FGSV-Nr. FGSV 002/96
Ort Stuttgart
Datum 16.03.2011
Titel Der Einfluss von Zwischenzeiten auf die Kapazität von Knotenpunkten mit Lichtsignalanlage
Autoren Prof. Dr.-Ing. Manfred Boltze, Dr.-Ing. Axel Wolfermann
Kategorien HEUREKA
Einleitung

In dem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie groß an Knotenpunkten mit Lichtsignalanlage der Einfluss von Zwischenzeiten auf die Kapazität ist. Der Verkehrsablauf während des Phasenwechsels wird detailliert erläutert. Ein Ansatz zur Ermittlung der effektiven Freigabezeit und der effektiven Kapazität wird vorgestellt. Anhand von Messungen für die einzelnen Verkehrsvorgänge im Phasenwechsel bei gesättigtem Verkehrsfluss wird bestätigt, dass entgegen dem in Deutschland üblichen Ansatz zur Kapazitätsermittlung ein nennenswerter Teil der Zwischenzeit zur Kapazität beiträgt. Dementsprechend wird vorgeschlagen, zukünftig eine effektive Freigabezeit bei der Kapazitätsermittlung zu verwenden. Darüber hinaus werden die Potentiale einer situationsabhängigen und dynamischen Bemessung von Zwischenzeiten aufgezeigt. Weitere Forschungen zur Berücksichtigung des stochastischen Charakters der Verkehrsvorgänge im Phasenwechsel und zur Vertiefung von Sicherheitsaspekten werden angeregt. Der Beitrag basiert auf einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt.

PDF
Volltext

Der Fachvortrag zur Veranstaltung ist im Volltext verfügbar. Das PDF enthält alle Bilder und Formeln.

1 Einführung

An Lichtsignalanlagen im Straßenverkehr sind Zwischenzeiten erforderlich, um sicherzustellen, dass sich keine räumenden Fahrzeuge des Stroms mit Grünende mehr auf potentiellen Konfliktflächen im Knotenpunkt befinden, wenn einfahrende Fahrzeuge des Stroms mit Grünbeginn dort ankommen. Erreicht wird dies durch einen zeitlichen Versatz zwischen dem Ende der Freigabezeit der endenden Phase und dem Beginn der Freigabezeit der beginnenden Phase. In den deutschen „Richtlinien für Lichtsignalanlagen“ (RiLSA) wird bereits seit ihrer Einführung im Jahr 1966 dieser Zeitversatz einem kinematischen Modell folgend für alle möglichen Konflikte ermittelt [1]. Über die Jahre haben sich die zu berücksichtigenden Fälle und die anzusetzenden Parameter leicht verändert [2]. Die grundsätzliche Vorgehensweise blieb jedoch unverändert und erfüllt seither ihren Zweck einer hohen Sicherheit während des Phasenübergangs.

Bereits 1974 thematisierte GLEUE [3] allerdings den Widerstreit zwischen Kapazität und Sicherheit. Er stellte auch heraus, dass zu lange Zwischenzeiten durchaus die Sicherheit mindern können, was beispielsweise die Praxis des Aufrundens der Zwischenzeiten in Frage stellt. Beide Probleme, Kapazitäts- und Sicherheitseinbußen durch Zwischenzeiten, treten in deutlicher Form beispielsweise in Japan auf (vgl. TANG/NAKAMURA 2007, [4]). Es fällt auch auf, dass Zwischenzeiten in der Welt durchaus verschieden ermittelt werden. Die Gründe hierfür sind nicht nur in kulturellen Unterschieden zu suchen. Es stellt sich auch die Frage, ob die verwendeten Verfahren ausgereift sind. Besonders fraglich sind hierbei die angemessene Berücksichtigung der Zufallsschwankungen des Verkehrsablaufs und die zweckmäßige Genauigkeit der ermittelten Zeiten.

Das hier beschriebene Projekt „Influence of Intergreen Times on the Capacity of Signalised Intersections“ ging vor diesem Hintergrund der Frage nach, wie groß der Einfluss der Zwischenzeiten auf die Kapazität tatsächlich ist. Ziel des Projekts war auch, die Erkenntnisse zu Zwischenzeiten und zu den für den Phasenwechsel bedeutsamen Vorgängen allgemein in einen internationalen Kontext zu stellen. Die bislang weitgehend parallel stattfindende Forschung vor allem in den englischsprachigen Ländern und in Deutschland soll hierdurch stärker zusammengeführt werden. Die Ergebnisse dieses von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts führten zu einer Dissertation (WOLFERMANN 2009, [5]) und wurden in einem Schlussbericht dokumentiert (BOLTZE/WOLFERMANN 2010, [6]).

2 Der Verkehrsablauf während des Phasenwechsels

2.1 Minimale Zwischenzeit für Einzelkonflikte

Wenn Kapazitätsverluste vermieden werden sollen, ohne die Sicherheit einzuschränken, müssen die Zwischenzeiten theoretisch so bemessen sein, dass das erste einfahrende Fahrzeug genau dann an der Konfliktfläche ankommt, wenn diese vom letzten räumenden Fahrzeug verlassen worden ist (minimale Zwischenzeit). Die Trajektorien der beiden Fahrzeuge für diesen Fall sind in Bild 1 dargestellt. Vier Parameter sind von Bedeutung, um diese Situation in Zahlen zu fassen:

- Überfahrzeit des ersten einfahrenden Fahrzeugs (crossing time of entering vehicle, tcr,e)

- Einfahrzeit (entering time, te)

- Überfahrzeit des letzten räumenden Fahrzeugs (crossing time, tcr)

- Räumzeit (clearance time, tcl)

Die Überfahrzeiten bezeichnen dabei jeweils die Differenz zwischen dem Signalwechsel von/nach Grün und dem Überfahren der Haltlinie durch das jeweilige Fahrzeug. In der Realität vergeht zwischen dem Räumen des letzten Fahrzeugs und dem Eintreffen des ersten einfahrenden Fahrzeugs am Konfliktpunkt noch eine Zeitspanne, die Belegungsfolgezeit (post encroachment time).

Bild 1: Verkehrsablauf eines Einzelkonflikts während des Phasenwechsels

2.2 Konfliktfälle und ihre Wahrscheinlichkeit

Während des Phasenwechsels sind verschiedene Konfliktfälle denkbar. In Abhängigkeit von der Fahrstreifen- und Verkehrsaufteilung kommt eine Vielzahl von Konflikten in Betracht. In einem Konfliktbaum können alle möglichen Konflikte veranschaulicht werden (Bild 2). Ausgehend von einer Phase verzweigt sich der Baum gemäß den vorhandenen Signalgruppen, Fahrstreifen, Fahrzeugströmen und nach RiLSA 2010 [2] für die endende Phase auch gemäß den Fahrzeugtypen (Kraftfahrzeug, Fahrrad, ggf. auch öffentliche Verkehrsmittel).

Wenn alle Fälle der endenden Phase mit allen Fällen der beginnenden Phase verbunden werden, ergeben sich die Verkehrsvorgangsfolgen. Nicht alle dieser Folgen sind Konfliktfälle. Beispielsweise kreuzen sich die Wege von zwei rechtsabbiegenden Strömen nicht. Die Konfliktfälle sind in Bild 2 farblich hervorgehoben.

Mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Verkehrsvorgangsfolgen auftreten, hängt von den Verkehrsverhältnissen ab (Anteil Abbieger etc.). Es ist offensichtlich, dass die minimale Zwischenzeit für einen Phasenwechsel vom auftretenden Konflikt abhängt. Im Rahmen der Zwischenzeitenfestlegung wird aus Sicherheitsgründen stets die längste ermittelte Zwischenzeit verwendet. Wenn der Konflikt, der zu dieser Zwischenzeit führt, nicht auftritt, entsteht – unabhängig von der Genauigkeit der Zwischenzeitberechnung – eine sogenannte Konfliktdifferenzzeit.

Bild 2: Konfliktbaum

3 Theoretische Grundlagen zur Kapazität signalgeregelter Knotenpunkte

3.1 Effektive Kapazität und effektive Freigabezeit

Die Kapazität signalgeregelter Knotenpunkte hängt von den Sättigungsverkehrsstärken, der Fahrstreifenanzahl und der den Fahrzeugen zur Verfügung stehenden Freigabezeit ab. Die verbreitete Definition der Sättigungsverkehrsstärke bezieht sich auf den Fahrzeugfluss während einer (fiktiven) Grünstunde, ist also unabhängig vom Einfluss des Phasenwechsels. Konsequent wird der Phasenwechsel durch die Einführung einer effektiven Freigabezeit berücksichtigt, wie es beispielsweise das U.S. Highway Capacity Manual [7] vorschlägt. Die Methodik des deutschen „Handbuchs für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen“ (HBS 2001, [8]) ist hier inkonsistent, da der Einfluss des Phasenwechsels nur für kurze Freigabezeiten und der Definition widersprechend direkt über die Sättigungsverkehrsstärke berücksichtigt wird.

Die effektive Freigabezeit unterscheidet sich von der signalisierten Freigabezeit durch Anfahrzeitdifferenzen zum Beginn der Phase und durch Überfahrzeitgewinne am Ende der Phase. Die Anfahrzeitdifferenzen entstehen einerseits durch den höheren Zeitbedarf der ersten einfahrenden Fahrzeuge (kumulierte Differenz der Zeitlücken zum mittleren Zeitbedarfswert). Sie werden andererseits in der Regel abgemindert durch die kurze Überfahrzeit des ersten einfahrenden Fahrzeugs, die in Deutschland (vor allem auf Grund der Rot-Gelb-Zeit) üblicherweise kürzer als der mittlere Zeitbedarfswert ist.

Die Abweichung der effektiven Freigabezeit von der signalisierten Freigabezeit wird hier Freigabezeitdifferenz genannt. Die effektive Kapazität kann mittels der effektiven Freigabezeiten und der Sättigungsverkehrsstärken bestimmt werden. Effektive Freigabezeiten, die länger als signalisierte Freigabezeiten sind, bedeuten, dass ein Teil der Zwischenzeiten von Fahrzeugen genutzt wird. Nur der übrige Teil der Zwischenzeiten ist somit eine Verlustzeit.

3.2 Maximale Kapazität und Zwischenzeitdifferenz

Neben der effektiven Kapazität stellt sich die Frage nach dem Potenzial, die Kapazität signalgeregelter Knotenpunkte mit Hilfe der Phasenwechselzeiten zu verbessern. Dieses Potenzial wird durch die maximale Kapazität nach oben begrenzt. Die maximale Kapazität wird erreicht, wenn die Zwischenzeiten auf das in Abschnitt 2.1 beschriebene Minimum reduziert werden. Sie kann nur erreicht werden, wenn die Trajektorien aller Fahrzeuge bekannt sind, was in der Realität natürlich nicht der Fall ist. Die maximale Kapazität als theoretische Größe ermöglicht jedoch eine quantitative Abschätzung des Optimierungspotenzials und eine Analyse, wie dieses Potenzial genutzt werden könnte.

Das Optimierungspotenzial der Kapazität kann aus der Differenz zwischen tatsächlichen und minimalen Zwischenzeiten abgeleitet werden. Für eine solche Zwischenzeitdifferenz kann es drei Gründe geben:

- Die in der Zwischenzeitenberechnung angesetzten Parameter weichen von den tatsächlich auftretenden Parametern ab (z. B. Räumgeschwindigkeiten, Überfahrzeiten).

- Es tritt ein anderer Konfliktfall auf als der bei der Zwischenzeitberechnung angenommene maßgebende Konfliktfall, d.h. es treten Konfliktdifferenzzeiten auf (vgl. Abschnitt 2.2).

- Es werden Sicherheitszuschläge verwendet (z. B. Aufrunden der berechneten Werte nach RiLSA).

Die Zwischenzeitdifferenzen können in fiktive Freigabezeitverlängerungen und mittels der Sättigungsverkehrsstärken in Kapazitäten umgewandelt werden. Da Zwischenzeiten immer von zwei Phasen begrenzt sind, können Zwischenzeitdifferenzen verschiedenen Phasen, Signalgruppen und damit Fahrstreifen zugeordnet werden.

4 Optimierungspotenzial

4.1 Empirische Untersuchungen

4.1.1 Methodik

Die für die Berechnungen erforderlichen Parameter wurden an verschiedenen Knotenpunkten in Darmstadt während der Spitzenverkehrszeiten ausschließlich unter gesättigtem Verkehr erfasst. Erhoben wurden mittels manuell ausgewerteter Videobeobachtungen sowie Laser-Geschwindigkeitsmessungen Überfahrzeiten, Bruttozeitlücken, Verkehrsstärken (getrennt nach Fahrzeugart und Strom), Räumgeschwindigkeiten, Einfahrgeschwindigkeiten und Einfahrbeschleunigungen. Die Videobeobachtungen wurden direkt an der Haltlinie sowie von einem mobilen Mast (25 m Höhe) durchgeführt. Da bei manchen Knotenpunkten an verschiedenen Tagen und für unterschiedliche Fahrströme gemessen wurde, sind die Ergebnisse hierfür in den Tabellen getrennt ausgeführt. Die Charakteristika der in Darmstadt beobachteten Fahrströme sind der Tabelle 1 zu entnehmen.

Tabelle 1: Beschreibungen der beobachteten Verkehrsströme

4.1.2 Überfahrzeiten der einfahrenden und räumenden Fahrzeuge

Die Ergebnisse der Messungen von Überfahrzeiten der jeweils ersten einfahrenden Fahrzeuge sind in Tabelle 2 dargestellt. Die Mittelwerte liegen in der Regel zwischen 1,1 und 1,4 s. Der einzige Ausnahmefall ist A010(1), wo durch den zweifeldigen Signalgeber für gesicherte Rechtsabbieger kein Rot-Gelb-Signal existiert hat und das Grün-Signal schwer zu erkennen war. Deshalb reagierten die Fahrer hier später, und die Überfahrzeiten waren erheblich größer.

Tabelle 2: Überfahrzeiten des jeweils ersten einfahrenden Fahrzeugs

Tabelle 3: Überfahrzeiten des jeweils letzten räumenden Fahrzeugs

Die Messergebnisse zu den Überfahrzeiten der räumenden Fahrzeuge zeigt Tabelle 3. Hier lagen die Mittelwerte zwischen 1,5 s und 2,8 s, was ein breiteres Intervall darstellt als für die ersten einfahrenden Fahrzeuge. Da die Gelb-Zeit an den untersuchten Knotenpunkten immer drei Sekunden beträgt, konnte festgestellt werden, dass wenigstens die Hälfte der Gelb-Zeit von den räumenden Fahrzeugen zur Überfahrt genutzt wurde.

Die hohen Werte der Standardabweichungen beider Parameter weisen darauf hin, dass sie sehr starken Schwankungen ausgesetzt waren und dass diese Parameter bei der weiteren Forschung zum Thema Sicherheitsaspekte der Zwischenzeiten besonders beachtet werden müssen. Die signifikanten Schwankungen rühren auch vom unterschiedlichen „Verkehrsdruck“ her, der nicht nur von der Länge der Freigabezeit abhängt, sondern auch von der Nachfrage und weiteren Faktoren wie der Auslastung der übrigen Phasen. Hier machen sich auch zu lange Zwischenzeiten bemerkbar.

4.1.3 Zeitbedarfswerte und kumulierte Zeitlückendifferenzen

Die Zeitbedarfswerte wurden als Durchschnitt der Zeitlücken ab dem fünften Fahrzeug ermittelt. Sie wiesen bei den untersuchten Verkehrsströmen Werte zwischen 1,9 und 2,3 s auf und wichen damit nicht stark von den Werten des HBS 2001 [8] ab. Die kumulierten Zeitlückendifferenzen wurden aus der Summe der Differenzen der ersten vier Zeitlücken zum Zeitbedarfswert ermittelt und wiesen größere Schwankungen auf. Während die meisten Werte zwischen 0,9 und 1,3 s lagen, traten auch Werte von mehr als 2,0 s auf, was sich mit dem Fahrverhalten der Rechtsabbieger erklären lässt (Fälle A010(1) und A010(2)).

Tabelle 4: Zeitbedarfswerte und kumulierte Zeitlückendifferenzen

4.1.4 Freigabezeitdifferenzen

Die Freigabezeitdifferenzen werden mittels der Anfahrzeitdifferenzen und der Überfahrzeiten des letzten räumenden Fahrzeugs bestimmt. Die Anfahrzeitdifferenzen ergeben sich aus der Überfahrzeit des ersten einfahrenden Fahrzeugs sowie aus der kumulierten Differenz der Zeitlücken der ersten Fahrzeuge zum mittleren Zeitbedarfswert unter Sättigungsbedingungen.

Alle für die Berechnungen der Freigabezeitdifferenzen erforderlichen Eingangsparameter, inklusive der Zwischenwerte für die Anfahrzeitdifferenz, sind in Tabelle 5 zusammengefasst. Die Anfahrzeitdifferenzen wiesen große Werte (Verluste) in den Fällen auf, in denen die kumulierten Zeitlückendifferenzen groß waren (Fälle A010(1), A010(2) und A020). Im Fall A010(1) war der Anfahrzeitverlust besonders hoch, weil die Überfahrzeit der einfahrenden Fahrzeuge hoch war. In einem Fall nahm die Anfahrzeitdifferenz einen negativen Wert an, d.h. sie stellte in diesem Fall eine Gewinnzeit anstatt einer Verlustzeit dar (Fall A018(2)). Eine neutrale Anfahrzeitdifferenz von 0 s wurde bei einer Beobachtung (A018(1)) gemessen, in drei Fällen wurden Werte zwischen 0,2 und 0,6 s ermittelt.

Die Freigabezeitdifferenzen wichen auch voneinander ab. Allerdings zeigen diese Werte dass die effektive Freigabezeit tatsächlich grösser als die signalisierte Freigabezeit ist. Die einzige Ausnahme hierbei ist der Fall A010(1), welcher eine negative Freigabezeitdifferenz aufgrund des fehlenden Rot-Gelb-Signals und deshalb sehr hohen Anfahrzeitverlusts aufwies. Die Freigabezeitdifferenzen konnten bis zu 3 s ermittelt werden (Fall A018(2)), während der Mittelwert für alle Fälle außer A010(1) 1,5 s beträgt.

Tabelle 5: Ermittlung der Freigabezeitdifferenzen

Sehr interessant wäre eine Untersuchung der Abhängigkeit der Freigabezeitdifferenz von der Dauer der Freigabezeit unter hoher Auslastung. Hierfür liegen jedoch bisher keine ausreichenden empirischen Daten vor. Es kann vermutet werden, dass bei kürzeren Freigabezeiten höhere Freigabezeitdifferenzen auftreten.

4.2 Effektive Kapazität

Aus den empirischen Ergebnissen kann die effektive Kapazität abgeleitet werden.

Bezieht man sich auf eine einzelne Freigabezeit, so bedeuten 1,5 s Freigabezeitdifferenz einen rechnerischen Kapazitätszuwachs von beispielsweise 10 % bei einer Freigabezeit von 15 s (7,5 % bei 20 s; 5 % bei 30 s). Besonders bei kurzen Freigabezeiten wirkt sich die effektive Freigabezeit wesentlich aus (rechnerischer Kapazitätszuwachs von 15 % bei 10 s Freigabezeit, 30 % bei 5 s).

Betrachtet man den gesamten Knotenpunkt, so bedeutet eine Freigabezeitdifferenz von im Mittel 1,5 s an einem typischen Knotenpunkt mit 3 Phasen, 90 Sekunden Umlaufzeit, 18 s Zwischenzeitensumme und einer Sättigungsverkehrsstärke von 1.800 Fz/h eine zusätzliche Kapazität von 90 Fz/h in den Strömen der kritischen Belastungssumme, bzw. 6 bis 7 % Zunahme der Gesamtkapazität (von 1440 auf 1530 Fz/h).

Je Sekunde Freigabezeitdifferenz reduziert sich rechnerisch beispielsweise bei 3 Phasen der Verlustzeitenanteil um 3 s, was bei 18 s Zwischenzeitensumme und 90 s Umlaufzeit einem Kapazitätszuwachs von 3,3 % entspricht, bei 60 s Umlaufzeit einem Kapazitätszuwachs von 5 %. Bei zwei Sekunden Freigabezeitdifferenz verdoppeln sich diese Werte auf 6,7 % bzw. 10 %.

Auch ein weiterer Gedankengang spricht für die Berücksichtigung der effektiven Kapazität. Wenn man sie nicht berücksichtigt, entsprechen im obigen Beispiel die 18 s Zwischenzeitensumme drei Phasenwechseln. Berücksichtigt man die effektive Freigabezeit, könnte rechnerisch in derselben Verlustzeitensumme ein vierter Phasenwechsel untergebracht werden, beispielsweise eine zusätzliche separate Signalisierung von Linksabbiegern. Damit sind diese Überlegungen - ohne in die Sicherheit der einzelnen Zwischenzeiten einzugreifen - auch sehr relevant für die Verbesserung der Verkehrssicherheit an Knotenpunkten mit Lichtsignalanlage.

4.3 Maximale Kapazität

Um wichtige Ansatzpunkte für die zukünftige Optimierung von Zwischenzeiten aufzuzeigen, wird im folgenden die maximale Kapazität unter der fiktiven Annahme abgeschätzt, dass alle Verkehrsvorgänge (Fahrzeugpositionen, Geschwindigkeiten etc.) jederzeit bekannt sind. Es soll hier besonders deutlich gemacht werden, dass die folgenden Befunde wegen der hohen Relevanz für die Verkehrssicherheit keinesfalls bereits einen Änderungsvorschlag beinhalten. Die Zusammenhänge mit dem Sicherheitsniveau sowie das wünschenswerte Sicherheitsniveau und das Maß der gegebenenfalls in Kauf zu nehmenden Kapazitätseinbußen bleiben weiter zu erforschen und zu diskutieren.

Für die maximale Kapazität sind - wie in Abschnitt 3.2 dargestellt - zunächst Abweichungen der in der Realität auftretenden Parameterausprägungen von den nach den Richtlinien zu verwendenden Werten von Bedeutung.

Einfahrwege und Räumwege werden in Deutschland üblicherweise bereits sehr genau ermittelt. Auch Abweichungen von Fahrzeuglängen und den genäherten Konfliktpunkten gegenüber den tatsächlich maßgebenden (Ausdehnung der Konfliktfläche) sind marginal. Auffällig sind hingegen Abweichungen von Einfahr- und Räumgeschwindigkeiten.

Einfahrzeiten weichen immer dann sehr deutlich von den Werten nach RiLSA ab, wenn kein fliegender Start auftritt. Besonders an gesättigten und nicht koordinierten Zufahrten ist das nahezu ausnahmslos der Fall. Für die vorliegenden Untersuchungen wurden Einfahrprofile aus Entfernungs- und Geschwindigkeitsmessungen einfahrender Fahrzeuge abgeleitet. Auf dieser Basis wurde in Abhängigkeit vom Einfahrweg die Differenz zwischen den Einfahrzeiten nach RiLSA und den tatsächlichen Einfahrzeiten ermittelt. Es wurde deutlich, dass die mittleren Einfahrzeitdifferenzen in vielen Fällen eine erhebliche Größenordnung von mehr als 3 Sekunden erreichen.

Die Räumgeschwindigkeiten an nicht koordinierten Zufahrten entsprechen sehr gut der Vorgabe aus den RiLSA [2]. An gut koordinierten oder nicht gesättigten Zufahrten werden zum Teil aber signifikant höhere Geschwindigkeiten erreicht (Bild 4).

Um für die maximale Kapazität die Größenordnung des Einflusses von Konfliktdifferenzzeiten abzuschätzen, wurden diese im Rahmen der vorliegenden Untersuchung beispielhaft an einem Knotenpunkt ermittelt. Es wurden also die Zwischenzeiten für alle Konflikte aus der Zwischenzeitenmatrix in Bezug gesetzt zur Wahrscheinlichkeit des Auftretens der einzelnen Konflikte (ermittelt aus den tatsächlichen Verkehrsstärken der einzelnen Ströme). Der Betrag hängt natürlich stark von den jeweiligen Phaseneinteilungen und Phasenfolgen ab. Differenzen von über sechs Sekunden sind jedoch nicht ungewöhnlich.

Sicherheitszuschläge durch Aufrundung auf volle Sekundenwerte haben einen vergleichsweise geringen Einfluss.

Bild 3: Beobachtete Räumgeschwindigkeiten

Die konkreten Auswirkungen von verschiedenen Annahmen zur Ermittlung der Kapazität und der Zwischenzeiten hängen selbstverständlich stark von den Gegebenheiten am einzelnen Knotenpunkt ab. Um die Größenordnungen zu veranschaulichen, wurden Beispielrechnungen für einen einfachen vierarmigen Knotenpunkt in Darmstadt durchgeführt. Hierbei ergab sich die maximale Kapazität unter der fiktiven Annahme, dass alle Verkehrsvorgänge jederzeit bekannt sind, als fast 40 % höher als die rechnerische Kapazität nach HBS [8]. Hierbei handelt es sich natürlich um ein Optimierungspotenzial, das real nicht erreicht werden kann. Jedoch unterstreicht dieses Potenzial die hohe Bedeutung, die Zwischenzeiten für die Kapazität signalgeregelter Knotenpunkte haben.

4.4 Maßgebende Parameter

Bild 4 zeigt die quantitative Abschätzung des Einflusses von Parametern auf die Zwischenzeitdifferenz im oben genannten Fallbeispiel. Es wird deutlich, dass Konfliktdifferenzzeiten den größten Einfluss haben, gefolgt von den Einfahrzeitdifferenzen. Von geringerer Größenordnung sind Überfahrzeiten (sofern der oben erwähnte Verkehrsdruck nicht zu groß ist) und die im Rahmen der Zwischenzeitberechnung nach RiLSA [2] erforderlichen Aufrundungen („Sicherheitszuschlag“).

Bild 4: Einflüsse auf die Zwischenzeitdifferenz (Fallbeispiel)

4.5 Ansatzpunkte für Verbesserungen

Es sind grundsätzlich drei Möglichkeiten erkennbar, um den Einfluss von Zwischenzeiten auf die Kapazität zu reduzieren, ohne die Sicherheit zu kompromittieren:

- Vermeiden unnötig langer Zwischenzeiten

- Vermeiden von Konflikten, die eine geringe Bedeutung für den Verkehrsablauf am Knotenpunkt haben, jedoch deutliche Auswirkungen auf die Kapazität.

- Bessere Anpassung der Zwischenzeiten bzw. der für die Zwischenzeitenberechnung erforderlichen Parameter an die jeweilige Situation (statisch und ggfs. auch dynamisch).

Zwischenzeiten sind unnötig lang, wenn sie kürzer sein könnten, ohne dadurch die Sicherheit nachweisbar auf ein unerwünschtes Niveau zu verringern. Beispielsweise steht das Aufrunden der nach RiLSA berechneten Werte in keinem Zusammenhang zur Schwankungsbreite der zu Grunde liegenden Parameter oder zu dem zu erwartenden Risiko. Eine hundertprozentige Sicherheit kann niemals erreicht werden, da sowohl zu kurze als auch zu lange Zwischenzeiten das Risiko vergrößern können. Ein bestimmtes „Versagensrisiko“ der Zwischenzeiten wird jedoch bisher nicht definiert. Dieses Risiko sollte sinnvollerweise – und wie in anderen sicherheitsrelevanten Bereichen auch – von der Unsicherheit der Einflussgrößen und dem zu erwartenden Schaden im Falle des Versagens (Konfliktschwere) abhängig gemacht werden.

Konfliktfälle mit hohem Einfluss auf die Kapazität sind beispielsweise Konflikte mit Rechtsabbiegern. Auch wenn nur wenige Fahrzeuge abbiegen möchten und im Idealfall sogar Alternativrouten zur Auswahl haben, führt ihr potentielles Vorhandensein u. U. zu sehr langen Zwischenzeiten. Gleichermaßen lohnt es sich, die Führung und Signalisierung von Radfahrern an großen Knotenpunkten auch vom Standpunkt der Zwischenzeiten her näher zu analysieren. Diese Aspekte sind bereits bei Knotenpunktgestaltung und Signalprogrammentwicklung zu berücksichtigen.

Wenn Zwischenzeiten situationsabhängig festgelegt werden, können Kapazitätsgewinne ohne Einbußen in der Verkehrssicherheit realisiert werden. Die durchgeführten Messungen weisen deutlich darauf hin, dass die meisten Parameter an einer Zufahrt wenig schwanken, während zwischen verschiedenen Knotenpunkten und deren unterschiedlichen Zufahrten durchaus merkliche Unterschiede auftreten können. Einen nähere Untersuchung und Berücksichtigung dieser Situationsabhängigkeit der Parameter erscheint deshalb lohnenswert.

Unter besonderer Beachtung von Sicherheitsaspekten erscheinen auch dynamische Anpassungen an die jeweilige Situation untersuchenswert. Wenn z.B. das Auftreten von fliegenden Starts mit der gewünschten Sicherheit ausgeschlossen werden kann (z.B. durch Detektion wartender Fahrzeuge oder hoher Auslastungsgrade), könnte die Einfahrzeit größer angesetzt werden. Wenn die Anwesenheit bestimmter Verkehrsströme ausgeschlossen werden kann, könnten günstigere Konfliktfälle zugrundegelegt werden. Auch besondere Witterungsbedingungen wie Schneeglätte könnten in die Auswahl der Zwischenzeit eingehen.

5 Schlussfolgerungen und Ausblick

Aus der hier durchgeführten detaillierten Analyse des Verkehrsflusses während des Phasenübergangs ist abzuleiten, dass die effektive Freigabezeit für einen einzelnen Fahrstreifen einer Knotenpunktzufahrt allgemein im Mittel als etwa 1,5 s länger als die signalisierte Freigabezeit angenommen werden kann. Die effektive Kapazität von Knotenpunkten mit Lichtsignalanlage liegt nach Musterrechungen bei üblichen Knotenpunkten etwa 7 % über der nach dem „Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS 2001, [8])“ berechneten Kapazität. Diese Sachverhalte wurden bereits in den zuständigen Gremien der deutschen Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen vorgestellt (FGSV-K3 „Neufassung HBS“ und FGSV-AA 3.3 „Verkehrsbeeinflussung innerorts“). In der Folge wurde in den aktuellen Entwurf des Kapitels „Knotenpunkte mit Lichtsignalanlagen“ der Neufassung des „Handbuch für die Bemessung von Straßen- und Verkehrsanlagen (HBS)“, Stand Oktober 2010, erstmals ein Ansatz für die effektive Freigabezeit aufgenommen.

Die vorliegende Untersuchung hat einerseits das hohe Niveau der Zwischenzeitberechnung in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern unterstrichen. Sie diente aber auch dem Aufzeigen von Mängeln in der Methode der Zwischenzeitberechnung, die nach den deutschen Richtlinien für Lichtsignalanlagen (RiLSA, [2]) angewendet wird. Besonders zu nennen ist das Fehlen eines substantiellen Sicherheitsmodells, das Parameterschwankungen und Risiken einbezieht. Zu überdenken ist z.B. auch die Festsetzung eines fliegenden Starts als maßgebendem Fall, der in der beschriebenen Form in der Realität nahezu nicht auftritt, insbesondere nicht an gesättigten und nicht koordinierten Knotenpunktzufahrten.

Es wurde ein detailliertes Modell zur Beurteilung der Zwischenzeiten im Hinblick auf die Kapazität entwickelt. Dieses bildet nicht nur Verkehrsbedingungen in Deutschland ab, sondern ist als allgemein gültiges Modell international anwendbar.

Durch die gründliche Literaturrecherche, theoretische Überlegungen und die empirischen Untersuchungen gelang das Aufzeigen des Verbesserungspotenzials der Kapazität signalgeregelter Knotenpunkte. Hierzu wurden die wesentlichen Möglichkeiten festgestellt, um den Kapazitätseinfluss von Zwischenzeiten auch ohne Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit zu reduzieren.

Das Aufzeigen des fiktiven Verbesserungspotenzials der Kapazität mit sicherheitsrelevanten Eingriffen diente der Überprüfung, ob weitere Forschung in diesem Bereich zweckmäßig ist.

Es wurde festgestellt, dass Kapazitätsgewinne durch die Optimierung von Zwischenzeiten bereits mit der heute verfügbaren Technik und unter Beachtung der Verkehrssicherheitsaspekte durchaus über den einstelligen Prozentbereich hinausgehen können. Es erscheint sehr lohnenswert, dieses Potenzial auszuschöpfen, zumal der Aufwand hierfür in der Regel deutlich geringer sein wird, als eine Reihe anderer Maßnahmen, die bisher zur Effizienzsteigerung der Lichtsignalsteuerung eingesetzt werden. Für die Zukunft, wenn sich bereits heute andeutende Möglichkeiten zur Erfassung der aktuellen Verkehrslage im Knotenpunkt (auch durch C2C- und C2I-Kommunikation, d.h. zwischen Fahrzeugen und Infrastruktursystemen) in der Praxis zuverlässig anwenden lassen, ergeben sich noch deutliche größere Potenziale aus einer dann dynamischen Optimierung der Zwischenzeiten.

Bei allen anstehenden Untersuchungen und Maßnahmen wird zu beachten sein, dass das in Deutschland durch die Zwischenzeitberechnung bisher gewährleistete hohe Sicherheitsniveau nicht eingeschränkt wird. Andererseits unterstreichen die Forschungsergebnisse, dass ein stochastisches und situationsabhängiges Modell für die Zwischenzeitenberechnung große Vorteile sowohl für die Kapazität als auch für die Sicherheit bringen wird. Ein solches Modell könnte für verschiedene Situationen einen Zusammenhang zwischen der Länge der Zwischenzeiten und der Wahrscheinlichkeit für Konflikte und Unfälle herstellen und damit ein angestrebtes Sicherheitsniveau berücksichtigen, wie es derzeit nicht definiert ist.

6 Literatur

[1]    FORSCHUNGSGESELLSCHAFT FÜR DAS STRAßENWESEN (1966). Richtlinien für Entwurf, Bau und Betrieb von Lichtsignalanlagen im Straßenverkehr. Köln.

[2]    FORSCHUNGSGESELLSCHAFT FÜR STRAßEN- UND VERKEHRSWESEN (2010). Richtlinien für Lichtsignalanlagen (RiLSA), Ausgabe 2010. FGSV-Verlag, Köln.

[3]    GLEUE, A. W. (1974). Untersuchungen zur Berechnung von Zwischenzeiten in Lichtsignalprogrammen. Straßenbau und Straßenverkehrstechnik 166. Bundesminister für Verkehr.

[4]    TANG, K.; NAKAMURA, H. (2007). Signalized intersection design and operations: experiences in Germany and Japan. ASCE proceedings on the 7th International Conference of Chinese Transportation Professionals, Shanghai.

[5]    WOLFERMANN, A. (2009). Influence of Intergreen Times on the Capacity of Signalised Intersections. Dissertation, Technische Universität Darmstadt.

[6]    BOLTZE, M.; WOLFERMANN, A. (2010). Abschlussbericht zum Forschungsprojekt "Influence of Intergreen Times on the Capacity of Signalised Intersections". Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrstechnik, Technische Universität Darmstadt.

[7]    TRANSPORTATION RESEARCH BOARD (2000). Highway Capacity Manual. National Research Council, Washington D.C.

[8]    FORSCHUNGSGESELLSCHAFT FÜR STRAßEN- UND VERKEHRSWESEN (2001). Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen (HBS), Ausgabe 2001. FGSV-Verlag, Köln.