabei sechs typische Situationen unterschieden. Diese Dynamik ist von Regler auf mehreren Autobahnstrecken mit einem großen Datenumfang untersucht worden. Mehr als 120 Zusammenbrüche des fließenden Verkehrs sowie die Erholung des Verkehrsflusses wurden analysiert. Es zeigte sich, dass im Verkehrsfluss auf Autobahnen drei Zustände zu unterscheiden sind.

Bild 18: Hysterese im q-v-Diagramm

  1. Fließender Verkehr: Die mittlere Geschwindigkeit liegt über 70 km/h bei geringer Verkehrsdichte (z. B. < 25 Fz/km pro Fahrstreifen). Hier werden Verkehrsstärken zwischen 0 und der Kapazität erreicht. Im Fundamentaldiagramm (q-k-Diagramm) beschreibt dieser Zustand den ansteigenden Ast.
  2. Übergangsbereich: Es gibt eine typische Zone im q-v-Diagramm bei ca. 60 km/h mit Verkehrsstärken nahe bei der Kapazität. Dieser Zustand wird hier als „synchroner Verkehr“ bezeichnet, obwohl klar ist, dass andere Autoren (z. [19]) dieses Wort mit einem abweichenden Begriffsinhalt versehen haben.
  3. Gestauter Verkehr: Hier liegt die mittlere Geschwindigkeit deutlich unter 60 km/h bei hoher Verkehrsdichte Die Verkehrsstärke q liegt deutlich unter der Kapazität bis herunter zu 0, d. h. stehende Fahrzeugschlangen.

Bild 19: 3 Zustände des Verkehrsflusses im q-v-Diagramm

Die Übergänge zwischen den Zuständen folgen typischen Mustern. Das Bild 20 zeigt Übergänge von Zustand 1 nach 2 und zurück nach 1, ohne dass der gestaute Verkehr (Zustand 3) erreicht wurde. Der Zusammenbruch des fließenden Verkehrs geschah bei relativ hoher Verkehrsstärke. Der Zustand stabilisierte sich im synchronen Verkehr bei ca. 60 km/h. Der Rücksprung zum fließenden Verkehr geschah immer bei deutlich geringerer Verkehrsstärke als der Zusammenbruch. Hier zeigt sich also eine Hysterese. Demgemäß sind an der Kapazitätsgrenze Übergänge im Verkehrszustand typisch, die nicht auf gleichem Weg zurückgebildet werden können.

Bild 20: Muster der Verkehrsdynamik bei Übergängen zwischen Zustand 1 und 2 (3-streifige BAB A 5 nördlich Frankfurt, 5-Minuten-Intervalle)

In Ergänzung dazu zeigt das Bild 21 solche Verkehrszusammenbrüche, die bis zum Zustand 3 gingen. Auch hier geht der fließende Verkehr im Bereich der Kapazität zunächst in den synchronen Verkehr über. Von dort aus kann er die ganze Bandbreite des Staus erreichen. Vom gestauten Verkehr aus führt der Weg nicht direkt zurück zum Zustand 1. Stattdessen wird zuerst der Zustand 2 (synchroner Verkehr) durchlaufen.

Bild 21: Muster der Verkehrsdynamik in Fällen, in denen alle 3 Zustände auftreten (3-streifige BAB A 5 nördlich Frankfurt, 5-Minuten-Intervalle)

Diese Dynamik der Verkehrszustände zeigt in allen untersuchten Fällen eine große Ähnlichkeit. Sie wird deswegen als typisch für den Verkehrsfluss auf Autobahnen angesehen.

Man muss davon ausgehen, dass sich diese dynamischen Effekte als Folge der Verhaltensweisen der Fahrer (Abstände, Geschwindigkeiten, Bremsen, Beschleunigungen) ergeben. Es ist zu überprüfen, welche Verhaltenskomponenten für die einzelnen Übergänge besonders wesentlich sind. Möglicherweise könnten die Fahrer und Fahrzeuge so beeinflusst werden, dass sich wünschenswerte Zustände bevorzugt ausbilden. Wünschenswert ist eine Steuerung, die dem synchronen Verkehr die gleiche oder sogar eine höhere Kapazität ermöglicht als dem fließenden Verkehr. In einem Fall (BAB A 3 Kölner Ring, gemeinsamer Verlauf von BAB A 3 und BAB A 4, vor dem derzeitigen Umbau) wurden z. B. im Zustand 2 teils höhere Verkehrsstärken als im fließenden Verkehr festgestellt – möglicherweise eine Folge der dort vor dem derzeitigen Umbau durchgeführten Verkehrsbeeinflussung.

Der Unterschied zwischen den Verkehrsstärken beim Zusammenbruch und bei der nachfolgenden Erholung lag auf den 3-streifigen Richtungsfahrbahnen zwischen 500 und 1 500 Kfz/h. Die Verkehrsstärken im Zustand 2 (synchron) lagen durchweg unter den beobachteten Kapazitäten. Dieser Effekt wird in der internationalen Literatur als „capacity drop“ bezeichnet. Er wurde erstmals von Banks [20] erwähnt und ist inzwischen verschiedentlich beschrieben worden [21, 1].

Regler [11] hat eine Methode dargestellt, mit der auch die Kapazität im Zustand 2 statistisch analysiert werden kann. Auch hierbei ergibt sich eine Verteilungsfunktion der Kapazität. Das Bild 22 zeigt dazu ein Beispiel im Vergleich zur Kapazität im Zustand 1. Es ist deutlich zu erkennen, dass die Kapazität im Zustand 2 (Stauauflösung) insgesamt um ca. 500 Kfz/h unter der Kapazität im fließenden Verkehr liegt.

Bild 22: Kapazitäten im Zustand 1 und 2 für die BAB A5 (Querschnitt A 5-7, 3 Fahrstreifen, 5-Minuten-Intervalle)

Auf den 15 Strecken (vgl. Tabelle 3) wurde ein capacity drop zwischen 400 und 2 500 Kfz/h mit einem Mittel von 1 180 Kfz/h ermittelt. Alle Versuche, Regelmäßigkeiten innerhalb dieser Werte oder Zusammenhänge mit anderen Einflüssen festzustellen, führten nicht zum Erfolg, obwohl bei dem umfangreichen ausgewerteten Material solche Erkenntnisse erwartet werden konnten. So besteht die Hypothese, dass der capacity drop chaotische Eigenschaften haben könnte. Solche Vermutungen wurden auch schon von anderen Autoren [19] geäußert.

7 Ganzjahresanalyse

Das Leistungsvermögen der Autobahnen ist Grundlage für deren Bemessung. Was aber ist unter dem Begriff der Bemessung zu verstehen? Eine genormte Definition des Begriffes existiert nicht, obwohl es ein „Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen“ [7] gibt. Man könnte vielleicht so definieren: Bemessung ist die Festlegung der Abmessungen für die Elemente einer Straße. Für Streckenabschnitte von Autobahnen wird also nur die Anzahl der Fahrstreifen festgelegt. Traditionell geschieht dies dadurch, dass man für eine einzige Stunde die prognostizierte Nachfrage-Verkehrsstärke qN mit der Kapazität C (beide in der Einheit Kfz/h) vergleicht [7, 8]. Für die eine ausgewählte Spitzenstunde soll dabei eine ausreichende Verkehrsqualität (z. B. ausgedrückt in der Reisegeschwindigkeit in km/h; vgl. Tabelle 3-1 in [7]) sichergestellt sein. Laut HBS [7] ist dies bei einem Auslastungsgrad a = qN/C von 0,9 (QSV = D) sichergestellt. Bei dieser Spitzenstundenbetrachtung wird eine extreme Vereinfachung vorgenommen und es werden erhebliche Fehlerquellen in Kauf genommen:

a) Sowohl qN als auch C können systematisch falsch eingeschätzt sein. Trotzdem hängt von diesen zwei Zahlen eine folgenschwere Entscheidung

b) Sowohl qN als auch C unterliegen über die Zeit gesehen systematischen und stochastischen Schwankungen.

c) Eine einzelne Spitzenstunde kann die Variabilität der Verkehrsnachfrage innerhalb des Tages, einer Woche oder gar eines ganzen Jahres nicht sinnvoll repräsentieren.

Deswegen wurde in [22] vorgeschlagen, anstelle des Vergleichs von qN und C während nur einer Stunde diesen Vergleich für ein ganzes Jahr vorzunehmen.

Dies ist keineswegs neu. Der ganzjährige Vergleich von Nachfrage und Kapazität wird bereits seit vielen Jahren im Zuge der Wirtschaftlichkeitsrechnung (zz. aktuelles Regelwerk: EWS [23]) verlangt. Dabei werden aber in der bisherigen Form ebenfalls erhebliche Vereinfachungen vorgenommen:

d) Die Ganglinie der Verkehrsnachfrage qN innerhalb eines Jahres wird lediglich durch 15 Stufen mit konstanter Verkehrsstärke nachgebildet. Insbesondere die extremen Spitzen werden dadurch in ihrer Wirkung gar nicht berücksichtigt. Sie gehen nicht in die Rechnung ein.

e) Die Reihenfolge der einzelnen nachgefragten Verkehrsstärken qN wird nicht berücksichtigt. Diese Reihenfolge wird im Fall von Überlastungen aber maßgebend für die verkehrlichen Auswirkungen.

f) Die Kapazität C wird als konstant angenommen.

g) Wirkungen von Unfällen, Störungen und Baustellen bleiben unberücksichtigt. Alle drei Ursachen von Stauungen sind aber charakteristisches Wesensmerkmal des Betriebs von Autobahnen.

Die Vereinfachungen (insbesondere d) und g)) führen systematisch zu einer erheblichen Unterschätzung der Auswirkungen von zeitweisen Überlastungen. Dies kann ein Grund dafür sein, dass es mit Hilfe der EWS [23] nur schwer gelingt, den Nachweis der Wirtschaftlichkeit von Straßenbaumaßnahmen zu führen.

Vom Grundsatz her ist im Vergleich zum HBS-Verfahren die Wirtschaftlichkeitsrechnung das stärkere Instrument für die Dimensionierung der Straßen, weil hier die verkehrlichen Wirkungen des Ausbauzustands mit den erforderlichen Aufwendungen (Finanzen, Umweltwirkungen) verglichen werden – und dies über die verschiedenen Nutzungsintensitäten im Rhythmus von Tagen, Wochen und über das Jahr hinweg.

Unter dem Eindruck dieser Überlegungen ist von Zurlinden [9] ein Verfahren zur ganzjährigen Gegenüberstellung von Nachfrage (qN) und Leistungsvermögen (dargestellt durch die Kapazität C) entwickelt worden (Bild 23).

Bild 23: Ganglinie der Verkehrsnachfrage und der Kapazität – Ausschnitt aus der Ganzjahresanalyse

Ein einfacher Vergleich fester Zahlenwerte ist dabei nicht ausreichend, weil stochastische Eigenschaften – z. B. der Kapazität, aber auch der Nachfrage und des Unfallgeschehens –berücksichtigt werden sollen. Deswegen kommt als Analysemethode nur ein Monte-Carlo-Verfahren in Betracht. Dies ist eine stochastische Simulation, in der alle bedeutenden Variablen mit ihrer zufälligen Schwankungsbreite durch einen so genannten Zufallsgenerator (ZFG) erzeugt werden. Für die so erzeugten Situationen werden die verkehrlichen Wirkungen ermittelt. Diese Rechnung wird häufig wiederholt und die in der Realität zu erwartenden Wirkungen ergeben sich als Mittel aller Wiederholungen.

Das entwickelte Verfahren ist gekennzeichnet durch:

  1. Die systematischen Schwankungen der nachgefragten stündlichen Verkehrsstärken qN werden über ein ganzes Jahr berücksichtigt. Dem werden zufällige Schwankungen der Nachfrage-Verkehrsstärke qN mit einer zeitlichen Auflösung von 5 Minuten überlagert.
  2. Die systematischen Schwankungen der Kapazität (Steigungen, nass/trocken) werden berücksichtigt. Dazu wird mit Hilfe örtlicher und über das Jahr veränderlicher Regenwahrscheinlichkeiten für jede Stunde des Jahres durch einen Zufallsgenerator entschieden, ob es trocken oder nass ist.
  3. Die zufälligen Schwankungen der Kapazität nach Abschnitt 2 bis 4 werden berücksichtigt. Dies erfordert eine Auflösung der Zeitachse in 5-Minuten-Intervalle über ein ganzes Jahr hinweg.
  4. Der so genannte „capacity drop“ wird berücksichtigt. Gemeint ist damit die Tatsache, dass sich Staus mit einer Verkehrsstärke auflösen, die geringer ist als die Kapazität C im fließenden Verkehr.
  5. Unfälle und deren Beeinträchtigungen des Verkehrsflusses (bis hin zur Vollsperrung) werden anhand vorliegender Erfahrungen zufällig erzeugt.
  6. Auch Störungen des Verkehrsflusses durch Pannenfahrzeuge [24] werden mit ihrer üblichen Häufigkeit und Störwirkung erzeugt.
  7. Die verkehrlichen Wirkungen werden bisher durch eine einfache deterministische Warteschlangen-Analogie ermittelt [9]. Auswirkungen von Staus können nur innerhalb eines durchgehenden Streckenzuges einer Autobahn, jedoch nicht über Knotenpunkte mit starkem Verkehrsaustausch hinweg eingeschätzt werden.

Eine ähnliche Berechnung hatte van Toorenburg [25] für einen Tag bereits 1991 vorgeschlagen. Die Methode ist in ein relativ einfaches Computerprogramm gefasst worden (KAPASIM) [9, 26]. Das Programm kann beliebig oft ein typisches Jahr mit seiner Nachfrage- und Kapazitätsganglinie nachbilden und die verkehrlichen Wirkungen ermitteln. Es ergeben sich dabei Werte wie z. B. die Summe aller Zeitverluste für die Fahrzeuge sowie die Anzahl und Dauer von Staus (jeweils über 1 Jahr). Diese Werte lassen sich auch gezielt für verschiedene vorgegebene Zeiträume ermitteln.

Das Konzept der Ganzjahresanalyse kann für verschiedene Fragestellungen angewendet werden. Dazu zählen:

  • Welchen Nutzen erbringt die Freigabe des Standstreifens oder der Anbau eines weiteren Fahrstreifens (auch auf einzelnen Abschnitten einer längeren Strecke)?
  • Welcher Anteil der Zeitverluste ist auf Störfälle (Unfälle/Pannen) zurückzuführen?
  • Wie wirkt sich ein verbessertes Störfallmanagement (schnellere Räumung bei leichten Unfällen/Pannen) aus?
  • Wie lassen sich Arbeitsstellen und Baustellen längerer Dauer sinnvoll organisieren?
  • Wie können Gesichtspunkte der Zuverlässigkeit zusätzlich zu den Zeitkosten als Qualitätskriterium einbezogen werden? Ein solches Zuverlässigkeitskriterium könnte B. die Anzahl oder der Anteil der Fahrzeuge sein, die ohne Stau die Strecke durchfahren können.

Aus den Ergebnissen bisheriger Anwendungen der Ganzjahresanalyse (vgl. [9, 26, 27]) sind folgende Erkenntnisse besonders bemerkenswert:

  • Die Anzahl der Überlastungen pro Jahr steigt naturgemäß mit zunehmender Verkehrsnachfrage (Bild 24; ausgedrückt durch die Verkehrsnachfrage als DTV im Verhältnis zur mittleren Kapazität). Wenn z. B. der DTV 10-Mal so stark ist wie die mittlere Kapazität, muss mit 600 bis 700 Staus pro Jahr (also 2 pro Tag) gerechnet werden. Ähnliche Ergebnisse lassen sich für die Dauer der Überlastungen oder die Summe aller Zeitverluste berechnen.

Bild 24: Anzahl der Überlastungen pro Jahr als Funktion des DTV (Anstelle des DTV ist auf der horizontalen Achse das Verhältnis aus 0,1 DTV und mittlerer Kapazität dargestellt [9])

  • Die Ganzjahresanalyse kann zur Beurteilung praktisch bedeutsamer Fragen eingesetzt werden. In einem Beispiel (nach [9] mit erneuerter Berechnung) wurde ermittelt: der Ausbau der 4-streifigen BAB A 43 (Bochum – Recklinghausen, 16 km, 8 Abschnitte mit DTV = 70 000 bis 90 000 Kfz/Tag) auf 6 Fahrstreifen würde die Zeitkosten aus Stauerscheinungen von heute ca. 1,7 Mio 1/a auf 0,06 Mio 1/a verringern. Diesen einsparbaren Zeitkosten könnten die erforderlichen Investitionskosten gegenübergestellt werden. Andere Anwendungsbeispiele (z. B. verbessertes Störungsmanagement) finden sich in [9].
  • Wichtig für die Realitätsnähe der Ergebnisse ist einerseits das tatsächliche Leistungsvermögen der Autobahn, das sich aus dem Verhalten der Kraftfahrer Abweichungen von den repräsentativen Angaben des HBS [7] sind in der Realität durchaus üblich. Deshalb ist eine Eichung des Modells vor Ort sinnvoll.
  • Entscheidend für die Realitätsnähe ist aber andererseits die richtige Einschätzung der Nachfrageganglinie. Die größten Wirkungen gehen – wie zu erwarten ist – von relativ wenigen besonderen Spitzen-Verkehrsstärken aus. Deren Einschätzung ist aber besonders schwierig, weil diese Spitzen von schwer zu fassenden Besonderheiten abhängen (gutes Wetter an Strecken mit Ausflugsverkehr; besondere Ereignisse wie Fußballspiele und Ähnliches). Hierzu sind noch weitere Untersuchungen sinnvoll. Klar wird aber: Die 30. Stunde als Repräsentant hoher Belastungen ist nicht ausreichend, weil der Löwenanteil der jährlichen Zeitverluste von der 1. bis 29. Stunde verursacht wird. Für die Summe der jährlichen Zeitverluste ist aber auch der genaue Verlauf der Dauerlinie jenseits der 30. Stunde wesentlich. Andererseits sind alle Belastungen, die deutlich unterhalb der Nennkapazität liegen, belanglos für die Fragen der Zeitkosten.

Die Einschätzung der zeitlichen Verteilung der Verkehrsnachfrage ist selbst bei vorhandenen Verkehrsdaten (z. B. von automatischen Dauerzählstellen) schwierig, weil gemessene Verkehrsstärken bei einer Überlastung nicht die Verkehrsnachfrage repräsentieren. Bisher hat es sich nach einer Idee von Zurlinden [9] als sinnvoll erwiesen, die gezählte Jahresganglinie der Verkehrsstärke in Tageswerte (Kfz/Tag) zu aggregieren und diese gezählte Jahresganglinie der Betrachtung zu unterlegen. Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass auch, wenn es zu bestimmten Zeiten des Tages zu erheblichem Stau kommt, alle Fahrzeuge noch am selben Tag aus dem Stau abfließen können. Die Berücksichtigung der zukünftigen Verkehrszunahme kann ggf. durch Multiplikation der Tageswerte mit einem Prognosefaktor erfolgen. Die stündlichen Werte der Verkehrsnachfrage werden für jeden Tag anhand der typisierten Tagesganglinien der BASt [28] errechnet. Durch die Verwendung realer Tageswerte der Verkehrsstärke in Verbindung mit typisierten Tagesganglinien wird erreicht, dass sich die zeitliche Verlagerung des Verkehrs infolge von Überlastungen nicht auf die Einschätzung der Verkehrsnachfrage auswirkt. Die genaue Einschätzung typischer Jahresganglinien der Verkehrsnachfrage ist Gegenstand weiterer Untersuchungen.

8 Verkehrsbeeinflussung

Für einen Abschnitt der BAB A 9 nördlich von München lagen Daten vor, mit denen der Einfluss einer Verkehrsbeeinflussungsanlage (VBA) auf die Kapazität unter Anwendung des stochastischen Konzeptes beurteilt werden kann [11].

Die Anlage im Bereich der 3-streifigen Richtungsfahrbahn in Fahrtrichtung Süd (nach München) zeigt – angepasst an die Verkehrssituation – verschiedene zulässige Höchstgeschwindigkeiten an. In Gegenrichtung gibt es keine Verkehrsbeeinflussung. Beide Richtungsfahrbahnen sind, hinsichtlich ihrer Streckencharakteristik, sehr gut vergleichbar.

Die Schätzung der Kapazitätsverteilung ergibt die Verteilungsfunktionen nach dem Bild 25. Die zugehörigen Kennwerte sind in der Tabelle 4 angegeben.

Bild 25: Kapazitätsverteilungen auf der BAB A 9 mit und ohne Verkehrsbeeinflussungsanlage (Messung in 5-Minuten-Intervallen) [11]

Tabelle 4: Kennwerte der Weibull-Verteilung (Gl. 6, 7) für die BAB A 9 mit und ohne Verkehrsbeeinflussungsanlage (Messung in 5-Minuten-Intervallen) [11]

Es wird deutlich, dass im Mittel im Bereich der VBA eine um ca. 3 % höhere Nenn-Kapazität erreicht wird. Die Standardabweichung s der Kapazitätsverteilung liegt bei der VBA deutlich unter dem Wert der nicht beeinflussten Richtung (– 18 %).

Die Folgen dieser Unterschiede sind mit Hilfe der Ganzjahresanalyse eingeschätzt worden. Bei dem auf der BAB A 9 vorhandenen DTV von 50 600 Kfz/Tag · Richtung ergab sich als Folge der Verkehrsbeeinflussungsanlage ein Einsparpotenzial von 186 Staustunden und 184 000 Stunden Zeitverlust. Dies entspricht nach EWS [23] einer volkswirtschaftlichen Einsparung von ca. 1,1 Mio. 1/a. Eine Vergleichsrechnung (Tabelle 5) ergibt: Ca. 50 % der stauverringernden Wirkung geht auf die Steigerung der Nenn-Kapazität um 3 % zurück. Die restlichen 50 % werden durch die Verringerung der Standardabweichung bewirkt. Wenn es gelingen würde, die Standardabweichung s der Kapazitäten zu halbieren (d. h. a » 27), würden sich die staubedingten Zeitverluste auch ohne Kapazitätssteigerung um 28 % verringern. Damit wäre der Nutzen einer derartigen Maßnahme mit einer Kapazitätssteigerung um 3 % vergleichbar.

Tabelle 5: Ergebnisse der Ganzjahresanalyse für die Situation auf der BAB A 9 sowie Betrachtung von 3 Modellrechnungen

Diese Rechenbeispiele zeigen: Wenn das Leistungsvermögen der Autobahnen durch Verkehrssteuerungsmaßnahmen gesteigert werden soll, ist es wichtig, die Varianz der Kapazitäten zu verringern. Es wird die Hypothese aufgestellt, dass dies vor allem durch ein auf Homogenität des Verkehrsflusses bedachtes Verhalten der Verkehrsteilnehmer (gleiche Geschwindigkeit, gleichmäßige Abstände, Vermeidung von Fahrstreifenwechseln) erreicht wird. Diese Hypothese bedarf aber weiterer Untersuchungen.

9 Verkehrsleistung

Im Zusammenhang mit der Verkehrsbeeinflussung, z. B. durch Zufahrtsteuerung oder auf Mautautobahnen, stellt sich auch die Frage, wie viel Verkehr im Zufluss auf eine Autobahnstrecke zugelassen werden soll. Klar ist, dass ein unbegrenzter Zufluss bei hoher Nachfrage die schlechtere Lösung ist, weil dann das Leistungsvermögen der Strecke durch Stau und zähfließenden Verkehr unterdrückt wird. Als Ziel einer Optimierung ist es sinnvoll, die so genannte Verkehrsleistung L auf ein möglichst hohes Niveau zu bringen [22]:

mit
L = Verkehrsleistung [Kfz · km/h] q = Verkehrsstärke [Kfz/h]
VR = Reisegeschwindigkeit bei q [km/h] T = Analysezeitraum [h].L = q VR T(15)

Die Verkehrsleistung setzt sich aus einem Teil zusammen, der bei fließendem Verkehr erbracht wird und einem, der bei stauendem Verkehr noch möglich ist. Demnach ist Gl. (15) zu modifizieren:

Formel in der PDF

Der Anteil der Stauintervalle wird nach einer von Zurlinden [9] entwickelten Methode aus der Verteilungsfunktion der Kapazität ermittelt. Wesentlich ist dabei auch die Ganglinie der nachgefragten Verkehrsstärke qN. Deshalb ist es sinnvoll, das Ergebnis am Beispiel einer konkreten Strecke und mit Hilfe von deren Ganglinie darzustellen. Das Bild 26 zeigt den Verlauf des Erwartungswertes der Verkehrsleistung in Abhängigkeit von der nachgefragten Verkehrsstärke am Beispiel der BAB A 1 zwischen der AS Köln-Bocklemünd und dem AK Köln-Nord [9]. In diesem Beispiel, wie auch in anderen untersuchten Fällen, zeigt sich: Das Leistungsvermögen der Strecke wird optimal ausgenutzt, wenn die zugelassene Verkehrsstärke auf ca. 90 % der Nennkapazität bei konventioneller Betrachtungsweise beschränkt wird. Würde man mehr Verkehr zulassen, geht die erwartbare Verkehrsleistung als Folge von Staubildungen zurück. Diese Grenze von 90 % der Nennkapazität ist also ein sinnvoller Anhaltspunkt für Zufahrtsteuerungen. Eine andere praktische Konsequenz: Der Betreiber einer Mautautobahn sollte sich bemühen, den Zufluss zu seiner Straße auf 90 % der Nennkapazität zu begrenzen. So kann er damit rechnen, die größte mögliche Anzahl von Fahrzeug-Kilometern pro Zeiteinheit zu erreichen. So wird er seine erwartbaren Mauteinnahmen maximieren. Letztlich sollte sich auch der öffentliche Baulastträger einer Autobahn an dieser Vorgabe orientieren, weil so mit seiner Straße der größte Nutzen gestiftet wird.

Bild 26: Erwartungswert der Verkehrsleistung (obere Kurve, rechte Skala) in Abhängigkeit von der nachgefragten Verkehrsstärke für eine 2-streifige Richtungsfahrbahn [9]

Die Autoren des HBS [7] haben – ohne es zu kennen – dieses Ergebnis bereits berücksichtigt, weil sie als Bemessungsziel für Autobahnen einen Auslastungsgrad von 0,9 (Grenze für Qualitätsstufe D) festgelegt haben.

10 Neue Maßstäbe für die Qualität des Verkehrsablaufs

Das wesentliche Maß für die Qualität des Verkehrsflusses auf Autobahnen ist bisher in Deutschland die mittlere Reisegeschwindigkeit der Pkw (RAS-Q 1996 [29]). Dieser Parameter ist auch dem HBS 2001 [7] hinterlegt, obwohl der Benutzer vor allem mit Auslastungsgraden konfrontiert wird. Die Geschwindigkeit ist auch in Regelwerken anderer Länder [8] verwendet worden.

Dieses Qualitätskriterium der Geschwindigkeit hat aber inzwischen weitgehend ausgedient. Eine vordergründige Ursache ist die Schwierigkeit der praktischen Umsetzung in Regelwerken. Diese führt dazu, dass im HBS der Auslastungsgrad und im HCM die Verkehrsdichte verwendet wird. Der wesentliche Grund ist aber: Begrenzte Unterschiede der mittleren Geschwindigkeit haben praktisch für die Straßenbenutzer keine Bedeutung. Wenn 100 km statt mit 120 km/h nur mit 100 km/h zurückgelegt werden, benötigt man 10 Minuten länger. Noch geringer werden die Unterschiede für den Lkw-Verkehr, der über weite Belastungsbereiche gar keine Zeitverluste durch stärkeren Verkehr erleidet.

Ein entscheidendes Qualitätskriterium ist es aber, ob statt der erwarteten Reisezeit eine sehr viel größere Fahrzeit benötigt wird. Dies ist gleichwertig mit der Frage nach dem Auftreten von Verkehrsstaus. Deswegen wird inzwischen in der internationalen Fachliteratur die Zuverlässigkeit (reliability) als das entscheidendere Kriterium für die Qualität des Verkehrsablaufs auf Autobahnen angesehen. Damit wird vor allem die Variabilität der Reisezeit angesprochen, ohne dass zunächst eine genaue Maßzahl definiert ist. Eine gute Übersicht und detailliertere Vorschläge sind von Shaw [30] angegeben worden.

Als genaues Maß sind denkbar: Anzahl der Staustunden auf einer Strecke pro Jahr; Anzahl der beteiligten Fahrzeuge; Summe aller Zeitverluste pro Jahr. Für den einzelnen Kraftfahrer ist das entscheidende Qualitätsmaß: Wie wahrscheinlich ist es, in einen Verkehrsstau zu geraten, der zu einer Fahrzeit führt, die erheblich von der Erwartung abweicht? Diese Frage ist z. B. von größter Wichtigkeit für Lkw, die in eine Just-in-time-Logistik-Kette eingebunden sind.

Mit dem hier aufgezeigten Konzept der stochastischen Kapazität lassen sich zu diesen Maßen der Zuverlässigkeit quantitative Angaben erarbeiten. Denkbar sind dazu einfache mathematische Ansätze (über die in Kürze noch berichtet wird). Diese stoßen aber für die praktische Anwendung schnell auf Vorbehalte. Das pragmatisch anwendbare Instrument wird auch hier die in Abschnitt 7 angesprochene Ganzjahresanalyse sein.

Mit diesem Ansatz gelingt es, auch Zustände der Überlastung – die ganz naturgemäß zu jeder Straße gehören – rational in die quantitative Analyse einzubeziehen, statt – wie bisher – die Überlastungszustände (HBS [7]: QSV = F) einfach aus der Betrachtung auszublenden.

Es wird empfohlen, in den zuständigen Gremien der FGSV diese Gedanken zu erörtern und weiterzuentwickeln.

11 Zusammenfassung und Ausblick

Bisher wird die Kapazität von Autobahnen wie eine feste Größe behandelt. Es ist jedoch nahe liegend, dass die Verkehrsstärke, bei der es zum Zusammenbruch des Verkehrsflusses kommt, einer merklichen Variabilität unterliegt. Verschiedene Beobachtungen aus mehreren Ländern sind ein deutlicher Beleg dafür.

Es ist jedoch nicht ausreichend, allein die Verkehrsstärken, bei denen ein Zusammenbruch erfolgt, zur Herleitung der statistischen Verteilung zu verwenden. Stattdessen muss berücksichtigt werden, dass besonders hohe realisierte Verkehrsstärken seltener zu beobachten sind als geringe, weil bei vorangegangenen geringeren Verkehrsnachfragen bereits ein Zusammenbruch erfolgt sein kann. Um diesen Effekt statistisch richtig zu berücksichtigen, eignet sich eine Analogie zur Statistik der Lebensdaueranalyse. Mit der von dort übertragenen Product-Limit-Methode lässt sich eine Verteilungsfunktion der Kapazität (= Verkehrsstärke, bei der der Verkehr zusammenbricht) einer Autobahn ermitteln. Für die Ermittlung ist eine sehr große Menge von Zähldaten erforderlich, wie sie sich nur mit Hilfe moderner Dauerzählstellen gewinnen lässt.

Untersuchungen an relativ vielen Streckenabschnitten zeigen, dass Kapazitäten von Autobahnen typischerweise Weibull-verteilt sind. Dabei scheint der Parameter a (der die Varianz der Verteilung bestimmt) in der Größenordnung von 13 zu liegen. Dies erzeugt für 3-streifige Richtungsfahrbahnen eine Standardabweichung von ca. 600 Kfz/h (gemessen in 5-Minuten-Intervallen) – eine unerwartet breite Variabilität.

Aufbauend auf dieser statistischen Betrachtungsweise wird auch verständlich, dass Kapazitäten von Autobahnen von der Dauer des Analyseintervalls abhängen. Dieser Effekt ist schon verschiedentlich beobachtet und beschrieben worden, ohne dass er vollständig erklärt werden kann. Zusätzlich zu den bekannten Erklärungsversuchen im q-v-Diagramm wird der Zusammenhang zwischen den Kapazitäten aus verschieden langen Analyseintervallen durch die statistische Methode auch theoretisch erklärbar und sogar berechenbar.

Mit diesen Voraussetzungen lassen sich auch die genannten Kapazitätsangaben aus dem Richtlinienwerk (HBS 2001, [7]) in Kapazitätsverteilungen umrechnen.

Mit der stochastischen Betrachtung lässt sich herleiten, dass von einer Autobahn der höchste verkehrliche Nutzen erwartet werden kann, wenn man sie bis zu 90 % auslastet. Dies bestätigt im Nachhinein den Auslastungsgrad 0,9, der im HBS 2001 [7] intuitiv als Grenze der Qualitätsstufe D festgesetzt wurde.

Mit der stochastischen Betrachtungsweise gelingt es auch, die Auswirkungen verschiedener äußerer Einflüsse oder Eingriffe in den Verkehr präziser nachzuweisen.

  • So zeigen die durchgeführten Analysen, dass – entgegen früherer Aussagen – die Dunkelheit keine Kapazitätsminderung bewirkt. Dagegen lässt Regen und die daraus folgende Fahrbahnnässe die Kapazität um ca. 11 % sinken.
  • Die untersuchte Verkehrsbeeinflussungsanlage bewirkte eine Steigerung der Kapazität um 3 % und eine deutliche Abnahme der Dadurch konnten in erheblichem Umfang Stauzeiten und staubedingte Wartezeiten vermindert werden. Es kommt also zur besseren Ausnutzung des Leistungsvermögens einer Straße nicht nur auf eine Anhebung der Nenn-Kapazität an. Genauso wichtig ist eine Homogenisierung des Verkehrsflusses.
  • Kapazitätseinschränkungen durch Unfälle auf 3-streifigen Richtungsfahrbahnen wurden in Form von Verteilungsfunktionen quantifiziert. Interessant ist auch die Erfassung der Kapazitätsminderung durch die Neugier der Fahrer in der Gegenrichtung der Unfall-Fahrbahn.
  • Durch den Vergleich von Verkehrsnachfrage und Kapazität über ein ganzes Jahr (Ganzjahresanalyse) lässt sich ein umfassendes Bild der Verkehrsqualität einer Autobahn gewinnen. Diese Analyse berücksichtigt auch Staus durch Unfälle und Baustellen. Die Analysetechnik erscheint als geeignet, die bisherige Art für die Ermittlung der Zeitkosten im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsrechnung für neue oder erweiterte Autobahnen zu ersetzen.

Durch die Einbeziehung der stochastischen Komponente in das Verständnis der Kapazität von Autobahnen wird auch ein geändertes Verständnis von der Qualität des Verkehrsablaufs begründet. Für die traditionelle Denkweise liegt jenseits der Kapazität ein unentdecktes Land. Die stochastische Betrachtungsweise bezieht Zustände der Überlastung in die rationale Betrachtung ein und macht Überlastungen der Berechnung zugänglich. Auf diese Weise gewinnt das Kriterium der Zuverlässigkeit eine höhere Bedeutung als die traditionelle Betrachtung von Reisegeschwindigkeiten.

Diese Betrachtung greift frühere Ansätze anderer Autoren auf. Sie gehört zu einer ganzen Reihe von Publikationen, die sich im internationalen Raum in vergleichbarer Weise äußern. Die hier geschilderten Gedanken werden auch nicht der abschließende Schritt bleiben. Vielmehr wird die Vorhersage gewagt, dass sich das stochastische Verständnis der Kapazität in der Zukunft weiter entwickeln wird und dass auch weiter gehende Ansätze für die Übertragung in die Praxis gefunden werden.

Literaturverzeichnis

  1. Ponzlet, M.: Dynamik der Leistungsfähigkeiten von Autobahnen, Auswirkungen von systematischen und umfeldbedingten Schwankungen des Geschwindigkeitsverhaltens und deren Beschreibung in Verkehrsflussmodellen, Schriftenreihe des Lehrstuhls für Verkehrswesen der Ruhr-Universität Bochum, Heft 16, Bochum 1996
  2. Lorenz, M.; Elefteriadou, L.: A Probabilistic Approach to Defining Freeway Capacity and Breakdown, Proceedings of the 4th International Symposium on Highway Capacity (S. 84–95), TRB Circular EC 018, Transportation Research Board, Washington D.C. 2000
  3. Kühne, R. D.; Anstett, N.: Stochastic Methods for Analysis of Traffic Pattern Formation, Proceedings of the 14th International Symposium on Transportation and Traffic Theory, Jerusalem, Verlag Elsevier, 1999
  4. Minderhoud, M.; Botma, H.; Bovy, P.: An assessment of roadway capacity estimation methods, Delft University of Technology, Delft 1996
  5. Okamura, H.: Watanabe, S.; Watanabe, T.: An Empirical Study on the Capacity of Bottlenecks on the Basic Suburban Expressway Sections in Japan, Proceedings of the 4th International Symposium on Highway Capacity, TRB Circular EC 018 Transportation Research Board, Washington D.C. 2000
  6. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen: Begriffsbestimmungen – Teil: Verkehrsplanung, Straßenentwurf und Straßenbetrieb, Köln 2000
  7. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen: Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen 2001 (HBS 2001), Köln 2002
  8. Transportation Research Board: Highway Capacity Manual, Special Report 209, Washington D.C. 2000
  9. Zurlinden, H.: Ganzjahresanalyse des Verkehrsflusses auf Straßen, Schriftenreihe des Lehrstuhls für Verkehrswesen der Ruhr-Universität Bochum, Heft 26, Bochum 2003
  10. Brilon, W.; Zurlinden, H.: Kapazität von Straßen als Zufallsgröße, Straßenverkehrstechnik, Heft 4, 2004
  11. Regler, M.: Verkehrsablauf und Kapazität auf Autobahnen, Schriftenreihe des Lehrstuhls für Verkehrswesen der Ruhr-Universität Bochum, Heft 28, Bochum 2004
  12. Kaplan, E. L.; Meier, P.: Nonparametric estimation from incomplete observations, Journal of the American Statistical Association, Vol. 53, S. 457-481, Alexandria (VA), 1958
  13. Lawless, J. F.: Statistical Models and Methods for Lifetime Data., Verlag Wiley & Sons, 2003
  14. van Toorenburg, J.: Praktijwaarden voor de capaciteit, Rijkswaterstaat dienst Verkeerskunde, Rotterdam 1986
  15. Keller, H.; Sachse, T.: Einfluss des Bezugsintervalls in Fundamentaldiagrammen auf die zutreffende Beschreibung der Leistungsfähigkeit von Straßenabschnitten, Schriftenreihe Forschung Straßenbau und Straßenverkehrstechnik, Heft 614, 1992
  16. van Aerde, M.: A Single Regime Speed-Flow-Density Relationship for Freeways and Arterials, Proceedings of the 74th TRB Annual Meeting, Washington D.C. 1995
  17. Treiterer, J.; Myers, J. A.: The Hysteresis Phenomenon in Traffic Flow, Proceedings of the 6th International Symposium on Transportation and Traffic Theory, pp. 13–38, Reed Pty Ltd., Sydney 1974
  18. Kim, Y.; Keller, H.: Zur Dynamik zwischen Verkehrszuständen im Fundamentaldiagramm, Straßenverkehrstechnik, Heft 9, 2001
  19. Kerner, B. S.: Theory of Breakdown Phenomenon at Highway Bottlenecks, Transportation Research Record No. 1710, pp. 136–144, Transportation Research Board, National Research Council, Washington D.C. 2000
  20. Banks, J. H.: Flow Processes at Freeway Bottlenecks, Transportation Research Record 1287, TRB, National Research Council, Washington D.C. 1990
  21. Hall, F. L.; Agyemang-Duah, K.: Freeway Capacity Drop and the Definition of Capacity, Transportation Research Record 1320, TRB, National Research Council, Washington D.C. 1991
  22. Br ilon , W.: Traffic Flow Analysis Beyond Traditional Methods, Proceedings of the 4th International Symposium on Highway Capacity (S. 26–41), TRB Circular EC018, Transportation Research Board, Washington D.C. 2000
  23. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen: Empfehlungen für Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen an Straßen (EWS) – Aktualisierung der RAS-W 86, Entwurf, Köln 1997
  24. Bäumer, H.: Einsatzkriterien für Nothaltemöglichkeiten an ein- und zweibahnigen Straßen, Schriftenreihe des Lehrstuhl für Verkehrswesen der Ruhr-Universität Bochum, Heft 25, Bochum 1996
  25. Van Toorenburg , J.: Performance of motorways and trunk routes at high traffic volumes, in: Brannolte (Hrsg.): Highway Capacity and Level of Service, Karlsruhe 1991
  26. Geistefeldt , J.: Ermittlung von Reisezeitverlusten auf Autobahnen unter Verwendung eines Ganglinienmodells, Diplomarbeit am Lehrstuhl für Verkehrswesen der Ruhr-Universität, Bochum 2003
  27. Brilon, W.; Zurlinden, H.; Geistefeldt, J.: Ganzjahresanalyse des Verkehrsflusses auf Autobahnen, Straßenverkehrstechnik, Heft 11, 2004
  28. Pinkowsky, L.: Ganglinientypen, in: Laffont, Nierhoff, Schmidt: Verkehrsentwicklung auf Bundesfernstraßen 2000 – Jahresauswertung der automatischen Dauerzählstellen, Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesenwesen, Heft V 99, Bergisch Gladbach 2002
  29. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen: Richtlinien für die Anlage von Straßen (RAS), Teil: Querschnitte (RAS-Q), Ausgabe 1996, Köln 1996
  30. Shaw, T.: Performance Measures of Operational Effectiveness for Highway Segments and Systems, NCHRP Synthesis 311, Transportation Research Board, Washington D.C. 2003