FGSV-Nr. FGSV 002/123
Ort Kassel
Datum 19.03.2019
Titel Aktuelle Entwicklung in der Verkehrssteuerung der Stadt Kassel - Digitales Testfeld
Autoren Dipl.Wi-Ing. Volker Schmitt
Kategorien Kommunal
Einleitung

Durch kooperative Systeme in der Verkehrssteuerung – dem Zusammenwirken von Infrastruktur und Fahrzeugen – bieten sich völlig neue Möglichkeiten in der Verkehrssteuerung. Kooperative Systeme, bei denen Fahrzeuge und Infrastruktur untereinander vernetzt sind und Daten austauschen, können zu einer optimierten und energieeffizienten Fahrweise und somit zur Verstetigung des Verkehrsflusses und zur Emissionsreduktion beitragen und adressieren damit eine der größten Herausforderungen, vor der kommunale Verkehrsverwaltungen momentan stehen. Auch wenn die Regeln der Physik sich nicht ändern lassen und daher weiterhin Staus entstehen werden, wurden deutliche Effizienzverbesserungen nachgewiesen. Die Bundesregierung setzt beim automatisierten und vernetzten Fahren auf die Kommunikation mittels IEEE 802.11p (ETSI-ITS G5). Volkswagen verfolgt ebenfalls diesen Weg und hat für 2019 den Einsatz dieser Kommunikationstechnologie in einem Volumenmodell angekündigt (unter der Bezeichnung „pWLAN“), Toyota ab dem Jahr 2021. Die Stadt Kassel hat sich frühzeitig der Herausforderung gestellt, ihre Infrastruktur für das vernetzte und automatisierte Fahren anzupassen. Sie hat ein digitales Testfeld in Betrieb genommen, in dem IEEE 802.11p genutzt werden kann. Als Besonderheit wird in Kassel auch die Anmeldung von ÖPNV-Fahrzeugen auf Basis der IEEE 802.11p-Kommunikation erprobt. Damit wird ein Migrationspfad aufgezeigt, mit dem das bisher in Deutschland fast ausschließlich verwendete, jedoch technisch völlig veraltete Verfahren der ÖPNV-Anmeldung (Bake-Funk-System) durch ein neues Verfahren mit weiterem Innovationspotenzial abgelöst werden kann. Somit arbeitet die Stadt Kassel an der Vision eines digitalen Verkehrssystems mit einer Kommunikationsplattform, die für alle Verkehrsteilnehmer nutzbar ist. In Kassel ist der Übergang vom Testfeld in den flächenhaften Alltagsbetrieb bereits in vollem Gange: Bis Ende 2020 wird fast ein Viertel der derzeit 218 Lichtsignalanlagen der Stadt Kassel für kooperative Systeme ausgerüstet sein.

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1 Einführung

1.1 Kooperative Systeme im Verkehr

Obwohl es sich bei der Digitalisierung der Verkehrstechnik um einen seit Jahrzehnten andauernden Prozess handelt, steht doch ein sehr grundlegender Technologiewandel unmittelbar bevor, der vor allem auf kooperativen Systemen basiert (Noll, 2018). Als kooperatives System wird das Zusammenwirken von Infrastruktur und Fahrzeugen sowie Fahrzeugen untereinander verstanden. Durch Vernetzung und Kooperation der beteiligten Akteure – hier Verkehrsteilnehmer und Infrastruktur – bieten sich völlig neue Möglichkeiten in der Verkehrssteuerung. Die Entwicklung wird vor allem auch durch die Automobilindustrie vorangetrieben. International ist die Abkürzung C-ITS (engl. für „Cooperative Intelligent Transport Systems“) verbreitet.

Den Städten als Infrastrukturbetreiber kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Der Verkehr in Städten weist wesentlich komplexere und weniger vorhersehbare Gefahrenlagen und dichteren Verkehr als Außerortsstraßen auf. Außerdem müssen ÖPNV, Radfahrer und Fußgänger berücksichtigt werden. Zudem betreiben Kommunen bereits heute nicht nur Lichtsignalanlagen, sondern auch Verkehrsleitsysteme und Parkleitsysteme.

Daher sind die Städte gefragt, als ersten Baustein die Kommunikation zwischen Fahrzeugen und der Infrastruktur umzusetzen. Hierzu werden die Standorte der Lichtsignalanlagen genutzt, sodass in der Öffentlichkeit auch – etwas salopp und technisch unscharf – von „sprechenden Ampeln“ die Rede ist. Darüber hinaus müssen auch andere Systeme, die die Städte betreiben, als Bestandteile kooperativer Systeme erweitert werden. Dabei ist die flächenhafte Verfügbarkeit eine wesentliche Voraussetzung für eine hohe Akzeptanz sowie eine Verhaltensanpassung der Verkehrsteilnehmer – und damit den Übergang in den Alltagsbetrieb. Dies trägt außerdem zu einer langfristig gesicherten Reduktion der Luftschadstoffe bei (vgl. UR:BAN-Konsortium, 2016).

Bereits bei einer geringen Marktdurchdringung – durch wenige Verkehrsteilnehmer, welche die neue Technologie nutzen können – kann eine Beeinflussung von Pulks erreicht werden. Nähert sich ein so beeinflusster Pulk einem entsprechend ausgestatteten Knoten, kann durch das angepasste Fahrverhalten des gesamten Pulks eine Emissionsminderung erzielt werden. Es ist davon auszugehen, dass die synergetische Verwendung von Beeinflussung durch Information und anpassungsfähige Steuerungsverfahren zur größtmöglichen Ausnutzung des Potenzials der kooperativen Lichtsignalsteuerung führt (Kaths, 2017). 

1.2 Grundsätzliche Herausforderungen bei kooperativen Systemen

Die Einführung kooperativer Systeme generiert die besondere Herausforderung, dass größere Investitionen erforderlich sind, ohne dass klar ist, welche Nutzeranforderungen in Zukunft bestehen, d. h. welche Dienste erforderlich werden. Dieses „Henne-Ei-Problem“ ist bislang nicht gelöst (CIMEC, 2018). Diese Unsicherheit macht Entscheidungen besonders schwierig, außerdem bedeuten manche Systementscheidungen Weichenstellungen für einen langen Zeitraum. Da auch auf dem Markt keine fertigen Lösungen für alle Anforderungen verfügbar sind, ist Entwicklungsarbeit erforderlich. Die fehlenden Praxiserfahrungen manifestieren sich auch in der bislang noch rudimentären Umsetzung von C-ITS-Funktionen in den neuen OCIT-Schnittstellen (Open Communication Interface for Road Traffic Control Systems). Außerdem geht der Aufbau kooperativer Systeme von unterschiedlichen Ausgangssituationen in Bezug auf die Bestandssysteme aus. Vor diesem Hintergrund spielt die Standardisierung eine besondere Rolle (Vermeidung von Insellösungen). Nicht zuletzt besteht die Aufgabe, Bestandssysteme für eine längere Übergangszeit weiterhin zu betreiben. Es ist weder technisch noch wirtschaftlich zu leisten, „über Nacht“ von einem System auf ein anderes umzustellen, sondern es existieren mehrjährige Übergangszeiten, in denen Systeme parallel betrieben werden müssen. Daher müssen Migrationspfade vorhanden sein, die diese Übergangszeiten abbilden.

2 Einführung von C-ITS in Kassel

2.1 Der C-ITS-Plan der Stadt Kassel: Ziel 2030

Die Stadt Kassel hat frühzeitig entschieden, sich bei der Entwicklung kooperativer Systeme an die Spitze zu setzen. Bis 2030 sollen flächendeckend im Stadtgebiet kooperative Systeme eingeführt werden. Das Motiv war dabei auch ein finanzielles: Die Mittel für die Reinvestition der Lichtsignalanlagen waren nicht ausreichend, eine Gefährdung der Betriebssicherheit war absehbar. Daher wurde ein C-ITS-Plan entwickelt, der im Kern vorsieht, durch Förderprojekte die Erneuerung und Aufrüstung der Lichtsignalanlagen mitzufinanzieren um damit ein zukunftssicheres System zu schaffen, statt überholte Systeme am Leben zu erhalten. Somit war es möglich, bei einem geringen finanziellen Mehraufwand einen erheblichen Nutzen für den städtischen Haushalt als auch für die Bürger als Nutzer der Infrastruktur zu generieren.

Die Stadt Kassel hat ein leistungsfähiges Verkehrs- und Mobilitätsmanagementsystem aufgebaut und ergänzt nun auf dessen Basis ihre Infrastruktur für das vernetzte und (teil-)automatisierte Fahren. Um die richtigen Systementscheidungen treffen zu können, arbeitet die Stadt Kassel in nationalen und internationalen Forschungs- und Entwicklungsprojekten sowie in wichtigen Standardisierungsgremien mit, (Noll, 2018), etwa im Vorstand der OCA Open Traffic Systems City Association), des OCTS-Harmonisierungsgremiums (Open Communication Standards for Traffic Systems) der Bundesanstalt für Straßenwesen oder im Spiegelgremium des Verbandes der Automobilindustrie GAK 16/17. In Kassel befindet sich eines der vom Bund geförderten Digitalen Testfelder für das automatisierte und vernetzte Fahren mit Schwerpunkt im Stadtverkehr (BMVI, 2019). Dieses wurde im Rahmen der Förderung des Bundes in den Projekten UR:BAN, VERONIKA und HERCULES installiert. Die Mitarbeiter verfügen daher über umfassendes Wissen in Planung und Betrieb kooperativer Systeme und Strategien. Viele für den effizienten Alltagsbetrieb notwendige Prozesse wurden bereits an die Anforderungen von C-ITS angepasst. Außerdem erbringt die Stadt Kassel die Planung und die Wartung der Lichtsignalanlagen in Eigenregie. So ist nicht nur know how „inhouse“ vorhanden, sondern es ist auch sichergestellt, dass öffentliche (kommunale) Interessen im Fokus stehen.

Diese sehr günstige Ausgangssituation kann genutzt werden, um mithilfe von modernen Instrumenten in kurzer Zeit eine Verbesserung des Verkehrsflusses und eine deutliche Emissionsreduktion zu erreichen, indem die erforderlichen Systeme ergänzt werden und wesentliche Teile des Kasseler Hauptverkehrsstraßennetzes in Kassel ertüchtigt werden. Damit wird ein Alltagsbetrieb mit Serienfahrzeugen Realität. 

2.2 Abgeschlossene Forschungsprojekte als Basis

Die Verkehrssteuerung der Stadt Kassel kann bei der Einführung kooperativer Systeme auf eine Reihe von nationalen und internationalen Forschungs- und Entwicklungsprojekten aufbauen und deren Ergebnisse in den Alltagsbetrieb überführen. Im Einzelnen sind folgende Vorhaben zu nennen:

– Im Verbundprojekt UR:BAN (UR:BAN-Konsortium, 2016) wurden zwischen 2012 und 2016 innovative und intelligente Fahrerassistenz- und Verkehrsmanagementsysteme entwickelt. In Kassel wurde im Teilprojekt „Urbane Straße“ eine Entwicklungs- und Testumgebung eingerichtet, auf der die Übertragbarkeit der infrastrukturseitigen Entwicklungen auf neue Kommunen untersucht wurde. Es war zudem ein Baustein für die im Teilprojekt „Kooperative Infrastruktur“ entwickelten Referenzarchitekturen.

– Im EU-Projekt CIMEC (Cooperative ITS for Mobility in European Cities, Laufzeit: 2015 bis 2017, vgl. CIMEC, 2018) beteiligte sich die Stadt Kassel gemeinsam mit sieben weiteren Partnern an der Erarbeitung von Einführungsstrategien für kooperative Systeme im Verkehr. Außer der Stadt Kassel war aus Deutschland lediglich noch die OCA vertreten.

2.3 Aktuelle Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten

Die aktuellen laufenden Vorhaben in Kassel zielen stark auf die Erprobung im Realverkehr ab und weisen damit den Weg für den Alltagsbetrieb:

– Im Projekt VERONIKA (Vernetztes Fahren des öffentlichen Nahverkehrs in Kassel, Förderung im Programm „Automatisiertes und vernetztes Fahren“ des BMVI, vgl. BMVI, 2018a) wird die Vernetzung von Lichtsignalanlagen mit Straßenbahnen und Bussen auf der Basis des Kommunikationsstandards IEEE 802.11p exemplarisch umgesetzt und erprobt. Dadurch sollen neue Signalisierungs- und Fahrstrategien ermöglicht und so zu einer netzweit energiesparenderen Fahrweise beigetragen werden. Im Testfeld Kassel werden hierzu Straßenbahnen, Busse und Rettungsfahrzeuge mit Onboard Units ausgerüstet, welche mit Roadside Units operative Daten austauschen. Die Evaluation stützt sich sowohl auf Simulation als auch auf Feldversuche unter realen Betriebsbedingungen im städtischen Straßenverkehr.

– Im Vorhaben HERCULES (Harmonisierte Entscheidungen zur Routensicherung mittels Cloudanwendungen für Unternehmen der Logistik zur Effizienzsteigerung von Schwer- und Großraumtransporten; Förderung im „mFund“ des BMVI, vgl. BMVI, 2018b) wird ein neuer cloudbasierter Internetdienst für Spediteure und Frachtführer zur Durchführung von Großraum- und Schwertransporten entwickelt. Durch einen umfassenden Datenaustausch sollen unvorhergesehene Transportverzögerungen vermieden werden. Durch eine sekundengenaue Anforderung an lichtsignalgeregelten Knoten soll eine behinderungsarme Fahrt durch das städtische Straßennetz ermöglicht werden.

– Ziel des Forschungsvorhabens SCHOOL (Strategiewechsel durch Open Data orientierte Lösungen, Förderung im „mFund“ des BMVI, vgl. BMVI, 2018c) ist es, durch Nutzung vernetzter Technologien, den Verkehr in Ballungszentren umweltfreundlich und leistungsfähig zu gestalten. Dazu werden verkehrsträger-übergreifend neuartige Verkehrsmanagement-Strategien entwickelt und prototypisch umgesetzt. Damit adressiert das Projekt sowohl einen verbesserten Datenzugang für alle Akteure des Verkehrsmanagements als auch die Entwicklung datenbasierter Anwendungen und Services für Endkunden. Die entwickelten Lösungen werden in den Städten Dortmund, Frankfurt a. M. und Kassel sowie in der Region Frankfurt-RheinMain prototypisch umgesetzt und evaluiert.

– Die Stadt Kassel wirkt am Vorhaben „Systemuntersuchungen und Erstellung von Lastenheften zur Anpassung der verkehrstechnischen Infrastruktur“ der OCA e. V. mit, das vom BMVI gefördert wird. Im Projekt werden am Beispiel der Städte Düsseldorf, Hamburg, Köln, Kassel, München und Stuttgart ein Lastenheft entwickelt, um beispielhaft Wege für das Ausrollen kooperativer Funktionalitäten im Alltagsbetrieb aufzuzeigen (BMVI, 2018). 

2.4 Umgesetzte Systemarchitektur

2.4.1 Grundlagen und Ergänzungen der Systemarchitektur der Verkehrssteuerung

Innerhalb der Forschungsvorhaben VERONIKA und HERCULES wurde die Systemarchitektur der Verkehrssteuerung in Kassel ergänzt:

– Im Projekt VERONIKA wurden auf der Feldebene an den Lichtsignalanlagen im Testfeld jeweils Roadside Units (RSU) sowie eine Intelligente Roadside Komponente (IRK) ergänzt. Die Roadside Units dienen der Kommunikation mit den Fahrzeugen über IEEE 802.11p, die IRK dient als Hardwareplattform sowohl für die lokale Schaltzeitprognose, als auch zum Parallelbetrieb der ÖPNV-Anmeldung über Analogfunk und C-ITS-Digitalfunk.

– Auf der Zentralenebene wurde im Vorhaben VERONIKA eine Roadside Unit Zentrale (RSUZ) zur Verwaltung der RSU und der IRK entwickelt, die auch die Kommunikation zwischen Feldebene und weiteren Zentralenkomponenten sicherstellt.

– Eine absolute Innovation ist der Metadatenserver, in dem zukünftig Daten über die gesamte Verkehrslage im gesamten Verkehrsnetz vorgehalten werden, sodass Steuerungsentscheidungen auf Basis einer netzweiten Sicht getroffen werden können. Außerdem wurde das Verkehrsmanagementsystem durch eine zentrale Schaltzeitprognose und eine Ankunftszeitprognose ergänzt sowie im Zuge des Projekts HERCULES eine Schnittstelle vom Verkehrsmanagementsystem zum vernetzten Backend entwickelt, über das Informationen zwischen Infrastruktur und den Großraum- und Schwertransporten ausgetauscht werden. 

Bild 1: Systemarchitektur VERONIKA (Quelle: Stadt Kassel) 

Die Systemarchitektur orientiert sich an folgenden Leitgedanken:

– Herstellergemischte Systeme müssen umsetzbar sein, um technische und/oder wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Lieferanten zu vermeiden. Dies ist bei Containerlösungen nicht gegeben.

– Die Architektur muss modular aufgebaut sein, sodass einzelne Komponenten austauschbar sind, um das Systemoptimum zu erreichen.

– Es werden standardisierte Schnittstellen genutzt, um Synergieeffekte zu nutzen und um Entwicklungsaufwand zu reduzieren.

– Ein Daten- und Versionsmanagement sichert die Aktualität und Konsistenz der Daten.

Infrastrukturseitig müssen daher für kooperative Systeme u. a. folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

– Die Möglichkeit eines vollständigen und aktuellen Datenaustauschs,

– Sicherung der Aktualität und Konsistenz der Daten,

– Datenübertragung und -verarbeitung mit geringen Latenzzeiten,

– Geeignete Prozesse innerhalb der Verwaltung im Hinblick auf laufenden Systembetrieb und Wartung,

– Sicherheit der Kommunikation durch Zertifikatsmanagement,

– Datensicherheit (vor Angriffen von außen). 

2.4.2 Umsetzung einer ÖPNV-Anmeldung über kooperative Systeme

Als erste C-ITS-Anwendung wurde eine optimierte ÖPNV-Beschleunigung (durch ÖPNV-Anmeldung über 802.11p) umgesetzt, die auf Basis des Austausches wesentlich präziserer Daten eine Verteilung der Freigabezeiten ermöglicht, sodass Leistungsfähigkeitsreserven gehoben und Standzeiten verringert werden können. Damit wird aufgezeigt, wie das bisher in Deutschland etablierte Anmeldeverfahren auf Basis von sog. R09.16-Telegrammen abgelöst werden kann und neue technologische Möglichkeiten von C-ITS zum Vorteil des ÖPNV genutzt werden können.

Das bisherige Verfahren ist ein über 30 Jahre altes und technisch überholtes Konzept. Es war von Anfang an – wie häufig in der Verkehrssteuerung – ein Kompromiss, weil keine Technologie vorhanden war, um die verkehrstechnisch relevanten Informationen zu generieren. Daher werden lediglich Informationen zu Anwesenheitszeitpunkten an vordefinierten Orten (Meldepunkte) an die Steuerung übergeben statt der relevanten Information, wann und mit welcher Priorität eine Freigabe gewünscht wird. Daher muss in diesem Fall die Steuerung aus dieser Information eine Ankunftszeitprognose erstellen, obwohl sie keinerlei Hintergrundinformationen über die Faktoren hat, welche die Fahrzeit beeinflussen. Insgesamt bietet R09.16 somit kein Innovationspotential um den Anforderungen von C-ITS (verlässliche Signalzeitinformation bei höchster Flexibilität der Steuerung) gerecht zu werden. Die bisher verwendete Analogfunktechnik ist außerdem unter anderem durch die Neuordnung der hierfür vorgesehenen Funkfrequenzen gefährdet. Im Testfeld Kassel wird ein Migrationspfad aufgezeigt, wie beide Formen der ÖPNV-Anmeldung über einen längeren Zeitraum parallel betrieben werden können. Dies ist wesentlich, da eine Umstellung „über Nacht“ in Großstädten weder technisch noch finanziell machbar ist.

Insgesamt schafft die Nutzung von IEEE 802.11p schafft Verbesserungspotential für den ÖPNV, verhindert Einschränkungen durch die Anforderungen der Automobilindustrie und bietet einen Migrationspfad zur Einführung einer nachhaltigen Technologieplattform. 

2.4.3 Datenaustausch zwischen Fahrzeugen und Infrastruktur

Der Datenaustausch über IEEE 802.11p findet zwischen Roadside Units (RSU) und Onboard Units (OBU) statt. Folgende Nachrichtenformate, die von der ETSI spezifiziert sind, werden genutzt:

– MAP, maschinenlesbare Routinginformationen über den Knoten, die an die Fahrzeuge ausgestrahlt und von diesen weiterverarbeitet werden kann. Diese MAP-Dateien sind zwingend erforderlich für eine korrekte Funktion von neuen Fahrzeugassistenzsystemen.

– SPaT (System Phase and Timing), Informationen über das aktuelle Signalbild und das zu erwartende Signalbild,

– SRM (Signal Request Message), Meldung für die ÖPNV-Anmeldung am Metadatenserver,

– SSM (Signal Status Message), Statusmeldung der ÖPNV-Anmeldung vom Metadatenserver an das Fahrzeug,

– CAM (Cooperative Awareness Message), Positionsmeldungen von Fahrzeugen,

– DENM (Decentralized Environmental Notification Message), Meldung über ortsbezogene Ereignisse (z. B. Gefahrenstellen oder Einsatzfahrzeuge).

Durch eine bidirektionale Kommunikation zwischen Fahrzeugen und Lichtsignalanlagen über RSU kann das tatsächliche Verkehrsgeschehen wesentlich früher und detaillierter erfasst werden als mit konventioneller, stationärer Detektion (Kaths, 2017). Darüber hinaus ist auch eine Beeinflussung des Fahrverhaltens möglich.

Im Projekt VERONIKA wurde als erster Anwendungsfall eine ÖPNV-Anmeldung über IEEE 802.11p umgesetzt. Andere Architekturen, vor allem auch von Teilen der Automobilindustrie und Mobilfunkbetreibern getrieben, setzen auf den 5G-Mobilfunk als Übertragungsstandard. So soll zusätzlich ein Höchstmaß an Datengenerierung für eigene Kunden bzw. Abonnenten von Diensten erreicht werden.

Die Stadt Kassel hat sich dagegen für den Standard IEEE 802.11p entschieden, um unabhängig von Drittanbietern zu sein und um einen gemeinsamen Übertragungsstandard für ÖPNV und Individualverkehr umzusetzen. Damit kann aus der Entwicklung der ÖPNV-Anmeldung eine Plattform für alle anderen Verkehrsteilnehmer geschaffen werden. Sowohl die Bundesregierung als auch der Volkswagenkonzern und weitere nichteuropäische Automobilhersteller setzen auf kooperative Technologie mit dem IEEE 802.11p-Standard und untermauern damit die Entscheidung der Stadt Kassel. 

2.4.4 Entwicklung zusätzlicher Schnittstellen

Auf der Zentralenebene müssen die ausgetauschten Nachrichten an verschiedene Systeme übertragen und dort weiterverarbeitet werden können. Daher erfordern der erweiterte Datenaustausch und die Bereitstellung zusätzlicher Informationen auch die Digitalisierung und Automatisierung der Datenverteilung in den zentralenseitigen Einrichtungen. Daher sind für einen Alltagsbetrieb eine erweiterte Schnittstellenarchitektur sowie eine durchgehende Versorgungskette erforderlich, für die die Stadt Kassel bereits wesentliche Grundlagen geschaffen hat (Noll; Albrecht, 2010). Die Bedeutung einer durchgehenden Versorgungskette wächst durch die Anforderungen kooperativer Systeme, da es im Alltagsbetrieb nicht leistbar ist Daten dauerhaft händisch und ggf. in verschiedenen Systemen nachzupflegen. Die Einbindung in die vorhandene Systeminfrastruktur mit proprietären Systemen sowie eine Vielfalt von vorhandenen von Schnittstellen und Datenquellen/-senken führt allerdings auch zu einer hohen Komplexität. 

2.4.5 Ertüchtigung des Kommunikationsnetzes

Nicht zuletzt erfordert der Austausch größerer Datenmengen zwischen Lichtsignalanlagen und der Lichtsignalsteuerungszentrale eine schnelle, breitbandige Datenanbindung, um kurze Latenzzeiten zu gewährleisten. Daher wird das dafür betriebene Telekommunikationsnetz des Straßenverkehrs- und Tiefbauamtes der Stadt Kassel sukzessive mit Lichtwellenleitern ausgebaut. Dabei ist auch der Bau von neuen Kabeltrassen erforderlich. Zusätzlich werden aktive Komponenten und Netzwerkkomponenten benötigt. Pro Jahr sollen rund 6,5 km des Netzes ertüchtigt werden. Ergänzend werden auch weiterhin kupferbasierte Verbindungen genutzt und die Lichtsignalanlagen z. B. über DSL-Technik angebunden. 

2.4.6 Neue Steuerungsverfahren

Grundsätzlich haben Steuerungsverfahren für Lichtsignalanlagen folgendes Dilemma:

– Automatisiertes und vernetztes Fahren erfordert frühzeitige Information, d. h. das künftige Steuerungsverhalten muss frühzeitig und verlässlich vorhersagbar sein.

– Die heute übliche ÖPNV-Beschleunigung erfordert hohe Flexibilität, d. h. sie muss auf stochastische Eingriffe reagieren können.

Allerdings schmälern im Status quo Prognosefehler die Leistungsfähigkeit und die Koordinierungsqualität. Durch kooperative Systeme kann dieses Dilemma gelöst werden, indem frühzeitig exakte Aussagen über das künftige Steuerungsverhalten an die Verkehrsteilnehmer gegeben werden können. Daher müssen durch einen frühzeitigen Datenaustausch die erforderlichen Daten gewonnen werden, um eine Steuerungsentscheidung zu erreichen. Dies erfordert Steuerungsprogramme, die ein sicher vorhersagbares Verhalten aufweisen („flexibility per prediction“). Im Ergebnis können völlig neue Steuerungsverfahren implementiert werden, die auch ganz neue Möglichkeiten im Verkehrsmanagement bieten, so etwa ein umweltsensitives Verkehrsmanagement, das neben der aktuellen Verkehrslage auch Umwelt- und Wetterdaten in Steuerungsentscheidungen miteinbezieht. 

2.5 Übergang in den Alltagsbetrieb

2.5.1 Flächenhafter Ausbau im Stadtgebiet

Die Umsetzung im Feld begann im Jahr 2018 im Rahmen des Projekts VERONIKA. Das Testfeld wurde Anfang 2019 in Betrieb genommen. Es umfasst 15 Lichtsignalanlagen an zwei Streckenzügen in Kassel mit Straßenbahn- und Linienbusverkehr (Bild 2). 

Bild 2: Testfeld VERONIKA (Quelle: Stadt Kassel) 

Darüber hinaus ist ein flächenhafter Ausbau im Kasseler Stadtgebiet geplant: Im Rahmen des Sofortprogramms „Saubere Luft“ der Bundesregierung sollen 37 Verkehrsknoten an hochbelasteten Streckenzügen in Kassel für kooperative Systeme ertüchtigt werden (Vorhaben „Umweltsensitive kooperative Verkehrssteuerung in Kassel“, UKVKS). Im Rahmen der Förderung aus dem Kommunalinvestitionsprogramm (KIP) wird der Kasseler Innenstadtring weitgehend mit C-ITS-Komponenten ausgestattet und der Dauerbetrieb eines Ampelphasenassistenten auf Mobilfunkbasis befindet sich in der Umsetzung. In diesem Zusammenhang wird auch die Anmeldung von Verkehrsteilnehmern mittels virtualisierter Detektoren getestet. Somit wird bis Ende 2020 ein Viertel aller 218 Lichtsignalanlagen in Kassel C-ITS-fähig sein (Bild 3). Da es sich dabei um einen wesentlichen Teil des Kasseler Hauptstraßennetzes handelt, kann damit ein nachhaltiger Dauerbetrieb mit hoher Akzeptanz erreicht werden. 

Bild 3: C-ITS-Ausbau in Kassel bis Ende 2020 (Quelle: Stadt Kassel) 

2.5.2 Anbindung des Systems an die Public Key-Infrastruktur der BASt für das Projekt „C-ITS Corridor“

Im Vorhaben VERONIKA werden kooperative Systeme im Testfeld zwar im Realverkehr eingeführt, allerdings wird im Projekt auf ein sog. Zertifikatsmanagement verzichtet. Digitale Zertifikate sind erforderlich, um die Authentizität des Datenaustausches zwischen Fahrzeugen und Infrastruktur zu gewährleisten. Im Projekt ist eine klar abgrenzbare Fahrzeugflotte mit der neuen Technik ausgestattet, ein Alltagsbetrieb erfordert jedoch, dass Lichtsignalanlagen und Fahrzeuge, die einander „unbekannt“ sind, Daten miteinander austauschen und dass dieser Datenaustausch authentisch ist, d. h. ein Absender kann keine „falsche“ Rolle suggerieren und die Kommunikation ist sicher. Mithilfe digitaler Zertifikate wird die Echtheit eines öffentlichen Schlüssels und dessen zulässiger Anwendungs- und Geltungsbereich bestätigt. Das digitale Zertifikat ist selbst durch eine digitale Signatur geschützt, deren Echtheit mit dem öffentlichen Schlüssel des Ausstellers des Zertifikates geprüft werden kann. Mithilfe eines Zertifizierungspfades bis zu einem Wurzel- oder Stammzertifikat (engl.: Root-CA) kann somit die Echtheit eines Zertifikats überprüft werden. Eine solche Infrastruktur ist daher für die Einbindung privater Pkw zwingend erforderlich, allerdings auch für den flächendeckenden Einsatz im ÖPNV, da sich auch im ÖPNV die eingesetzte Fahrzeugflotte kontinuierlich wandelt.

Da eine solche Zertifikatinfrastruktur bislang nicht vorhanden ist, soll zunächst die PKI des Bundes verwendet werden, die von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) für das Projekt „C-ITS Corridor“ eingesetzt wird.

2.5.3 Einrichtung eines Daten- und Versionsmanagements zur automatisierten Erzeugung und Aktualisierung von Geodaten

Wie beschrieben, strahlen die Roadside Units MAP-Dateien an die Verkehrsteilnehmer aus, die maschinenlesbare Routing-Informationen enthalten und die in den Fahrzeugen weiterverarbeitet werden können. Diese MAP-Dateien werden derzeit noch händisch aus LSA-Versorgungsdaten erzeugt. Ein technisch zufriedenstellender Zielzustand wäre eine automatisierte Erstellung von MAP-Dateien und deren automatische Verteilung im System, sodass immer aktuell gültige Informationen zur Verfügung stehen. Somit kann ein System im Alltagsbetrieb auf Veränderungen der Infrastruktur unmittelbar reagieren und zutreffende Informationen an Verkehrsteilnehmer ausstrahlen. 

3 Fazit und Ausblick

Insgesamt beweist die in Kassel gewählte Systemarchitektur, dass eine Einführung kooperativer Systeme mit modernen Steuergeräten im ersten Schritt mit geringen Anpassungen (zusätzliche Daten, Reduktion von Latenzen) der Lichtsignalanlagen möglich ist. Die Nutzung von IEEE 802.11p führt zu Verbesserungen für Busse und Straßenbahnen, ohne die Koordinierungsqualität des motorisierten Individualverkehrs zu verschlechtern. Zudem ist eine schrittweise Migration zu voller Funktionalität kooperativer Systeme mit eigenem Steuerungsverhalten möglich, da das Anmeldeverfahren mit R09.16-Telegrammen parallel weiter genutzt werden kann.

Im zweiten Schritt sind neue Steuerungsverfahren erforderlich, die einen weitgehenden Verzicht auf Geräteparametrierung ermöglichen, da die Intelligenz nicht fest hinterlegt, sondern das Steuerungsverhalten durch verkehrliche Erfordernisse beeinflusst wird. Das Dilemma zwischen Vorhersagbarkeit der Steuerungen und der erforderlichen Beeinflussbarkeit kann damit gelöst werden. Parallel wird das Fahrverhalten der Verkehrsteilnehmer durch entsprechende Rückmeldungen so beeinflusst, dass sich Verkehr und Steuerung gegenseitig anpassen und beeinflussen.

Die Systemarchitektur orientiert sich an veröffentlichten Standards und ist erweiterbar. Durch eine wesentlich verbesserte Verkehrserfassung und leistungsfähige Hintergrundsysteme können zusätzliche Informationen in das Verkehrsmanagement aufgenommen werden. Somit kann eine netzweite Sicht in die Steuerungsentscheidungen einfließen. Bereits in Vorbereitung ist z. B. die Errichtung eines Meteorologie-Messnetzes sowie der Aufbau eines Monitorings der Luftschadstoff- und Lärmbelastung im Rahmen des Sofortprogramms „Saubere Luft“ der Bundesregierung. Somit können Meteorologie- und Umweltdaten in Steuerungsstrategien eingebunden werden. Damit knüpft die Stadt Kassel auch an das Projekt SCHOOL an. In den kommenden Jahren wird auch der Austausch von Daten zur Betriebslage im ÖPNV eine hohe Bedeutung erhalten, damit die ÖPNV-Unternehmen Priorisierungsentscheidungen mit einer netzweiten Sicht treffen können.

Der Übergang von einer Erprobung im Testfeld in den Alltagsbetrieb ist in Kassel greifbar: Kooperative Systeme stehen in naher Zukunft jedermann mit entsprechender Fahrzeugausstattung zur Verfügung. Sehr günstig wirkt sich außerdem aus, dass aufgrund der Nähe zum Volkswagenwerk Kassel ein überdurchschnittlicher Anteil von Fahrzeugen, die für kooperative Systeme ausgestattet sind, im Kasseler Straßennetz unterwegs sein werden.

Literaturverzeichnis

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K a t h s, J. (2017): Gemeinsame Optimierung von Schaltzeitpunkten und Fahrzeuggeschwindigkeiten für kooperative Verkehrssysteme – Anwendung für Bevorrechtigung und in Netzen. Konferenzbeitrag zur HEUREKA ´17, Optimierung in Verkehr und Transport, Stuttgart, 2017 (FGSV 002/116)

UR:BAN-Konsortium (2016): Kaths, J.: Leitfaden für die Einrichtung kooperativer Systeme auf öffentlicher Seite, hg. vom UR:BAN-Konsortium, München, März 2016, verfügbar unter: http://www.urban-online.org/cms/upload/download/allgemein/Abschlussdokumentation/Leitfaden_Einrichtung_kooperati- ver_Systeme/URBAN_KI-Leitfaden.pdf