FGSV-Nr. FGSV 002/116
Ort Stuttgart
Datum 22.03.2017
Titel Berücksichtigung verschiedener Verkehrsteilnehmergruppen und Kriterien bei der Optimierung von Lichtsignalanlagen
Autoren Prof. Dr.-Ing. Manfred Boltze, M. Sc. Wei Jiang
Kategorien HEUREKA
Einleitung

Der vorliegende Beitrag formuliert einen verkehrspolitischen Rahmen für die Gestaltung der Lichtsignalsteuerung in Städten, mit dem eine transparente und nachvollziehbare Abwägung von Zielkonflikten unterstützt wird. Dabei werden nicht nur die vielfältigen Anforderungen der verschiedenen Verkehrsteilnehmergruppen und Anwohner, sondern auch die verschiedenen Wirkungen hinsichtlich Verkehrssicherheit, Verkehrsflussqualität, Umweltqualität und Wirtschaftlichkeit umfassend berücksichtigt. Moderne Planungsinstrumente und Steuerungstechniken werden genutzt, um relevante Wirkungen weitgehend zu erfassen und die Ziele insgesamt bestmöglich zu erreichen. Mit gegebenenfalls erforderlichen Ergänzungen und Anpassungen an lokale Gegebenheiten kann dieser Beitrag als Vorlage für ein verkehrspolitisches Positionspapier in verschiedenen Städten dienen.

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Einführung

Die Gestaltung der Lichtsignalsteuerung ist insbesondere in den Städten ganz wesentlich durch den Umgang mit Zielkonflikten geprägt. Diese Zielkonflikte entstehen nicht nur durch die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Verkehrsteilnehmergruppen und Anwohner, sondern zunehmend auch dadurch, dass neben Aspekten der Verkehrssicherheit und Verkehrsflussqualität auch andere Kriterien wie Kraftstoffverbrauch und Emissionen mit berücksichtigt werden müssen. Gute Entscheidungen zur Gestaltung der Lichtsignalsteuerung, Ausgewogenheit und Transparenz brauchen deshalb nicht nur ausgezeichnete Fachkenntnisse in der Lichtsignaltechnik, sondern auch eine klare Orientierung bezüglich der Werte unterschiedlicher Kriterien für die einzelnen Verkehrsteilnehmergruppen und Anwohner. Eine solche Werteorientierung vorzugeben, ist grundsätzlich eine wichtige politische Aufgabe.

Der vorliegende Beitrag präsentiert einen Vorschlag zum verkehrspolitischen Rahmen für die Gestaltung der Lichtsignalsteuerung in Städten. Dabei werden die aktuellen Herausforderungen und Entwicklungschancen berücksichtigt. Wesentliche Teile dieses Textes wurden zunächst im Auftrag der Stadt Darmstadt erstellt und sind dort 2015 in einen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung [1] eingegangen. Der folgende Text wurde daraus weiter entwickelt und ist allgemeingültig so formuliert, dass er als Diskussionsgrundlage für die Verkehrspolitik in verschiedenen Städten dienen kann. Im Einzelfall können notwendige Modifikationen und Ergänzungen vorgenommen werden, um sich den lokalen Gegebenheiten anzupassen.

Vorschlag für ein Verkehrspolitisches Rahmenpapier

1 Grundsätze

(1) Lichtsignalanlagen im Straßenverkehr sind ein sehr wichtiges Instrument zur Gestaltung des Stadtverkehrs. Ihre Steuerung hat wesentlichen Einfluss auf die Erreichbarkeit und die Qualität des Verkehrsablaufs für die verschiedenen Verkehrsteilnehmergruppen sowie auf die Verkehrssicherheit, die Umweltqualität und die Wirtschaftlichkeit des Verkehrs. Daneben sind Wirkungen auf die Verkehrsmittelwahl zu beachten.

(2) Der Gestaltung der Lichtsignalsteuerung soll eine möglichst umfassende Berücksichtigung der verschiedenen Wirkungen auf die unterschiedlichen Verkehrsteilnehmergruppen zugrunde liegen. Hierbei sind auch die Grundsätze der Barrierefreiheit zu beachten.

(3) Sofern sich Vorteile hinsichtlich einer bestimmten Wirkung oder Verkehrsteilnehmergruppe nur unter Nachteilen bei anderen Wirkungen oder für andere Verkehrsteilnehmergruppen erreichen lassen, soll der Entscheidung eine nachvollziehbare Abwägung vorausgehen. Entscheidungen zur Gestaltung der Lichtsignalsteuerung benötigen dementsprechend Regeln zur Abwägung der verschiedenen Wirkungen, zum Umgang mit Zielkonflikten und damit zur Priorisierung der verschiedenen Verkehrs- teilnehmergruppen.

(4) Eine situationsabhängige Priorisierung ist anzustreben. Es sollen nicht nur starre Regeln angewendet werden, sondern es soll entsprechend den technischen Möglichkeiten auch die jeweils aktuelle Situation berücksichtigt werden (z.B. Verkehrsaufkommen, Umweltlage, Wochentag, Tageszeit).

(5) Die Planungsinstrumente für die Lichtsignalsteuerung sollen so weiterentwickelt werden, dass damit alle wesentlichen Wirkungen ermittelt und in eine Abwägung von Zielkonflikten eingebracht werden können.

(6) Die durch die Lichtsignalsteuerung tatsächlich eintretenden Wirkungen sollen nach einem festzulegenden Konzept zur Wirkungserfassung regelmäßig ermittelt werden. Den Entscheidungsträgern soll in festgelegtem Turnus über die Ergebnisse berichtet werden, so dass gegebenenfalls auch Korrekturen in den Prioritäten und Regeln zur Abwägung gemacht werden können.

(7) Zur differenzierten Lichtsignalsteuerung soll moderne Steuerungstechnik eingesetzt werden. Der Stand der Technik zur Lichtsignalsteuerung ist in den Richtlinien für Lichtsignalanlagen (RiLSA) dokumentiert (FGSV 2015a, [2]). Abweichungen von den dort getroffenen Regelungen bedürfen einer Begründung.

2 Verkehrsmittelübergreifende Hauptziele und relevante Kenngrößen

(1) Für die Gestaltung der Lichtsignalanlagen und Signalprogramme bestehen - unabhängig vom jeweiligen Verkehrsmittel - die folgenden vier Hauptziele.

(2) Gewährleistung der Mobilität

Mobilität ist ein Grundbedürfnis der Menschen, und die Erreichbarkeit der Stadt bestimmt ihre Standortqualität nicht nur für die dort wohnenden Menschen, sondern auch für die Wirtschaft. Die Qualität des Verkehrsablaufs (Wartezeiten, Anzahl der Halte, Staulängen) und der Komfort bei der Benutzung der verschiedenen Verkehrsmittel (z. B. Notwendigkeit zur aktiven Anforderung von Freigabezeiten für Fußgänger) sollen deshalb verbessert werden. Zur Erfüllung dieses Zieles sind bei der Lichtsignalsteuerung insbesondere folgende Kenngrößen zu betrachten:

- Wartezeiten für Fahrzeuge

- Wartezeiten für Personen

- Anzahl der Halte

- Staulängen

- Komfort

(3) Erhöhung der Verkehrssicherheit

In der Verkehrssicherheitsarbeit wurden bereits große Erfolge erzielt. Die noch immer hohe Anzahl an Verkehrsunfällen, Verletzten und Getöteten im Verkehr soll weiter reduziert werden. Zur Erfüllung dieses Zieles sind bei der Lichtsignalsteuerung insbesondere folgende Kenngrößen zu betrachten:

- Anzahl Verkehrsunfälle

- Anzahl leicht Verletzter

- Anzahl schwer Verletzter

- Anzahl Getöteter

(4) Verringerung der Umweltbelastungen

Die vom Verkehr ausgehenden gesundheitsschädigenden Wirkungen, insbesondere durch Luftschadstoffe und Lärm, sollen verringert werden. Die Menschen sollen auch darin unterstützt werden, jeweils das Verkehrsmittel mit den günstigsten Wirkungen auf die Gesundheit zu wählen. Der Kraftstoffverbrauch und die Emission klimaschädigender Gase weisen eine enge Korrelation auf und sollen reduziert werden. Zur Erfüllung dieses Zieles sind bei der Lichtsignalsteuerung insbesondere folgende Kenngrößen zu betrachten:

- Luftschadstoffbelastung (Emissionen)

- Luftschadstoffbelastung (Immissionen)

- Lärmbelastung (Immissionen)

- Kraftstoffverbrauch, CO2-Emissionen

(5) Verbesserung der Wirtschaftlichkeit

Der Zeitaufwand für Ortsveränderungen soll verringert werden. Infrastruktur und Fahrzeuge sollen effizient eingesetzt werden. Zur Erfüllung dieses Zieles sind bei der Lichtsignalsteuerung insbesondere folgende Kenngrößen zu betrachten:

- mittlere Geschwindigkeit

- Auslastung von Freigabezeiten

(6)    Unter diesen Hauptzielen haben die Vermeidung von gesundheitsschädigenden Emissionen und die Verbesserung der Verkehrssicherheit das größte Gewicht.

(7)    Bild 1 zeigt die Relevanz der benannten Kenngrößen für die einzelnen Verkehrsmittel.

Bild 1: Relevante Kenngrößen für die einzelnen Verkehrsmittel

3 Priorisierung der Verkehrsmittel und Beeinflussung der Verkehrsmittelwahl

(1) Den Bürgerinnen und Bürgern stehen als Verkehrsmittel der Fußverkehr, der Radverkehr, der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) und der motorisierte Individualverkehr (MIV) zur Verfügung. Daneben bedarf der Güterverkehr, insbesondere der Schwerverkehr, einer besonderen Betrachtung.

(2) Aufgrund ihrer grundsätzlichen Vorteile hinsichtlich der Umweltbelastungen sollen der Fußverkehr, der Radverkehr und der ÖPNV gefördert werden. Es gibt aber keine bedingungslose Priorisierung eines einzelnen Verkehrsmittels; vielmehr müssen im Einzelfall die gesamten Wirkungen der Maßnahmen mit berücksichtigt und unangemessene Nachteile bei anderen Verkehrsmitteln und Kenngrößen vermieden werden.

(3) Die Verkehrsmittelwahl hat wesentliche Bedeutung für die Nachhaltigkeit des gesamten Verkehrssystems. Neben den direkten Wirkungen einzelner Maßnahmen der Lichtsignalsteuerung sind deshalb auch immer die indirekten Wirkungen über eine mittel- bis langfristig veränderte Verkehrsmittelwahl mit zu berücksichtigen.

(4) Zur Beeinflussung der Verkehrsmittelwahl sollen Maßnahmen ohne negative Umweltwirkungen gewählt werden, wie z.B. Instrumente des betrieblichen oder schulischen Mobilitätsmanagements oder ordnungspolitische und finanzielle Instrumente des Parkraummanagements.

Die gezielte Verschlechterung des Verkehrsablaufs für den MIV ist kein geeignetes Mittel zur Beeinflussung der Verkehrsmittelwahl. Eine unangemessene Behinderung des Kraftfahrzeugverkehrs führt nicht nur zu Staus und Zeitverlusten für Autofahrer, sondern vor allem auch zu erheblichen Gesundheitsgefährdungen durch Lärm und Abgase, vor allem für Anwohner, Fußgänger und Radfahrer, aber auch für die Autofahrer selbst.

4 Umfassende Berücksichtigung und Abwägung der verschiedenen Wirkungen

(1) Die verschiedenen Wirkungen auf die unterschiedlichen Verkehrsteilnehmergruppen sollen bei der Gestaltung der Lichtsignalsteuerung umfassend berücksichtigt werden.

(2) Konträre Anforderungen und Zielkonflikte sind bei der Gestaltung der Lichtsignalsteuerung in vielen Fällen nicht vermeidbar. Sofern wesentliche negative Wirkungen erkennbar sind, sollen diese fachlich verifiziert, transparent dargestellt und mit den Vorteilen einer Maßnahme abgewogen werden.

Bei Maßnahmen zur Förderung eines Verkehrsmittels sind deshalb neben den positiven Wirkungen für dieses Verkehrsmittel immer auch die möglichen negativen Wirkungen für andere Verkehrsmittel mit darzustellen und möglichst zu quantifizieren.

(3) Bei Maßnahmen zur Förderung des Fußverkehrs und Radverkehrs sind insbesondere folgende Kenngrößen mit zu beachten:

- Wartezeiten, Anzahl der Halte und Staulängen im MIV

- Wartezeiten für den ÖPNV

- Lärm- und Luftschadstoffemissionen im MIV und Schwerverkehr (ggfs. auch Immissionen),

- Kraftstoffverbrauch und CO2-Emissionen im MIV und Schwerverkehr

(4) Bei Maßnahmen zur Förderung des ÖPNV sind insbesondere folgende Kenngrößen mit zu beachten:

- Wartezeiten, Anzahl der Halte und Staulängen im MIV

- mittlere und maximale Wartezeiten für den Fußverkehr und Radverkehr

- Lärm- und Luftschadstoffemissionen im MIV und Schwerverkehr (ggfs. auch Immissionen),

- Kraftstoffverbrauch und CO2-Emissionen im MIV und Schwerverkehr

(5) Bei Maßnahmen zur Förderung des MIV und des Schwerverkehrs sind insbesondere folgende Kenngrößen mit zu beachten:

- mittlere und maximale Wartezeiten für den Fußverkehr und Radverkehr

- Wartezeiten für den ÖPNV

- Beitrag zur Veränderung der Verkehrsmittelwahl

(6) Bei der Abwägung sind gleiche Kenngrößen über die verschiedenen Verkehrsmittel hinweg zu aggregieren. Bei den meisten Kriterien können gleiche Kenngrößen unter Beachtung der physikalischen Grundlagen ohne weitere Anpassung aggregiert werden (z.B. Emissionen).

Bei den mittleren Wartezeiten bietet sich eine personenbezogene Aggregation an. Auf Basis des mittleren Fahrzeugbesetzungsgrads kann so eine mittlere Wartezeit für alle Verkehrsteilnehmer am Gesamtknotenpunkt gebildet werden (HUNTER et al. 2011, [5]).

Um verkehrspolitische Präferenzen und Komfortaspekte bei den Verkehrsmitteln zu berücksichtigen (z.B. Unterschiede in Bequemlichkeit oder Witterungsschutz), können die Wartezeiten unterschiedlich gewichtet werden. Dies kann beispielsweise auch dazu dienen, eine angemessene Verkehrsqualität für nicht-motorisierte Verkehrsteilnehmer zu erreichen, wo diese hinsichtlich der Personenanzahl nur einen geringen Anteil des Gesamtverkehrs ausmachen.

(7) Das Zusammenführen der Wirkungen auf unterschiedliche Ziele und Kenngrößen ist grundsätzlich problematisch. Letztlich muss aber eine Abwägung zwischen beispielsweise Wartezeiten bei verschiedenen Verkehrsteilnehmergruppen, Unfallzahlen und den gesundheitlichen Wirkungen von Luftschadstoffen und Lärm durchgeführt werden.

Die dafür erforderlichen quantitativen Gewichtungen können zwar zum Teil aus einschlägiger Literatur (z.B. EWS – Empfehlungen zu Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen an Straßen. FGSV 1997, [6]) abgeleitet werden, die dabei genutzten Werte zur Monetarisierung sind jedoch häufig umstritten und immer auch Ausdruck verkehrspolitischer Präferenzen.

Für die zusammenfassende Bewertung von lichtsignaltechnischen Maßnahmen soll ein Konzept für die Gewichtungen unterschiedlicher Ziele und Kriterien erarbeitet und politisch verabschiedet werden.

5 Situationsabhängige Priorisierung

(1) Eine situationsabhängige Priorisierung ist anzustreben. Es sollen nicht nur starre Regeln zur Priorisierung angewendet werden, sondern es soll entsprechend den technischen Möglichkeiten auch die jeweils aktuelle Situation berücksichtigt werden.

(2) Schwankungen im Verkehrsaufkommen werden bereits berücksichtigt, wenn die Signalprogramme hinreichend nach Zeiten und Aufkommen differenziert, verkehrsabhängig gestaltet und die oben gegebenen Hinweise zu Wirkungsermittlung und Abwägung beachtet werden.

(3) Bei der Bevorrechtigung von Fahrzeugen des ÖPNV wird angestrebt, deren Fahrplanlage und Auslastung mit zu berücksichtigen.

(4) In Situationen mit kritischen Luftschadstoffbelastungen (auftretende oder drohende Grenzwertüberschreibungen) sollen Signalprogramme eingesetzt werden, die in besonderem Maße Luftschadstoffemissionen vermeiden. In unkritischen Situationen können Signalprogramme verwendet werden, die diese Kriterien weniger stark gewichten. Zur Identifikation kritischer Umweltlagen können nicht nur lokale Messeinrichtungen sondern auch regional erfasste Indikatoren verwendet werden (BRESER et al. 2014, [7]).

Zur Emissionsminderung sollen auch innovative Maßnahmen erprobt und eingesetzt werden, wie z.B. die Freigabezeitanpassung zur Vermeidung von Halten im Schwerverkehr.

(5) An Orten und in Zeiten mit hohem Lärmschutzbedürfnis (z.B. vor Krankenhäusern oder nachts) sollen Signalprogramme verwendet werden, die in besonderem Maße Lärmbelastungen vermeiden. Grüne Wellen und andere Maßnahmen zur Vermeidung von Halten und Anfahrvorgängen im motorisierten Verkehr sind dann mit weiteren Maßnahmen der Beeinflussung von Routenwahl und Geschwindigkeitswahl abzustimmen.

(6) Ein Konzept für die aktive Nutzung der Lichtsignalsteuerung zur Minderung von Luftschadstoff- und Lärmbelastung soll erarbeitet und umgesetzt werden.

6 Wirkungsermittlung vor der Umsetzung

(1) Eine Wirkungsermittlung soll einerseits bei der verkehrstechnischen Projektierung, also vor der Umsetzung, durchgeführt werden, um die Maßnahme umfassend bewerten und optimieren zu können. Andererseits ist es erforderlich, die Wirkungen der Lichtsignalsteuerung während des Betriebs zu erfassen (siehe folgender Abschnitt).

(2) Für die Wirkungsermittlung vor der Umsetzung kommen vorrangig verkehrstechnische Berechnungen und Modelle zum Einsatz.
Einfache Aufgaben ohne wesentliche Zielkonflikte und sich wiederholende Aufgaben können weiterhin auf Grundlage des sehr guten Fach- und Erfahrungswissens der Sachbearbeiter gelöst werden. Für die lichtsignaltechnischen Vorhaben, bei denen wesentliche Zielkonflikte entstehen, sind die unterschiedlichen Wirkungen möglichst zu quantifizieren, und die Abwägung der verschiedenen Belange ist transparent darzustellen.

(3) Die Planungsinstrumente für die Lichtsignalsteuerung sollen so weiterentwickelt werden, dass damit alle wesentlichen Wirkungen ermittelt und bei Zielkonflikten in eine Abwägung eingebracht werden können. Ein detailliertes Konzept zur Wirkungsermittlung bei verschiedenen Aufgaben zur Gestaltung der Lichtsignalsteuerung ist unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Ressourcen zu erarbeiten.
Als geeignetes Instrumentarium dazu wird ein mikroskopisches Verkehrsfluss-Simulationsmodell mit zugehörigen Emissionsmodulen eingesetzt. Modellaufbau und Modellpflege sind eine projektunabhängige Daueraufgabe.

(4) Die oben für die Gewährleistung der Mobilität benannten Kenngrößen zur Qualität des Verkehrsablaufs (Wartezeiten für Fahrzeuge und Personen, Anzahl der Halte, Staulängen) sind über verkehrstechnische Berechnungen (z.B. nach dem Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen. FGSV 2015b, [8]) oder auch in komplexeren Situationen gut über eine mikroskopische Verkehrsfluss-Simulation zu ermitteln.
Der Komfort kann in der Regel nur qualitativ eingeschätzt oder mit größerem Aufwand über Befragungen von Verkehrsteilnehmern bewertet werden.

(5) Die Kenngrößen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit, insbesondere das Unfallgeschehen in Folge von Änderungen an der Lichtsignalsteuerung, können vorab in der Regel nur aus Erfahrungswerten in vergleichbaren Situationen, unter Nutzung der Unfalldatenbank oder auf Grundlage einschlägiger Forschungsprojekte abgeschätzt werden. Teilweise können zur Bewertung Hilfsgrößen genutzt werden.

(6) Bei der Verringerung der Umweltbelastungen ist zur Ermittlung der Luftschadstoffemissionen vor allem die mikroskopische Verkehrsflusssimulation mit integrierten Emissionsmodulen geeignet. Die Immissionen von Luftschadstoffen sind stark situationsabhängig (bauliche Situation, Witterung, Hintergrundbelastung etc.) und können bisher nur mit großem Aufwand modelliert werden. Vereinfachende statistische Modelle (vgl. z.B. KOHOUTEK 2010, [9]) bieten nach einer Kalibrierung Ansätze, zumindest für kritische Stellen (HotSpots) die Wirkungen lichtsignaltechnischer Maßnahmen auf die Immissionsbelastungen abzuschätzen.

Für die Ermittlung der Lärmemissionen und -immissionen stehen Berechnungsansätze und Modelle zur Verfügung.

Kraftstoffverbrauch und CO2-Emissionen können beispielsweise aus mikroskopischen Verkehrsflussmodellen abgeleitet werden.

(7) Die benannten Kenngrößen zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit (mittlere Geschwindigkeit, Auslastung von Freigabezeiten) können grundsätzlich mit Verkehrsflussmodellen und verkehrstechnischen Berechnungen erfasst werden.

(8) Mittel- bis langfristige Wirkungen auf die Verkehrsmittelwahl können in der Regel nicht auf einzelne Maßnahmen an Lichtsignalanlagen zurückgeführt werden. Sie entstehen eher aus einer Summe von individuellen Eindrücken der Verkehrsteilnehmer und Maßnahmen, von denen nur ein Teil die Lichtsignalsteuerung betrifft. Eine quantitative Bewertung der Wirkungen einer einzelnen lichtsignaltechnischen Maßnahme auf die Verkehrsmittelwahl wird deshalb kaum möglich sein.

Vielmehr sollte jeweils auf Grundlage der quantifizierbaren Kenngrößen für die verschiedenen Verkehrsmittel (z.B. Wartezeiten) eine Aussage abgeleitet werden, in welche Richtung die Maßnahme die Verkehrsmittelwahl beeinflusst. Umfassendere quantitative Betrachtungen sind nur in einem größeren Rahmen möglich.

7 Wirkungsermittlung im laufenden Betrieb

(1) Die durch die Lichtsignalsteuerung tatsächlich eintretenden Wirkungen sollen regelmäßig ermittelt werden. Die systematische Wirkungsermittlung im laufenden Betrieb ist erforderlich, um eine dauerhaft hohe Qualität der Verkehrssteuerung zu gewährleisten (vgl. FGSV 2015a, [2]). Sie dient dazu, Mängel frühzeitig zu erkennen, die Wirksamkeit von umgesetzten Maßnahmen zu verifizieren und letztlich die verfügbaren Ressourcen dort einzusetzen, wo sie den größten Nutzen bringen. Sie ist nicht als einmalige Aktivität, sondern als Daueraufgabe zu verstehen.

(2) Für die Wirkungsermittlung im laufenden Betrieb sind Unfalldaten, Prozessdaten aus den Steuergeräten, Betriebs- und Störungsdaten sowie Informationen aus gemachten Erfahrungen sowie Inspektionen und Beobachtungen an den Lichtsignalanlagen zu nutzen (vgl. FGSV 2015a, [2]). Teilweise können auch Informationen aus anderen Systemen sinnvoll eingesetzt werden (z.B. Fahrtenanalysen aus dem Betriebsleitsystem der Busse und Bahnen oder Daten von Navigationssystem-Anbietern).

(3) Auf Grundlage der Empfehlungen der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV 2015a, [2]; FGSV 2014, [10]) soll ein Konzept zur Wirkungsermittlung erarbeitet werden, nach dem die zweckmäßigen Auswertungen aufwandsoptimiert durchgeführt werden können.

(4) Den Entscheidungsträgern soll in festgelegtem Turnus über die Ergebnisse der Wirkungsermittlung berichtet werden, so dass gegebenenfalls auch Korrekturen in den Zielen, Prioritäten und Regeln zur Abwägung gemacht werden können.

8 Zukünftige technische Entwicklungen

(1) Zur differenzierten Lichtsignalsteuerung sollen moderne Steuerungstechnik und Planungsinstrumente eingesetzt werden. Über den Zustand der Ausstattung und den absehbaren Erneuerungsbedarf ist regelmäßig zu berichten.

(2) Möglichkeiten zur automatischen Erfassung von Fußgängern und Radfahrern sollen so bald wie möglich genutzt werden. Damit soll vermieden werden, dass Fußgänger und Radfahrer aktiv ihre Freigabezeit anfordern müssen.

Für Radfahrer auf gemeinsam oder getrennt geführten Geh- und Radwegen können hierfür bereits induktive Detektoren auch zur Annäherungserfassung eingesetzt werden. Diese Möglichkeit soll weiter erprobt sowie möglichst verbreitet eingesetzt und in das Signalisierungskonzept integriert werden.

Darüber hinaus sollen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten unterstützt werden, um Technologien zur Fußgänger- und Radfahrerdetektion weiter zu entwickeln und unter Beachtung des Datenschutzes einsatzreif zu machen.

(3) Es gibt zurzeit wesentliche Entwicklungen zur Emissionsminderung von Kraftfahrzeugen, bis hin zum Einsatz von Elektrofahrzeugen, sowie neu eingesetzte ordnungsrechtliche Maßnahmen mit Einfluss auf die Emissionen (z.B. Umweltzonen). Die Grundlagen für die oben benannte Ermittlung der Umweltbelastung sind entsprechend den lokalen Veränderungen in der Fahrzeugflotte kontinuierlich anzupassen.

(4) Durch sogenannte kooperative Systeme (Fahrzeug-Fahrzeug-Kommunikation und Fahrzeug-Infrastruktur-Kommunikation) und Entwicklungen in Richtung eines automatischen Fahrens können sich die Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Lichtsignalsteuerung in den kommenden Jahren wesentlich verändern. Diese Entwicklungen sind zu unterstützen, soweit sie zu den oben benannten Hauptzielen beitragen. Gleichzeitig sind die notwendigen Überprüfungen und Anpassungen in der Lichtsignalsteuerung zu vollziehen, um einen weiterhin sicheren Verkehrsablauf zu gewährleisten (z.B. Überprüfung der Zwischenzeiten bei Information der Kraftfahrer über den Zeitpunkt des Grünbeginns).

Schlussbemerkungen

Fortschrittliche Lichtsignalsteuerung entsteht nicht nur durch Fachwissen und Technik, sondern ganz wesentlich auch durch den richtigen verkehrspolitischen Rahmen.
Dieser Beitrag präsentiert einen Vorschlag zur Gestaltung eines verkehrspolitischen Handlungsrahmens zur Gestaltung der Lichtsignalsteuerung in Städten. Im Kern dieser fortschrittlichen Strategie steht einerseits eine umfassende Berücksichtigung der vielfältigen Anforderungen der verschiedenen Verkehrsteilnehmergruppen und Anwohner. Andererseits hat die transparente Abwägung der Wirkungen bei Zielkonflikten besondere Bedeutung. Moderne Planungsinstrumente und Steuerungstechniken werden genutzt, um die Ziele insgesamt so weit wie möglich zu erreichen.

Die Verfasser sind sich bewusst, dass mehrere der oben getroffenen Aussagen in einigen Städten einen Paradigmenwechsel erfordern. Insbesondere die Mitberücksichtigung von Umwelt- und Gesundheitswirkungen muss mancherorts wieder in stärkerem Maße zu einer Verkehrsverflüssigung beitragen und auch zu einer differenzierteren Betrachtung der Beschleunigung von Bussen und Bahnen führen.

Es besteht auch kein Zweifel daran, dass eine solche zeitgemäße Lichtsignalsteuerung in vielen Städten für Planung, Umsetzung und Betrieb zu höherem Aufwand führen wird. Dem wird jedoch ein erheblich größerer Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger gegenüberstehen, der mit den aufgezeigten Ansätzen der Wirkungskontrolle auch transparent wird und wahrgenommen werden kann.

Literatur

[1] Beschluss der Stadtverordnetenversammlung mit Anlagen vom 07.10.2015. Magistratsbeschluss-Nr. 503. Darmstadt

[2] FGSV (2015a). Richtlinien für Lichtsignalanlagen. RiLSA; Lichtzeichenanlagen für den Straßenverkehr. Ausgabe 2015. FGSV Verlag, Köln.

[3] Statistisches Bundesamt (2017). Verkehr – Verkehrsunfälle, Oktober 2016. Fachserie 8, Reihe 7. Wiesbaden.

[4] Umweltbundesamt (2016). Gesundheitsrisiken der Bevölkerung in Deutschland durch Feinstaub. www.umweltbundesamt.de/daten/umwelt-gesundheit. Download 19.01.2017.

[5] HUNTER, B.; WOLFERMANN, A.; BOLTZE, M. (2011). Multimodal assessment of signalized intersections considering the number of travellers. TRB 90th Annual Meeting. Compendium of Papers DVD, January 23-27, 2011, Washington, D.C. National Research Council (U.S.).

[6] FGSV (1997). EWS - Empfehlungen für Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen an Straßen – Aktualisierung der RAS-W 86. Ausgabe 1997 sowie ergänzende Hinweise 1997 und 2002. FGSV Verlag, Köln.

[7] BRESER, C.; JIANG, W. (2014). Entwicklung regionaler Indikatoren zur Entscheidungsunterstützung in lokalen Strategien zur Luftreinhaltung. ivm Projektbericht, unveröffentlicht. Darmstadt.

[8] FGSV (2015b). Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen. HBS. Ausgabe 2015. FGSV Verlag, Köln.

[9] KOHOUTEK, S. (2010). Quantifizierung der Wirkungen des Straßenverkehrs auf Partikel- und Stickoxid-Immissionen. Dissertation am Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Darmstadt.

[10] FGSV (2014). Hinweise zum Qualitätsmanagement an Lichtsignalanlagen. H QML. Ausgabe 2014. FGSV Verlag, Köln.