FGSV-Nr. FGSV 002/106
Ort Stuttgart
Datum 02.04.2014
Titel Mehr Verhalten in der Verkehrsfluss-Simulation
Autoren Prof. Dr.-Ing. Peter Vortisch
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Die Forschung zu mikroskopischen Verkehrsflussmodellen hatte in den letzten Jahren den Schwerpunkt bei der Entwicklung von Methoden und der Bereitstellung von Daten zur Kalibrierung und Validierung dieser Modelle. Weiterentwicklungen der Verhaltensmodelle selbst waren dagegen selten. Um die Simulationsmodelle noch realistischer zu machen, müssen aber strukturelle Erweiterungen gemacht werden, die Antizipation und taktisches Fahrverhalten explizit nachbilden. Dazu notwendig sind empirische Daten, die das Verhalten von Fahrern und die gesamte sie bestimmende Verkehrssituation beschreiben. Solche Daten können als Fahrzeugtrajektorien aus Videobeobachtungen gewonnen werden oder aus mit Rundum-Sensorik ausgestatten Fahrzeugen.

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1 Motivation

Auch 40 Jahre nach der Entwicklung der ersten mikroskopischen Verkehrsfluss-Simulationen werden die zu Grunde liegenden Modelle immer noch weiterentwickelt, und auch die etablierte Nutzung der daraus entstandenen Softwarewerkzeuge ist zeitweise Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen [1]. Der große Teil der in den letzten Jahren veröffentlichten Aufsätze zur mikroskopischen Verkehrsfluss-Simulation befasst sich mit Methoden zur Kalibrierung und Validierung dieser Modelle, sicherlich zurecht, weil die praktische Anwendung oft darunter leidet, dass diese Arbeitsschritte aufwändig und unbequem für die Nutzer sind. Arbeiten über die Weiterentwicklung der Fahrverhaltensmodelle sind fast in der Minderzahl, und erst recht sind solche Arbeiten selten, die einen qualitativen Schritt in der Verhaltensmodellierung darstellen. Ein Beispiel für letzteres sind die Arbeiten am MIT zur expliziten, modellübergreifenden Modellierung der Reaktionszeit [2]. Ebenfalls in diese Kategorie fällt die Arbeit an der Virginia Tech, wo aus dem über sehr lange Zeiträume aufgezeichneten Fahrverhalten von Fahrern im Rahmen der Naturalistic Driving Study [18] ein weiterer Fahrmodus („hooking“) für die Familie der psychophysischen Fahrverhaltensmodelle abgeleitet wurde [3, 4]. Solche Arbeiten bereichern die Verhaltensmodelle, indem sie den Modellrahmen strukturell ausdehnen, statt bestehende Modellkomponenten zu verbessern oder Modellparameter auf eine bessere empirische Grundlage zu stellen. Ohne den Nutzen der letztgenannten Arbeiten in Zweifel ziehen zu wollen, möchte dieser Aufsatz die Aufmerksamkeit auf einige Aspekte der Fahrverhaltensmodellierung lenken, bei denen eine strukturelle Erweiterung der üblichen Modelle wahrscheinlich Voraussetzung für eine realistischere Abbildung des Verhaltens ist. Im Folgenden werden die Aspekte mit ihren Anforderungen an die Modellierung skizziert und jeweils bestehende oder mögliche Lösungsansätze angesprochen.

2 Explizite Antizipation

Beim klassischen Fahrzeugfolgemodell bestimmt sich das Verhalten eines Fahrzeugs aus der relativen Situation zum vorausfahrenden Fahrzeug, d.h. im Wesentlichen aus Abstand und Geschwindigkeitsdifferenz zum aktuellen Zeitpunkt, eventuell zeitlich verschoben um die Reaktionszeit. Dieses Prinzip gilt auch weitgehend für Fahrstreifenwechselmodelle, dort allerdings bezogen auf mehrere umgebende Fahrzeuge, und alle anderen Verhaltensmodell Komponenten. Übliche Erweiterungen dieses Ansatzes bestehen darin, nicht nur ein voraus fahrendes Fahrzeug zu berücksichtigen, sondern mehrere, weil sich Fahrer in der Realität auch nicht nur am direkt vorausfahrenden Fahrzeug orientieren, sondern weiter voraus schauen („multi-anticipatory models“, z.B. [5]). Auch wird in einigen Modellen der weitere Geschwindigkeitsverlauf des beeinflussenden Fahrzeugs extrapoliert und in die Reaktion einbezogen.

Nicht üblich ist jedoch eine explizite Modellierung der Antizipation in dem Sinn, dass das reagierende Fahrzeug eine konkrete Vorstellung davon hat, was das beeinflussende Fahrzeug in den nächsten Sekunden tun wird. Stellen wir uns als Beispiel die Situation vor, dass an einer vorfahrtsgeregelten Kreuzung ein wartepflichtiges Fahrzeug den Hauptstrom kreuzen möchte. Es sieht vor sich ein Fahrzeug, das den Strom bereits gekreuzt hat und dort auf ein erkennbares Hindernis zufährt, vor dem es halten müssen wird. Das wartende Fahrzeug wird nun bei seiner Abschätzung, wie lange es zum Kreuzen des Hauptstroms braucht, berücksichtigen, dass es nur mit verminderter Geschwindigkeit kreuzen kann, weil es sonst auf der gegenüberliegenden Seite auf das dortige Fahrzeug auffährt. Hier wird also berücksichtigt, dass das vorausfahrende Fahrzeug voraussichtlich langsamer werden wird. Ein anderes Beispiel ist die Antizipation, dass ein Fahrzeug, das mit sehr wenig Abstand vor ein anderes auf dessen Fahrstreifen gewechselt ist, beschleunigen wird, weshalb das folgende Fahrzeug keine Bremsung einleitet, auch wenn das vorausfahrende Fahrzeug noch nicht schneller ist. Im Simulationswerkzeug VISSIM sind solche Antizipationen explizit modelliert. Jedes Fahrzeug führt einen kurzfristigen Plan in Form eines voraussichtlichen, abschnittsweise konstanten Beschleunigungsverlaufs mit, der aus der zuletzt berechneten Interaktion mit dem umgebenden Verkehr abgeleitet wird. Dieser Plan ist für die anderen Fahrzeuge einsehbar und kann zur Antizipation bei der Berechnung ihres Fahrverhaltens verwendet werden.

Damit ist modelltechnisch die Antizipation explizit möglich und wird in einzelnen Situationen in VISSIM auch eingesetzt. Es besteht aber noch erheblicher Forschungsbedarf, wie Antizipation in das Fahrverhalten eingeht und wie das empirisch abgesichert werden kann.

3 Taktisches Fahrverhalten

Um wie im vorigen Abschnitt Antizipation explizit modellieren zu können, muss ein simuliertes Fahrzeug auch selbst einen expliziten Plan für die nächsten Sekunden haben. Reale Fahrer reagieren nicht einfach kontinuierlich auf die aktuelle Situation, sondern sie setzen ihr Verhalten aus kleinen Bausteinen zusammen, nämlich den Fahrmanövern. Fahrmanöver sind meist eingeübte Abläufe, die nicht mehr bewusst vom Fahrer individuell geplant werden müssen, sondern aus seinem Repertoire abgerufen, an die aktuelle Situation angepasst und dann mehr oder weniger unbewusst abgefahren werden. Hier unterscheiden sich ungeübte Fahrer von geübten dadurch, dass sie ein hohes Maß an Konzentration zur Bewältigung der Fahrsituation aufbringen müssen.

In der Verkehrssimulation versteht man unter taktischem Fahrverhalten den Teil des Verhaltens, der einen zeitlichen Planungshorizont von einigen Sekunden und einen räumlichen Horizont von etwas mehr als den direkt umgebenden Fahrzeugen und dem einsehbaren Straßenraum einschließt. So gehört zum räumlichen Planungshorizont auch der Teil des vorausliegenden Netzes, das aufgrund von Hinweistafeln oder Ortskenntnis bekannt ist. Zum taktischen Fahren gehört auch das kooperative Verhalten zwischen mehreren Fahrzeugen, zum Beispiel das Öffnen einer Lücke für ein einfahrendes Fahrzeug. Taktisches Fahrverhalten beschreibt also im Wesentlichen, was unter Fahrmanövern verstanden wird. Typische Fahrsituationen, bei denen das taktische Verhalten eine wesentliche Rolle spielt, sind alle Arten von Verflechtungsvorgängen. Von besonderer Bedeutung ist die realistische Abbildung von taktischem Fahren deshalb, weil es besonders in den Situationen auftritt, die kapazitäts relevant sind.

Taktisches Fahrverhalten ist von den Entwicklern von Simulationsmodellen bereits als ein bedeutendes Forschungsthema akzeptiert. In den Vereinigten Staaten wurde im Rahmen des Förderprogramms NGSIM („New Generation Simulation“) taktisches Fahren durch Expertenbefragung als prioritäres Thema erkannt und in mehreren Forschungsprojekten adressiert. So entstanden durch Arbeiten am MIT und in Berkeley neue Algorithmen zur Abbildung taktischer Fahrsituationen wie dem Verflechten auf überlasteten Autobahnen [6] oder der Fahrstreifenwahl auf vielstreifigen Hauptverkehrsstraßen [7].

Die in NGSIM entwickelten Algorithmen konnten meist eine Verbesserung der Modellierung der jeweiligen Situationen erreichen. Was aber insgesamt nicht entstand, ist eine verallgemeinerbare Methode zur expliziten Modellierung von Fahrmanövern oberhalb der Modellierungsebene, die mit der operativen Kontrolle von Abstand und Geschwindigkeit und mit dem Fahrstreifenwechsel betraut ist. Der obengenannte Algorithmus aus Berkeley modelliert speziell die Verflechtungssituation durch ein angepasstes operatives Fahrverhalten, und das MIT nutzt zur Abbildung von Fahrmanövern kunstvoll den Rahmen der Discrete-Choice Modelle [8]. Letzterem ist eine gewisse Eleganz nicht abzusprechen, allerdings ist fraglich, ob es wirklich die optimale Methode zur Modellierung zeitlicher Abläufe ist.

Mit dem Fehlen einer Methode zur expliziten Modellierung taktischen Fahrverhaltens fehlt auch die Möglichkeit, einfach über solche Modelle zu kommunizieren. Eine vollständige Be schreibung ist fast nur noch durch (Pseudo-)Programmtext möglich. Es wäre wünschens wert, einen Formalismus zur Beschreibung taktischen Fahrverhaltens zu entwickeln, der auch möglichst direkt in ein Framework zur Implementierung in den Simulationswerkzeugen übersetzt werden kann. Eine denkbare Lösung könnte die Abbildung von Fahrmanövern durch endliche Automaten oder verwandte informatische Konzepte sein. In den verschiedenen Zuständen des Automaten werden dem operativen Fahrverhalten Vorgaben gemacht, die dem aktuellen Manöverteil entsprechen, und die Zustandsübergänge werden durch Er reichen bestimmter Situationen ausgelöst. Einen verwandten Ansatz mit Hidden-Markov- Modellen verwendet Toledo in [9] zur Modellierung des Fahrstreifenwechsels. Die Idee, oberhalb des operativen Fahrverhaltens eine getrennte Modellierungsschicht anzusetzen, taucht auch bei Harding [14] und Erlemann [15] auf, der für das Simulationswerkzeug BAB SIM ein sogenanntes absichtsbasiertes Fahrverhaltensmodell entwickelt.

Große Bedeutung wird das taktische Fahren auch bei der Modellierung der motorisierten nicht fahrstreifen-gebundenen Verkehre spielen, deren typischer Vertreter der Straßenverkehr in Indien ist. Hier sind Längs und Querbewegung stärker miteinander verknüpft und nur schwer durch getrennte Modelle abbildbar. Die direkte Übertragung flächiger Bewegungs modelle, wie sie für Fußgänger verwendet werden, scheitert aber an der fehlenden Antizipa tionskomponente, die bei den höheren Geschwindigkeiten notwendig wird. Ein Ansatz zur Modellierung ähnlicher Situationen in Shared-Space-Bereichen findet sich in [10].

4 Situationsabhängiges Fahrverhalten

Ein weiterer Aspekt, der mehr Beachtung verdient hat, ist die Abhängigkeit des Fahrverhaltens davon, aus welcher Situation ein Fahrer kommt, d.h. von der kurz oder mittelfristigen Historie des Fahrtverlaufs. Auch gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass Fahrer auf die gleiche umgebende Fahrzeugkonstellation unterschiedlich reagieren, je nachdem, wie der größere Verkehrskontext aussieht. Ein makroskopisches Phänomen, das nur so zu erklären ist, ist der „Capacity Drop“, das ist der Effekt, dass nach einem Verkehrszusammenbruch auf der Autobahn eine Weile nicht mehr die gleiche Verkehrsstärke erreicht wird wie vor dem Zusammenbruch. Offensichtlich verhalten sich Fahrer anders, wenn sie vorher im Stau gestan den haben, als wenn sie aus dem fließenden Verkehr kommen. Im Forschungsprojekt „HBS konforme Simulation des Verkehrs auf Autobahnen“ [12] hat sich auch gezeigt, dass die Abbildung des Fahrverhaltens im Stau in den in der Praxis üblichen Simulationsmodellen weniger realistisch ist wie die des Fahrens im fließenden Verkehr. Erkennbar ist das daran, dass der untere Teil des Verkehrsstärke-Geschwindigkeits-Diagramms, also der gestaute Teil, in der Simulation systematisch bei zu hohen Verkehrsstärken verbleibt.

In den meisten Modellsystemen kann das Fahrverhalten örtlich unterschiedlich parametrisiert werden, d.h. man kann modellieren, dass auf verschiedenen Streckenabschnitten verschieden gefahren wird. Eine Änderung der Parameter des Verhaltensmodells abhängig von einer bestimmten Situation oder Historie ist aber nicht üblich. Hier wäre eine Erweiterung der Mo dellmechanik ebenso wünschenswert wie eine umfangreiche empirische Untersuchung. An sätze dafür finden sich z. B. in [11], wo die Autorin einen Autobahnabschnitt betrachtet und den einzelnen Fahrzeugen aufgrund der beobachteten Trajektorien das jeweils am besten passende von mehreren Fahrzeugfolgemodellen zuordnet.

5 Datenlage

Um die oben angesprochenen Aspekte des Fahrverhaltens in Simulationsmodellen besser abzubilden, sind zur Analyse des realen Fahrverhaltens und zur Kalibrierung der entwickelten Modelle geeignete Realdaten notwendig. Aus diesem Grund bestand das oben schon angesprochene amerikanische Forschungsprogramm NGSIM aus zwei Blöcken, der Algorithmenentwicklung und der Datenbeschaffung. Zum ersten Mal wurden in größerem Umfang Trajektoriendaten erhoben. Während zur Untersuchung des reinen Fahrzeugfolgeverhaltens die Messung des Abstands zum Vorderfahrzeug und der eigenen Geschwindigkeit ausreicht, erfordert die Analyse des taktischen Fahrens die Kenntnis der das Fahrzeug umgebenden Situation und deren Entwicklung über die Zeit. Idealerweise kennt man Trajektorien aller Fahrzeuge innerhalb eines Streckenabschnitts über einen gewissen Zeitraum. Der betrachtete Zeit-Weg-Ausschnitt sollte so groß sein, dass komplette Fahrmanöver beobachtet werden können.

Die Aufnahme solcher Trajektorien ist zur Zeit noch sehr aufwändig. Im NGSIM-Projekt wur den Videoaufzeichnungen von einem erhöhten Standort aus gemacht und halbautomatisch ausgewertet. Diese Daten sind öffentlich zugänglich [17]. Trotz des erheblichen eingesetzten manuellen Aufwands sind die Daten noch fehlerbehaftet, wie Punzo in [16] nachweist, der einige Jahre später dann der Forschungsgemeinde einen überarbeiteten Datensatz zur Ver fügung stellt [13]. Trotz der Mängel, die der Datensatz enthält, haben sich die NGSIM Trajektoriendaten als sehr wertvoll erwiesen: bis zum heutigen Tag sind über hundert wissenschaftliche Veröffentlichungen erschienen, die auf der Analyse dieser Daten aufbauen. Auch aus Hubschraubern aufgenommene Fahrzeug-Trajektorien wurden schon zur Kalibrierung von Vekehrsflussmodellen verwendet, z.B. in [19], was natürlich einen noch größeren Aufwand bei der Erhebung bedeutet. Das aufkommen kleiner, unbemannter Flugzeuge (Drohnen) und Fortschritte in der automatischen Bildanalyse lassen aber hoffen, dass in Zukunft mehr Trajektoriendaten zur Verfügung stehen werden.

Die zweite mögliche Datenquelle zur Analyse des Fahrverhaltens in der das Fahrzeug um gebenden Fahrsituation sind Fahrzeuge, die mit Sensoren zur Beobachtung sowohl des Fahrers als auch der umgebenden Fahrzeuge ausgerüstet sind. Das Fahrerverhalten kann im Wesentlichen durch die Aufnahme der Bewegungsdaten des Fahrzeugs, vor allem seiner Position und Geschwindigkeit, mit hoher Genauigkeit und in hoher zeitlicher Auflösung er fasst werden. Zusätzlich kann die Erfassung der Blickrichtung des Fahrers hilfreich sein bei der Analyse, wovon er beim Fahren beeinflusst wird. Die Erfassung der umgebenden Verkehrssituation erfordert die Erfassung mindestens der direkten Nachbarfahrzeuge in allen Richtungen, also vor, hinter und neben dem Fahrzeug, mit deren relativen Positionen und Geschwindigkeiten. Eine naheliegende Möglichkeit ist die allseitige Aufnahme von Videodaten und die anschließende halbautomatische Auswertung, wobei allerdings die gleichen Probleme hinsichtlich Aufwand und Fehleranfälligkeit auftreten wie bei der Trajektorienerstellung. Alternativ ist die Erfassung der vorausfahrenden Fahrzeuge durch Radarsensoren möglich, wie sie für die inzwischen in Serienfahrzeugen erhältlichen automatischen Ab standshaltesysteme verwendet werden. Solche Sensoren können auch die Erfassung nach hinten übernehmen. Die Fahrzeuge auf den Nachbarspuren neben dem betrachteten Fahrzeug sind aber durch diese Sensoren schwerer zu erfassen wegen des recht kleinen Öffnungswinkels von wenigen Grad. Hier müssten also anders geartete Sensoren einsetzt wer den, die bei geringerer Reichweite eine breitere Erfassung erlauben. Technisch sind solche Sensoren verfügbar, sie sind nur typischerweise noch nicht in Serienfahrzeugen verbaut.

Dass eine Rundum-Erfassung der Verkehrssituation aus einem Fahrzeug heraus möglich ist, zeigen die Prototypen der automatisch fahrenden Fahrzeuge von Google und Mercedes. Auch für weniger umfassende Fahrerunterstützungssysteme wie z. B. Ausweichassistenten muss aus einer Kombination von Sensoren, meist auf Video und Radar basierend, die aktuelle Verkehrssituation erkannt werden. Es wäre von großem Vorteil für die Weiterentwicklung der Simulationsmodelle, wenn Daten aus so ausgestatteten Fahrzeugen zur Verfügung stehen würden.

In den USA wurden mit großem Aufwand im Rahmen der „Naturalistic Driving Study“ [18] 100 Fahrzeuge umfangreich mit Videodetektoren ausgestattet und deren Fahrverhalten über mehr als ein Jahr beobachtet. Der Fokus der Studie lag auf der Unfallforschung und deshalb eher auf ausgewöhnlichen Situationen als auf der Beobachtung des normalen Fahrverhaltens. Trotzdem nutzen mehrere Studien, z. B. [4] diese Daten zur Überprüfung von Fahrverhaltensmodellen. Prinzipiell sind sie geeignet, auch das taktische Fahrverhalten der ausgerüsteten Fahrzeuge zu untersuchen.

6 Forschungsausblick

Es ist damit zu rechnen, dass es in nächster Zukunft zunehmend leichter wird, Verkehrsdaten zu erheben, die es erlauben, die Reaktion von Fahrern auf die sie umgebende Verkehrssituation nicht nur momentan, sondern im zeitlichen Verlauf zu analysieren. Quellen werden automatisch ausgewertete Videoaufnahmen aus der Luft sein und „Abfalldaten“ aus der Sensorik fortgeschrittener Fahrerassistenzsysteme. Insbesondere die Entwicklungen hin zum automatischen Fahren führen zu Sensorsystemen, die die komplette Umgebung eines Fahrzeugs aufnehmen und verstehen können.

Neben der Nutzung solcher Daten zur Kalibrierung der vorliegenden Fahrverhaltensmodelle sollten sie dazu verwendet werden, Fahrverhalten auf der Basis von zusammenhängenden Fahrmanövern zu beschreiben und Absichten der Fahrer und ihrer komplexen Interaktionen zu modellieren. Modelle, die Antizipation, Kooperation und taktisches Fahren explizit modellieren, werden auch eher in der Lage sein, Fehler der Fahrer bei diesen Aufgaben nachzubil den, womit ein Schritt in die Richtung zur Nutzung von Verkehrsflussmodellen in der Sicher heitsforschung gemacht werden kann.

Hinter realem Fahrverhalten steckt mehr als eine Differentialgleichung.

7 Literatur

[1]    M. BRACKSTONE, M. MONTANINO, W. DAAMEN, C. BUISSON, V. PUNZO: Use, Cal ibration, and Validation of Traffic Simulation Models in Practice: Results of Web-Based Survey; TRB 91st Annual Meeting Compendium of Papers DVD; Washington, 2012

[2]    K. BASAK, S. HETU, Z. LI, C. AZEVEDO, H. LOGANATHAN, T. TOLEDO, R. XU, X. YAN, L. PEH, M. BEN-AKIVA: Modeling Reaction Time within a Traffic Simulation Mod el; TRB 92st Annual Meeting Compendium of Papers DVD; Washington, 2013

[3]    B. HIGGS, M. ABBAS, A. MEDINA, C. Y. D. YANG: Reconstructing the Wiedemann Model Using Naturalistic Driving Data; Presentation at the Summer Meeting of the Traffic Flow Theory and Characteristics Committee (AHB45) of the TRB, Annecy, France, 2010.

[4]    M. ABBAS et. al: Comparison of Car-Following Models when Calibrated to Individual Drivers Using Naturalistic Data; TRB 90st Annual Meeting Compendium of Papers DVD;

Washington, 2011

[5]    S. HOOGENDOORN, S. OSSEN, M. SCHREUDER. Empirics of multianticipative carfol lowing behavior. Transportation Research Record, 1965:112120, 2006.

[6]    H. YEO, A. SKABARDONIS, J. HALKIAS, J. COLYAR, V. ALEXIADIS: Oversaturated Freeway Flow Algorithm for Use in Next Generation Simulation; Transportation Research Record Volume 2088 / 2008.

[7]    C. CHOUDHURY, M. BEN-AKIVA: A Lane Selection Model for Urban Intersections; TRB 87st Annual Meeting Compendium of Papers CD-ROM; Washington, 2008

[8]    T. TOLEDO, H. KOUTSOPOULOS, M. BEN-AKIVA: Integrated Driving Behavior Model ing; Transportation Research C Vol. 15 issue 2, 2007.

[9]    T. TOLEDO, R. KATZ: State Dependence in Lane-Changing Models; Transportation Research Record Volume 2124 / 2009.

[10]  R. SCHÖNAUER, M. STUBENSCHROTT, W. HUANG, C. RUDLOFF, M. FELLEN DORF: Modeling Concepts for Mixed Traffic; Transportation Research Record Volume 2316 / 2012.

[11]  S. OSSEN: Longitudinal Driving Behavior: Theory and Empirics; PhD thesis TU Delft 2008.

[12]  J. GEISTEFELDT, S. GIULIANI, P. VORTISCH, U. LEYN, R. TRAPP, F. BUSCH, A. RASCHER, N. CELIKKAYA: Assessment of Level of Service on Freeways by Microscopic Traffic Simulation; TRB 93nd Annual Meeting, Washington, D.C, January 2014

[13]  M. MONTANINO, V. PUNZO: Making NGSIM Data Usable For Studies On Traffic Flow Theory. Transportation Research Records, in printing, Transportation Research Board of the National Academies, Washington, D.C., 2013.

[14]  J. HARDING: Modellierung und mikroskopische Simulation des Autobahnverkehrs. Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum, 2007.

[15]  K. ERLEMANN: Objektorientierte mikroskopische Verkehrsflusssimulation. Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum, 2007.

[16]  V. PUNZO, M. BORZACCHIELLO, and B. CIUFFO: On the assessment of vehicle trajec tory data accuracy and application to the Next Generation SIMulation (NGSIM) programdata. Transportation Research Part C, Vol. 19, No. 6., Elsevier Ltd., 2011. pp. 1243 1262

[17]  US DEPARTMENT OF TRANSPORTATION – FHWA, 2008b. Interstate 80 Freeway Dataset. <http://www.tfhrc.gov/about/06137.htm>.

[18]  K. CAMPBELL: The SHRP-2 Naturalistic Driving Study. TR News 282 September-October 2012

[19]  S. P. HOOGENDOORN, H. J. VAN ZUYLEN, M. SCHREUDER, B. GORTE, G. VOSSELMAN: Microscopic Traffic Data Collection by Remote Sensing. (2003) Transportation Research Record, (1855), pp. 121-128.